Die Eltern

[9] Mein Vater Laurenz Fischer wurde am 4. November 1807 in Flamersheim geboren, war also fast 45 Jahre älter wie ich. Seine Geburtsurkunde ist in französischer Sprache ausgefertigt; denn damals stand das linke Rheinufer unter französischem Regiment und die Funktionen der heutigen Standesämter waren schon damals dem »Maire« übertragen.

Flamersheim ist ein kleiner Ort am Fuße der Eifelberge, aber noch in der fruchtbaren Ebene gelegen, etwa 7 km von Euskirchen entfernt.

Es besaß eine alte protestantische Gemeinde mit dem Sitz des Pastors, der zu meiner Zeit auch die kleine Gemeinde in Euskirchen mitbesorgte. Die Protestanten waren wie überhaupt in dem katholischen Rheinlande durchgehend gebildeter und betriebsamer als die katholische Volksmasse und erfreuten sich deshalb auch eines verhältnismäßig großen Wohlstandes. Ihre geschäftlichen Unternehmungen hatten auch dem Ort Flamersheim eine über seine Einwohnerzahl weit hinausgehende Bedeutung verschafft. Dazu kam, daß der größte Grundbesitz des Ortes, die sogen. Burg mit dem stattlichen schloßähnlichen Wohnhause, hübschen Park und reichen Ländereien dauernd im Besitz eines protestantischen Herrn blieb.

Der Überlieferung nach war diese Burg aus einer Meierei Karls des Großen hervorgegangen. Sie soll zahlreiche Vorwerke gehabt haben, von deren speziellen Aufgaben Sachverständige die Namen der umliegenden Dörfer, wie Schweinheim (Schweine), Stotzenheim (Stuten), Roitzheim (Rosse), Buellesheim (Bullen), Kuchenheim (Kühe) ableiteten. Ob diese Interpretation historisch berechtigt oder ob sie ein Erzeugnis der lebhaften rheinischen Phantasie ist, vermag ich nicht zu sagen.

Genug, dieses Flamersheim war mehrere Jahrhunderte der Sitz meiner Vorfahren; der älteste in den Kirchenbüchern genannte ist Johann Fischer, der im Jahre 1695 fast gleichzeitig mit seiner Ehefrau geb. Hermany zu Flamersheim starb.

Mit meinem Großvater wäre beinahe der männliche Stamm erloschen. Denn er hat erst mit 49 Jahren geheiratet, und die Familiensage berichtet, daß diese Ehe ein zufälliges Ereignis gewesen sei. Er[10] lebte nämlich mit einer unverheirateten Schwester zusammen, die ihn offenbar tyrannisierte und ihm eines Tages den Schlüssel zum Weinkeller versagte, als er unerwartet einen Gast mitgebracht hatte. Darauf soll er den Entschluß gefaßt haben, sich durch Heirat selbständig zu machen. Seine Wahl fiel auf Fräulein Helene Conrads aus Mülheim am Rhein, ebenfalls einer Kaufmannsfamilie entsprossen. Die Ehe war mit vier Söhnen und einer Tochter gesegnet.

Mein Vater war das zweite Kind. Die beiden letzten, mein Onkel August und Tante Elisabeth kamen 1812 als Zwillinge zur Welt. Ihre Geburt hat der Mutter das Leben gekostet. Auch der Vater ist verhältnismäßig früh mit 61 Jahren an einer Lungenentzündung gestorben.

Die fünf verwaisten Kinder würden wahrscheinlich ein trauriges Lebenslos gehabt haben, wenn sich nicht die unverheirateten Geschwister der Mutter, zwei Brüder und eine Schwester, ihrer in rührender Weise angenommen hätten.

Der älteste, Onkel Hermann Conrads, gab seine behagliche Tätigkeit in Mülheim auf und zog nach Flamersheim, um den Kindern das väterliche Geschäft zu erhalten. Er behielt die beiden jüngsten Kinder (Zwillinge) bei sich. Die drei anderen Brüder Friedrich Arnold, mein Vater und Otto Fischer kamen nach Mülheim am Rhein und wurden hier vorzugsweise von der Tante erzogen. Diese Frau spielte in den Jugenderinnerungen meines Vaters eine große Rolle. Sie war ungewöhnlich begabt, verkehrte nur mit Männern, am liebsten im Disput mit Studierten, besonders Theologen. Sie hatte sich mit der lateinischen Sprache vertraut gemacht und wollte im Alter sogar noch Hebräisch lernen, um die Bibel im Urtext zu lesen, ob schon sie als geistiges Kind der französischen Revolution ganz atheistisch dachte.

Sie führte hauptsächlich das Geschäft in Mülheim und nicht minder das Regiment im Hause, wo der gute Onkel Heinrich, ein ungewöhnlich starker Mann, nichts zu sagen hatte.

Die drei Knaben, die ihrer Obhut anvertraut waren, wurden in keiner Beziehung verwöhnt, sondern frühzeitig abgehärtet und zur Selbständigkeit angehalten.

Als sie bereits erwachsen und verheiratet waren, pflegte die Tante sie noch immer mit »Burschen« anzureden und jeden Widerspruch gegen solche Titulatur oder ihre scharf ausgeprägten Ansichten auf das lebhafteste zu bekämpfen.

Trotzdem waren die Knaben ihr in Dankbarkeit zugetan, genau so, wie sie die beiden Oheims als ihre Beschützer verehrten. Mein Vater und sein älterer Bruder Friedrich Arnold waren von vornherein zum Kaufmann bestimmt, und das entsprach, besonders bei[11] meinem Vater, durchaus der Veranlagung. In der Schule hatte er keinen großen Erfolg, verließ sie deshalb schon mit 14 Jahren und wurde als Lehrling in einem kaufmännischen Geschäft in Luettringhausen bei einem Herrn Moll untergebracht.

Hier erhielt er frühzeitig Gelegenheit, sich als Verkäufer auf Reisen zu betätigen, was ganz seinen Neigungen und auch der folgenden mehr als 70-jährigen Geschäftstätigkeit entsprach.

In späteren Jahren pflegte er oft scherzhaft zu sagen, er habe mehr im Wirtshaus als in der Schule gelernt. Aber er war doch klug genug, die Lücken der Schulbildung zu empfinden und hat sich deshalb später durch Privatunterricht im Französischen und in der Beherrschung der deutschen Sprache, sowie in rechtlichen und gewerblichen Dingen ansehnliche Kenntnisse erworben.

Im Alter machte er noch den Versuch, Englisch zu lernen, da er öfter zum Ankauf von Wolle nach London fahren mußte. Aber dazu war es doch zu spät; sein Englisch hat niemand verstanden.

Bei der Prüfung für den einjährig-freiwilligen Militärdienst, der damals schon in Preußen eingerichtet war, fiel er durch, aber ein vermeintlicher körperlicher Schaden, der sicherlich nichts weiter als eine falsche ärztliche Diagnose war, bewahrte ihn vor der Notwendigkeit, drei Jahre Soldat zu sein. In Wirklichkeit war er ein Mann von ungewöhnlich kräftiger Konstitution und Gesundheit. Es wird davon später noch die Rede sein.

Als er 18 Jahre alt geworden war, übergab der Onkel Conrads ihm und dem Bruder Friedrich Arnold das väterliche Geschäft zu Flamersheim und zog sich nach Mülheim a. Rh. zurück.

Die beiden jungen Leute waren sich ihrer Verantwortung wohl bewußt und haben mit großem Fleiß und kaufmännischem Geschick die für ihre Jahre doch ziemlich schwierige Aufgabe in Angriff genommen. Es ist ein schönes Zeichen geschwisterlicher Eintracht, daß der Geschäftsgewinn nicht den beiden Brüdern allein, sondern allen fünf Geschwistern gleichmäßig zufiel.

Der dritte Bruder Otto war ein ausgezeichneter Schüler, bekundete frühzeitig die Neigung zum Studieren und wurde nach Absolvierung des Gymnasiums zu Duisburg Mediziner. Nach Erledigung des medizinischen Staatsexamens, das damals in Berlin abgelegt werden mußte, ging er auf 1 Jahr nach Paris und entschloß sich dazu, Chirurge zu werden. Nicht lange nachher wurde er der leitende Arzt in der chirurgischen Abteilung des städtischen Hospitals zu Cöln.

Einen später an ihn ergangenen Ruf als Professor der Chirurgie nach Bonn lehnte er ab, weil ihm die dortigen Hilfsmittel und das Krankenmaterial zu dürftig erschienen.[12]

In seiner Stellung zu Cöln hat er sich während einer mehr als 40 jährigen Tätigkeit durch glänzende Operationen und überaus sorgfältige Nachbehandlung der Kranken großen Ruf erworben und war ein paar Jahrzehnte hindurch wohl der gesuchteste Arzt am Niederrhein. Selbst aus Holland, Belgien und Frankreich wurde seine Hilfe in Anspruch genommen.

Als Persönlichkeit war er ein Original, ein Volksmann im besten Sinne des Wortes, um den die geschäftige Phantasie der cölnischen armen Leute eine Reihe von Legenden geflochten hat.

Der vierte Bruder August erhielt auch eine gute Schulbildung. Nachdem er die kaufmännische Lehre durchgemacht und bei dem Pionierbataillon zu Cöln als Einjähriger seiner Dienstpflicht genügt hatte, trat er ebenfalls in das Geschäft zu Flamersheim ein.

Ungefähr um dieselbe Zeit heiratete die Zwillingsschwester Elisabeth einen Herrn Dilthey aus Rheydt. Ursprünglich gewillt, Theologe zu werden, war dieser durch den frühzeitigen Tod seines Vaters genötigt worden, mit seinem Bruder Wilhelm das väterliche Geschäft, Seiden- und Sammet-Fabrikation, zu übernehmen, und aus dieser Ehe stammt die zahlreiche Familie Dilthey in Rheydt und Umgegend. Von seinen sechs Söhnen und drei Töchtern sind nur der Jurist Richard Dilthey und eine Schwester unverheiratet geblieben. Alle übrigen erfreuten sich einer zahlreichen Nachkommenschaft, und als meine Tante im hohen Alter von 87 Jahren starb, waren etwa 40 Enkel vorhanden. Die alte Frau bildete bis zum Ende den Mittelpunkt der Familie und erfreute sich infolge ihrer Klugheit, Tatkraft und Güte allgemeiner Verehrung.

Das Geschäft in Flamersheim war durch die gemeinsame Arbeit der Brüder in Blüte gekommen. Mein Vater sorgte durch vielfache Reisen für Vergrößerung des Absatzes und durch die Aufnahme neuer Artikel für Erweiterung des Betriebes. So erzählte er öfters mit Befriedigung, daß er nur wenige Jahre nach Erfindung der Schnellessigfabrikation einen Betrieb dieser Art in Flamersheim angelegt und damit viel Geld verdient habe. Auch eine kleine Mälzerei wußte er schon damals dem Geschäft anzugliedern. Aber gerade durch diese Erweiterungen und durch die Erfahrungen auf seinen Reisen kam er auch zu der Überzeugung, daß Flamersheim nicht der richtige Ort für ein Großgeschäft sei, und er hat wiederholt den Plan erwogen, dieses nach Cöln zu verlegen. Seine Brüder waren aber durchaus dagegen, aus Abneigung gegen die Großstadt und das vergrößerte Risiko. Dagegen setzte er durch, daß das Hauptgeschäft nach Euskirchen, welches gerade zu der Zeit schon gute Landstraßen nach Cöln, Bonn und der Eifel erhalten hatte, verlegt wurde. So entstand,[13] allerdings erst allmählich, der Gebäudekomplex, den ich früher geschildert habe.

Die beiden Haupthäuser wurden, wenn ich nicht irre, im Jahre 1835/36 errichtet. Von der Zeit an ist Euskirchen der Hauptsitz der Firma »Gebrüder Fischer« gewesen. Nur der Onkel Friedrich Arnold blieb in Flamersheim, aber die alte Kompagnie hat noch etwa 30 Jahre fortgedauert und sich auch auf andere Geschäfte, z.B. den Ankauf eines schönen Waldes bei Flamersheim, erstreckt.

Mein Vater und seine Brüder ergänzten sich auf das glücklichste. Er liebte nicht die Kleinarbeit im Kontor und den Lagerräumen, die aber von den beiden anderen Geschäftsinhabern mit allergrößter Sorgfalt und Sachkenntnis besorgt wurde.

Andererseits ging er gerne auf Reisen, wobei er nicht allein verkaufte, sondern auch in früheren Jahren Geld einkassierte und Gelegenheiten nach neuen Geschäften aufspürte. Er nannte sich deshalb scherzhaft den Minister des Äußern.

Zu seinen Aufgaben gehörte natürlich die Vertretung der Firma bei Gerichten, Verwaltungsbehörden, bei öffentlichen Verkäufen usw.

Seiner Initiative war es auch in der Regel zuzuschreiben, wenn neue Unternehmungen begonnen wurden, unter denen an Bedeutung der schon erwähnte Waldankauf hervorragte.

Die Gemeinde Flamersheim besaß in dem benachbarten Vorgebirge der Eifel einen schönen, meist aus Eichen und Buchen bestehenden Hochwald, aus dem sie bei dem damaligen Betriebe nur geringe Einkünfte bezog. Die Mitglieder der Gemeinde hatten sogen. Gerechtsame, die ihnen Anrecht auf den Bezug von Bau- und Brennholz gaben, das damals nur wenig Wert hatte. Infolgedessen ging der allgemeine Wunsch auf eine Teilung des Gemeindewaldes hin aus, konnte aber erst wegen des Widerstandes der königl. Regierung im Jahre 1848/49 durchgesetzt werden. Der Wald wurde dann öffentlich versteigert und der Erlös in bar an die einzelnen Gerechtsamen verteilt.

Von diesem Walde kaufte mein Vater für die Firma ein ansehnliches Stück, etwa 750 Hektar.

Da einige Jahre später infolge des Baues von Eisenbahnen der Preis des Eichenholzes außerordentlich stieg, so wurde der Wald bald abgeholzt, die schönen Eichenstämme meist zu Eisenbahnschwellen verarbeitet und auf dem Boden Eichenschälwald zur Gewinnung von Lohe gezogen. Durch die Anstellung eines Försters sorgte mein Vater rechtzeitig für forstmäßigen Betrieb des schönen Besitzes.

An diesem Walde haben auch wir jüngeren Mitglieder der Familie viel Freude gehabt. Er war reich an Wild, namentlich an Rehen, Sauen und Waldschnepfen. Zur Bequemlichkeit wurde darin ein kleines[14] Jägerhaus auf dem schön gelegenen Heidberg mit prächtigem Blick in die Eifelberge errichtet. Wir haben dorthin manchen Ausflug, meist zu Jagdzwecken, unternommen, konnten auch über Nacht bleiben. Ein gut ausgestatteter Weinkeller sorgte für fröhlichen Trunk, und unser Förster war ein vortrefflicher Koch, der die meist von Euskirchen mitgebrachten Fleischspeisen zusammen mit Bratkartoffeln, Butterbrot und Kaffee zu einem köstlichen Mahle zu vereinigen wußte. Den Höhepunkt des Jagdbetriebes bildeten die Treibjagden, die im November und Dezember stattfanden, zu denen mein Vater zahlreiche Einladungen ergehen ließ, und die mit einem höchst lustigen Mahl in einem Gasthause zu Flamersheim zu schließen pflegten.

Nach mehr als 50 jährigem Besitz hat mein Vater den Wald mit gutem Nutzen wieder verkauft, und zwar an die Familie Haniel, weil niemand von unserer Familie sich um den Besitz mehr kümmern konnte.

Ein anderes Unternehmen, das für die Wahl meines Berufes mitbestimmend geworden ist, war der Erwerb einer kleinen Wollspinnerei, die in Wisskirchen, einem etwa 4 km von Euskirchen entfernten Dorfe, lag. Meinem Vater, der von dieser Industrie nichts verstand, gelang es, in Aachen einen ausgezeichneten Spinnmeister, Herrn Allmacher, zu gewinnen, und da die Firma auch keine Mittel scheute, um die Fabrik mit den besten Maschinen auszustatten, und anstelle der Wasserkraft Dampfbetrieb einzuführen, so gehörten die Erzeugnisse der Firma an Garn bald zu den besten des Bezirks. Ihr Verbrauch blieb nicht auf die Tuchindustrie in Euskirchen beschränkt, sondern die Garne gingen auch nach dem Bezirk München-Gladbach-Rheydt, wo sie zu halbwollenen Waren verarbeitet wurden.

Den Einkauf der Rohmaterialien, vor allen Dingen der Wolle besorgte natürlich mein Vater, ursprünglich bei den Schafzüchtern der Umgegend und besonders der Eifel. Ich habe in jungen Jahren solche Wollfahrten hier und da mitgemacht. In den armen Dörfern der Eifel wurde das Geschäft zuerst mit dem Pastor abgeschlossen. Sobald das geschehen war, kamen die Bauern von selbst mit ihrer Ware. Diese wurde sofort taxiert, abgewogen, in bar bezahlt und auf den mitgenommenen Wagen geladen. Aber bald reichten die heimischen Quellen für die vergrößerte Fabrik nicht mehr aus, auch waren sie für feinere Tuche zu grob. Damals begann der Import der überseeischen Wolle, besonders aus der Kapkolonie und aus Brasilien. Deutsche Händler besorgten dieses Geschäft, natürlich mit einem entsprechenden Preisaufschlag. Der Markt für diese Wolle war London, wo sie auf grossen Auktionen verkauft wurde.

Sobald dies meinem Vater bekannt geworden war, reiste er nach London, wo er mit Hilfe eines Agenten seinen Wollbedarf deckte. Er gehörte[15] mit zu den ersten Fabrikanten in Euskirchen, die den direkten Bezug des Rohmaterials ausnutzten. Für eine weitere Verbilligung der Garne war die Anlage einer Färberei erforderlich. Auch das hat mein Vater in die Hand genommen, ist dabei aber auf recht erhebliche Schwierigkeiten gestoßen.

Die Teerfarben kannte man damals noch wenig und das Färben mit den natürlichen Farbstoffen wie Indigo, Krapp, Gelbholz, Blauholz war rein empirisch. Es gab zwar einige recht dürftige Bücher der praktischen Färberei und man konnte auch Rezepte von den Färbern kaufen, aber in der Praxis pflegte das alles zu versagen, und die Leitung einer Indigoküpe galt geradezu als eine schwierige Kunst, die nur durch langjährige Übung erworben werden konnte.

Es war darum begreiflich, daß in der neu angelegten Färberei zu Wisskirchen, von der unser sonst so trefflicher Spinnmeister nichts verstand, viele Mißerfolge eintraten und nicht allein zu Verlusten, sondern auch zu ärgerlichen Verhandlungen mit den Kunden führten.

Mein Vater, der von jeher die Selbsthilfe hoch eingeschätzt hatte, fing deshalb eine kleine Versuchsfärberei in Euskirchen an, wo er die von verschiedenen Färbern gekauften Rezepte eigenhändig prüfte und es dabei an Variationen besonders im Beizen nicht fehlen ließ. Aber er spürte doch bei diesen Versuchen bald, wie hinderlich ihm der Mangel an chemischen Kenntnissen war, und er pflegte öfters zu sagen, wenn einer von uns Jungen Chemie studierte, so würden alle Schwierigkeiten spielend überwunden werden. Seine Achtung vor der Chemie steigerte sich noch, je mehr er mit der aufblühenden rheinischen Industrie, besonders der Fabrikation von Eisen und Zement in Berührung kam. Ich erwähne das ausdrücklich, da es die Wahl des Berufes sowohl bei mir, wie bei meinem Vetter Otto beeinflußt hat.

Die bisher besprochenen Geschäfte wurden alle mit den Mitteln und zugunsten der Firma »Gebrüder Fischer« geführt. Als aber die Unternehmungslust meines Vaters mit dem wachsenden Wohlstande sich steigerte, während die konservativer gestimmten beiden Onkel mit zunehmendem Alter jedes größere Risiko vermeiden wollten, blieb er zwar Mitglied der Firma, beteiligte sich aber an anderen Geschäften auf eigene Rechnung. So hat er zusammen mit Cölner Kaufleuten größere Landgüter, die wegen nachlässiger Wirtschaft der in Konkurs geratenen Besitzer öffentlich versteigert wurden, angekauft und in kleinen Teilen an die umliegenden Bauern wieder verkauft.

Die Zeit war damals für die Landwirtschaft am Rhein recht günstig, und die meisten Ankäufer konnten aus dem Verdienst in 9 jährigen Terminen die Ankaufsumme für den neuerworbenen Acker bezahlen.[16] Das geschah fast durchweg in barem Silbergeld, welches die Bauern persönlich brachten und das ganze Geschäft vollzog sich nicht in dem Kontor der Firma, sondern in unserm Wohnhause. Da mein Vater vielfach verreist war, so wurde es von meiner Mutter besorgt mit einer Pünktlichkeit in der Buchführung, die jedem Kontoristen Ehre gemacht haben würde.

In der Abschätzung von Grundstücken sowie im An- und Verkauf hatte mein Vater solche Übung erlangt, daß man mit vollem Vertrauen seinem Urteil glauben konnte. Er erkannte auch rechtzeitig die allgemeine wirtschaftliche Gefahr, die im Rheinland in den 70er Jahren der Landwirtschaft durch den Wettbewerb des überseeischen Getreides erwuchs. Er pflegte mit aufrichtigem Bedauern für die Bauern häufig zu sagen: »Mit der Landwirtschaft ist nichts mehr zu verdienen«, und er hielt schon damals einen staatlichen Schutz in Form von Getreidezöllen für nötig.

Seine Geschäftsinteressen wandten sich deshalb immer mehr der Industrie zu. An kleinen Unternehmungen in der Eifel, die auf die Gewinnung von Eisenerzen gerichtet waren, erlebte er wenig Freude. Dasselbe galt bezüglich des finanziellen Ergebnisses für eine Beteiligung an einer Zementfabrik in Obercassel bei Bonn. Sie war gegründet von Dr. Bleibtreu, einem ehemaligen Schüler von A. W, Hofmann in London. Er hatte in England die Herstellung von Portlandzement kennen gelernt und die erste derartige Fabrik in Deutschland bei Stettin ins Leben gerufen. Eine zweite Gründung war das Werk in Obercassel. Es würde wahrscheinlich ebenso wie die Stettiner Anlage guten Gewinn gebracht haben, wenn es nicht mit anderen unrentablen Unternehmungen verknüpft worden wäre. Damals war die Rente der Aktiengesellschaft »Bonner Bergwerks- und Hüttenverein« recht bescheiden, aber mein Vater hat selten eine Aufsichtsratssitzung in Bonn versäumt, da er dort immer mit einer Reihe guter Freunde aus Köln und Düsseldorf zusammentraf und man den oft ärgerlichen Geschäftssitzungen ein fröhliches Mahl im Gasthof Stern folgen ließ. Ich durfte daran zu meiner großen Freude öfters teilnehmen, als ich das Gymnasium in Bonn besuchte, und der Chemiker Dr. Bleibtreu, der nicht allein Zement machen konnte, sondern auch ein Meister im Ansetzen von Pfirsichbowlen war, hat mir bei solchen Gelegenheiten immer zugeredet, Chemiker zu werden.

Die markantesten Persönlichkeiten in diesem Aufsichtsrat waren der Freund meines Vaters, Albert Poensgen, Großindustrieller in Düsseldorf, und ein Herr Muehlens aus Cöln, Fabrikant von Eau de Cologne, ein hervorragender Spaßmacher.

An der Tafel, wo der Aufsichtsrat in Gesellschaft von zwei meiner Schwestern eines Tages Platz genommen hatte, speiste auch das studentische[17] Corps Borussia, dem damals die beiden Söhne Bismarcks angehörten. Die Herren schienen keinen großen Hunger zu haben; denn sie begannen das Mahl mit Sekttrinken und zündeten dazu Zigarren an. Das war den alten rheinischen Herren denn doch zu burschikos, und mit weitschallender Stimme gab Herr Muehlens dem Oberkellner den Auftrag, er sollte den jungen Herren sagen, es sei hierzulande nicht Sitte, in Gesellschaft von Damen das Mahl mit Tabakrauchen zu beginnen. Der Kellner entledigte sich seines Auftrages. Das ganze Corps erhob sich sofort und schritt, dicke Tabakwolken verbreitend, aus dem Saal heraus. Herr Muehlens sah ihnen belustigt zu und begleitete den Durchzug mit den Worten »Sehr gut gemacht«. Auch mein Vater war geneigt, solche Verstöße gegen gute Sitten vor aller Öffentlichkeit zu rügen.

Ende der 60er Jahre hatte sich mein Vater mit einer erheblichen Summe an einem Geschäft beteiligt, das ihm zwar viel Sorge und Ärger, aber auch später sehr viel Freude bereitet hat. Es war die Gründung einer Brauerei in Dortmund. Die Anregung dazu ging aus von einem Ingenieur Heinrich Herbertz, der in Dortmund eine große Kokerei besaß und aus dem Aufblühen der anderen dortigen Brauereien den Schluß zog, daß hier noch ein gutes Geschäft zu machen sei. Er war verwandt und befreundet mit meinem Schwager Mauritz und dessen Bruder Heinrich.

Nachdem mein Vater die nötigen Erkundigungen eingezogen hatte, ging er auf den Vorschlag ein, und so entstand die Brauerei Herbertz & Co., an der mein Vater ursprünglich der meist beteiligte war. Sie war von Anfang an ein gutes Geschäft, denn das dort erzeugte Bier erfreute sich bald des besten Rufes und der Absatz stieg mit dem steigenden Wohlstand, besonders nach dem deutsch-französischen Krieg.

Leider wurde das Unternehmen in eine Aktiengesellschaft verwandelt und hat dann infolge schlechter Leitung böse Zeiten durchgemacht. Seine Sanierung wurde nötig und mit dem völligen Wechsel der leitenden Persönlichkeiten trat auch bald wieder ein ordnungsmäßiger Betrieb und allmählich eine Rentabilität ein.

Die Aktien sind noch jetzt zum größeren Teil im Besitz der Familien Fischer und Mauritz, und das Unternehmen hat seit etwa 40 Jahren recht gute geschäftliche Erfolge gehabt.

Mein Vater war mehrere Jahrzehnte Vorsitzender des Aufsichtsrats. Er hat auch lange Zeit den Einkauf von Hopfen für die Brauerei besorgt, und zur Zeit meines Aufenthalts in Erlangen bin ich mehrmals mit ihm auf dem Hopfenmarkt in Nürnberg gewesen. Mit großer Sicherheit wußte er aus rein empirischen Proben, wie Farbe, Geruch,[18] Gefühl die sehr verschiedene Qualität des Hopfens abzuschätzen und jede Übervorteilung von seiten der Händler zu vermeiden.

Auch sonst war er für das Wohl der Brauerei in hohem Maße interessiert und tätig, besonders was den technischen Betrieb anging. Er pflegte immer zu sagen, »Vor allem muß das Erzeugnis gut sein«, und schon bei der Legung des Grundsteins hat er seine Wünsche für die Zukunft in einen hübschen Vers gekleidet, »Brau gutes Bier, das rat ich Dir«. Durch seine Vermittlung habe auch ich einige Gelegenheit gehabt, der Brauerei kleine Dienste zu leisten.

In den ersten Jahren meines Aufenthaltes zu München hatte ich zufällig von neuen Eismaschinen des Professor Linde und ihrer Verwendung in der Brauerei von Sedlmeier gehört. Ich erzählte dies bei einem Ferienbesuch meinem Vater, und er beauftragte mich sofort, genauere Erkundigungen einzuziehen. Diese fielen sehr günstig aus und wurden bestätigt durch die Firma Meister, Lucius & Brüning zu Höchst a. Main, welche die Lindesche Maschine in dem Betrieb für Azofarbstoffe verwendete. Die Folge davon war, daß die Dortmunder Brauerei sofort mit der von Linde gegründeten Gesellschaft in Verbindung trat und meines Wissens als erste norddeutsche Brauerei in den Besitz einer Lindeschen Maschine und später auch einer damit betriebenen, sehr zweckmäßigen Kellerkühlung gelangte.

Wohl nicht minder wichtig war eine Belehrung, die ich dem Braumeister in bezug auf den Gärprozeß geben konnte.

Während des Wintersemesters 1876/77 hielt ich mich wieder in Straßburg auf und lernte dort durch Dr. Albert Fitz das Buch von Pasteur »Études sur la bière« kennen, das kurz vorher erschienen war. Der geniale Forscher hatte darin seine Erfahrungen über die Verunreinigung der Bierhefe durch andere Mikroorganismen und deren schädlichen Einfluß auf die Beschaffenheit des Bieres niedergelegt. Als ich davon meinem Vater berichtete, bat er mich dringend, die Materie gründlich zu studieren, und da diese mich auch wissenschaftlich interessierte, so erklärte ich mich gerne dazu bereit. Ein feines Mikroskop wurde sofort angeschafft und mit Hilfe von Dr. Fitz und dem Botaniker Prof. de Bary habe ich dann in Straßburg Studien über Schimmel-, Sproß- und Spaltpilze angestellt, die mir später bei den Zuckerarbeiten sehr zustatten gekommen sind. Zunächst mußte ich aber die neuen Kenntnisse praktisch verwerten. Darum bin ich mit meinem Mikroskop für einige Wochen nach Dortmund gezogen, um den Beamten der Brauerei die neuen Errungenschaften klar zu machen. Wahrscheinlich war ich der erste Chemiker in Deutschland, der diesen Versuch unternahm, und ich muß gestehen, daß ich bei den Männern der Praxis auf großes Mißtrauen stieß. Man bemühte sich auf alle[19] mögliche Weise, mich irre zu führen, besonders mit falschen Angaben über den Ursprung und die Beschaffenheit der zu prüfenden Hefesorten.

Als ich aber mit Hilfe des Mikroskops ohne Mühe die verdorbenen Hefesorten herausfand, wurde man ernster. Es ist mir zwar nicht gelungen, einen der Männer zum richtigen Gebrauch des Mikroskops heranzubilden und dadurch eine dauernde Kontrolle der Hefe einzurichten. Aber meine Belehrung über die Art, wie gute Hefe und damit auch das Bier verdorben werden kann, fiel doch auf guten Boden. Z.B. befanden sich direkt neben dem Kühlschiff, wo die fertige Würze an offener Luft abgekühlt wurde, der Pferdestall und ein stattlicher Dunghaufen. Auf meine Vorstellung hin ist hier bald Wandel geschaffen worden. Auch die von mir als besonders wichtig gepredigte Sauberhaltung aller Gefäße, mit denen die kalte Würze und das Bier in Berührung kommen, hat dem verständigen Braumeister gefallen, weil sie mit seinen Erfahrungen in der Praxis wohl übereinstimmte.

Etwa 30 Jahre später bin ich bei einer Jubelfeier des Instituts für Gärungsgewerbe in Berlin zu dessen Ehrenmitglied ernannt worden, und der Leiter des Instituts, Professor Max Delbrück, hat bei dieser Gelegenheit die Wahl nicht allein durch meine chemischen Arbeiten motiviert, sondern auch scherzhaft auf meine Bemühungen in der Dortmunder Brauerei und das dadurch bekundete Interesse für das praktische Braugewerbe hingewiesen.

Was ich damals als Pasteur'sche Lehre zu verbreiten suchte, war inzwischen durch die Studien von Professor Ch. Hansen in Kopenhagen, der auch dem Jubelfeste beiwohnte und zum Ehrenmitglied des Instituts ernannt wurde, außerordentlich vervollkommnet worden und hatte für das Braugewerbe eine grundlegende Bedeutung erlangt.

Wie schon erwähnt, gehörte mein Vater zum Aufsichtsrat der Aktienbrauerei und hat viele Jahre das Amt des Vorsitzenden geführt. Auch andere Aktiengesellschaften, z.B. der Bonner Bergwerks- und Hüttenverein, das Röhren- und Eisenwalzwerk Poensgen in Düsseldorf, eine Glashütte in Stolberg, eine Röhrenkesselschmiede zu Kalk a. Rh. und die Versicherungsgesellschaft Concordia in Cöln wählten ihn in den Aufsichtsrat. Und wenn er wegen zunehmender Schwerhörigkeit irgendwo seinen Austritt erklären wollte, so pflegte man den verständigen und stets heiteren, originellen alten Herrn zur Beibehaltung des Amtes aufzufordern.

So kam es, daß er nach Überschreitung des 90ten Lebensjahres sich scherzhaft rühmen konnte, das älteste Aufsichtsratsmitglied in Preußen zu sein.

Wie die vorangehende Schilderung seiner geschäftlichen Unternehmungen zeigt, war mein Vater ein vielseitiger, kluger Kaufmann, der[20] die Möglichkeiten des gewerblichen Lebens richtig abschätzte und selten ein schlechtes Geschäft begonnen hat.

Den Mangel der Schulbildung hat er später durch die Erfahrungen der Praxis auszugleichen gewußt. Er war kein rascher Denker, aber wenn er eine Angelegenheit, die seinem Ideenkreis nicht zu fern lag, durchstudiert hatte, so konnte man sicher sein, daß er sie völlig erfaßt und auch in den Konsequenzen durchschaut hatte.

Ich habe es mit erlebt, daß er Notaren Verträge oder Verkaufsbedingungen für öffentliche Auktionen diktierte, weil ihre eigenen Entwürfe nicht klar genug waren. Das letzte Beispiel dieser Art bot sein autographisches Testament, das durch dieselbe Klarheit der Form und der Gedanken ausgezeichnet war, wie alle seine Schriftstücke. Kurz vor seinem Tode war es auf seinen Wunsch durch einen Berliner Notar in ein amtliches Dokument umgewandelt worden. Als ich dann für die Erbteilung dieses Schriftstück meinen Schwägern vorlegte, erklärten sie einstimmig, »das hat Großpapa nicht verfaßt; denn so unklar hat er sich niemals ausgedrückt«. Die Verwirrung war durch die Bearbeitung des Notars und seine juristischen Redewendungen entstanden. Glücklicherweise konnte ich durch Vorlage des autographischen Testaments alle Zweifel über den Sinn des notariellen Schriftstückes beseitigen.

Mit der Klarheit des Geistes war bei ihm eine ungewöhnliche körperliche Rüstigkeit verbunden, die schon dem scharfen Auge seiner Mutter nicht entgangen war; denn wie er selbst gerne erzählte, hatte diese in einem Brief an ihre Schwester Conrads über den kleinen Lor berichtet: »Er scheint etwas dumm zu sein, aber es ist ein wahres Vergnügen, seinen kräftigen Körper anzuschauen«. Es ist deshalb auch kein Wunder, daß er allen körperlichen Künsten zugetan war. Reiten, Tanzen, Turnen, Schießen waren ihm wohl vertraut und die Jagd hat er bis ins höchste Alter getrieben. Hand und Auge waren so leistungsfähig geblieben, daß er mir noch mit 93 Jahren einen selbstgeschossenen Hasen schicken konnte. Dazu kam eine große Heiterkeit des Gemütes, die auch durch herbe Verluste nur vorübergehend gestört werden konnte. Alltäglich Bewegung in frischer Luft und abends 1 bis 2 Stunden Geselligkeit im Gasthause oder Casino bei einem Glase Wein und einer Cigarre oder einer Pfeife Tabak waren ihm Bedürfnis. Und wenn er dann nach Hause kam, so war seine Fröhlichkeit geradezu ansteckend für den ganzen Familienkreis. Das Gelächter in unserem Hause war häufig so laut und anhaltend, daß Passanten auf der Straße erstaunt Halt machten.

Selbstverständlich übte er mit besonderer Freude eine freie Gastfreundschaft, und meine Mutter hatte manchmal Mühe, die plötzlich in großer Zahl herbeigeführten Gäste zu versorgen. Besonders hoch und[21] lustig ging es her an Familienfesten, z.B. bei den Hochzeiten meiner Schwestern. Es sind ihrer nicht weniger als 7 in unserem Hause gefeiert worden, sechs bei meinen Schwestern, von denen eine zum zweiten Mal heiratete. Und als das einzige Töchterlein meines Onkels im Nachbarhause in die gleiche Lage kam, wurde nach alter Gewohnheit das Fest auch von meinem Vater in unserem Hause veranstaltet; nur mußte der Onkel, wie billig, die Kosten tragen. Bei solcher Gelegenheit ließ mein Vater alle Quellen seiner Fröhlichkeit springen. Obschon er keine besondere Rednergabe besaß, so erweckten doch seine Tischreden, die manchmal mit kleinen lustigen Versen geschmückt waren, stets großen Jubel.

Sein rheinischer Humor und seine Freude an Späßen führten ihn auch ziemlich regelmäßig zur Karnevalsfeier nach Cöln. In hohem Alter hat er einmal zu solcher Gelegenheit eine große Gesellschaft von Verwandten und Freunden in ein Gasthaus zu Cöln eingeladen. Niemand wußte, zu welchem Zwecke, bis der Gastgeber in seiner Tischrede das Rätsel löste. »Alle Welt feiert jetzt Jubiläen«, so begann er, »Drum habe auch ich geglaubt, eine solche Feier veranstalten zu müssen; denn heute ist es das fünfzigste Mal, daß ich an dem Cölner Karneval teilnehme«. Man kann sich denken, welche Stimmung bei diesem Feste geherrscht hat.

Noch charakteristischer und für Nichtrheinländer schwer verständlich war ein karnevalistischer Einfall, den er bald nach dem Tode seines von ihm sehr verehrten Bruders Otto, des Arztes in Köln verwirklichte. Obschon er damals fast 80 Jahre alt war, glaubte er doch dem Fasching nicht ganz entsagen zu dürfen. Er ging deshalb auf den Maskenball, aber zum Zeichen der Trauer in der Maske eines Mohren. Diese beschränkte sich allerdings auf die Schwärzung des Gesichts, die mit einem angebrannten Korken hergestellt war.

Unvermeidliche Dinge, wie den Tod seiner vier Geschwister, mit denen er in treuester und stets hilfsbereiter Freundschaft gelebt hatte, und die alle erst im hohen Alter starben, überwand er sehr leicht. Viel schwerer hat ihn der Tod meiner Mutter getroffen, mit der er 46 Jahre in glücklicher Ehe verbunden war und die er 20 Jahre überlebte. Nach ihrem Tode hat er noch 10 Jahre in Euskirchen verbracht, dann wurde er plötzlich auf eine eigentümliche Art veranlaßt, nach 57-jährigem Aufenthalt diesen Wohnsitz aufzugeben.

Im Jahre 1892 war für die preußische Einkommensteuer die obligatorische Selbstangabe des Einkommens eingeführt worden. Im Kreise Euskirchen stellte sich bei dieser Gelegenheit heraus, daß mein Vater das höchste Einkommen im Kreise besaß, was man nach seiner einfachen Lebensweise nicht erwartet hatte.[22]

Die erhöhte Einkommensteuer kam bei der in Preußen üblichen Veranlagung auch der Gemeinde zugute und der Prozentsatz, in welchem die Gemeindesteuer bis dahin erhoben wurde, hätte vernünftigerweise ermäßigt werden müssen. Das hatte auch mein Vater angeregt; aber statt dessen wurde nur die Gewerbesteuer herabgesetzt. Als mein Vater das als ungerecht bezeichnete und die Möglichkeit andeutete, daß vermögende Leute, die kein Gewerbe mehr betrieben, bei der nunmehr recht hohen Gemeindesteuer die Stadt verlassen könnten, entgegnete man ihm spöttisch: Ein Mann wie er, der im Alter von 84 Jahren stehe, würde sich nicht mehr zu einem Wechsel des Wohnsitzes entschließen können. Dieser Appell an seine Altersschwäche ärgerte ihn, und um den Leuten das Gegenteil zu beweisen, entschloß er sich sofort, Euskirchen zu verlassen. Ohne einem seiner Kinder ein Wort davon zu sagen, löste er den Haushalt auf und verließ die Stadt und Preußen und zog im Sommer 1892 nach Straßburg i. Els. Kurz vorher machte er bei mir noch einen Besuch in Würzburg, wovon später die Rede sein wird. Es war aber damals schon zu spät, seinen Entschluß zu ändern.

Der endgültige Umzug ist in den einfachsten Formen erfolgt. Ein Verwandter traf den alten Herrn zu Cöln am Bahnhof, im primitivsten Anzug, die Jagdflinte auf dem Rücken, den Hund an der Strippe und in der anderen Hand einen bescheidenen Handkoffer. Auf die Frage: »Nun, Herr Fischer, wo geht's hin?« erfolgte die knappe Antwort: »Domizilveränderung nach Straßburg«. Hier wohnte er zuerst im Gasthaus und später bei meinem Vetter Ernst Fischer, dem außerordentlichen Professor der Chirurgie, der in seinem geräumigen alten Hause in der Küfergasse eine Privatklinik eingerichtet hatte und dessen Frau aus einer elsässischen Bauernfamilie einen einfachen aber guten Haushalt führte.

Mein Vater hat hier rasch einen ihm zusagenden Bekanntenkreis gefunden, besonders unter den Jägern. Nach wenigen Monaten war er an einer Jagd beteiligt und hatte, wie er lachend erzählte, auch schon einen Prozeß, den er richtig gewann. In späteren Zeiten hatte er Fühlung mit den Offizieren der Garnison und wurde zu deren Treibjagden eingeladen. Wegen seines hohen Alters erhielt er dann den Ehrenplatz neben dem Höchstkommandierenden, und es machte ihm großen Spaß, diesem die Hasen fortzuschießen, was die jüngeren Offiziere sich nicht erlauben durften. Den Verkehr mit Offizieren war er übrigens gewohnt, da in der Umgebung von Euskirchen sehr oft im Herbst militärische Übungen stattfanden. Zweimal wurde sogar das Kaisermanöver dort abgehalten und dann waren immer hohe Offiziere in unserem Hause einquartiert. Auch an Hirsch- und Saujagden in den Vogesen hat er sich beteiligt.[23]

Häufige Reisen führten ihn von Straßburg nach dem Niederrhein und auch nach Berlin, um geschäftliche Dinge, besonders die Teilnahme an den Aufsichtsratssitzungen zu erledigen.

Als er 90 Jahre alt wurde, entschloß er sich zur Rückkehr nach Preußen. Aber bezüglich der Steuern hatte er sich inzwischen feste Grundsätze zurechtgelegt, die nicht ganz leicht zu verwirklichen waren. Die Staatssteuer, so hörte man ihn öfters sagen, wolle er gerne bezahlen, weil der Schutz des Staates für jedermann unentbehrlich sei. Dagegen die Gemeinde habe er nicht mehr nötig und er sehe nicht ein, daß er für diese viel bezahlen solle. Er wolle deshalb den Wohnsitz in einer Gemeinde wählen, die durch niedere Steuern ausgezeichnet sei. So kam er zuerst im Sommer 1898 zu mir nach Wannsee bei Berlin, wo damals nur 40% Zuschlag zur Staatssteuer erhoben wurden. Als er aber aus der ersten Steuerrechnung ersah, daß noch 30% Kreissteuer dazukamen, meldete er sofort seinen Wegzug an.

Die nächste Wahl fiel auf einen kleinen Ort im Harz, wo sein ältester Enkel Heinrich Mauritz als königl. Bergbeamter tätig war.

Der Zuzug des wohlhabenden Mitbürgers erschien nun den anderen Gemeindeangehörigen als eine günstige Gelegenheit, alle möglichen neuen Bedürfnisse der Gemeinde zu befriedigen, und die Steuern gingen im folgenden Jahre erstaunlich in die Höhe. Sofort war der alte Herr wieder verschwunden und jetzt fand er einen Wohnsitz in Griethausen, einem Dorfe in der Nähe von Cleve, wo man auf die Ausbeutung des Zugvogels verzichtete. Er mietete sich ein Zimmer bei dem Gemeindediener und behielt das Domizil bis zu seinem Tode, obschon er kaum 24 Stunden sich dort aufgehalten hatte.

Statt dessen wohnte er abwechselnd bei seinen Kindern oder Schwiegersöhnen oder Enkeln in Rheydt, Uerdingen, Berlin oder Herdt bezw. Dortmund, durfte aber nirgends länger bleiben als 89 Tage, weil er sonst nach dem Gesetz zur Zahlung von Gemeindesteuern verpflichtet gewesen wäre. Den übrigen Teil des Jahres, namentlich die Sommermonate verbrachte er auf Reisen und machte dabei noch alle möglichen Bekanntschaften. So schrieb er mir eines Tages, daß er in einem Gasthaus zu Heidelberg Robert Bunsen zufällig getroffen und sich ihm als Vater eines Chemikers vorgestellt habe. Dieser sei zwar jünger, aber noch schwerhöriger wie er selbst. Trotzdem habe sich ein langes und interessantes Gespräch zwischen ihnen entwickelt.

Im Winter 1900/01 hat er zum letzten Mal an der Jagd teilgenommen, weil das früher so gute Auge versagte. Das kam von einer leichten Trübung der Linse, während der Sehnerv noch ganz intakt geblieben war. Im übrigen erfreute er sich im Frühjahr 1902 noch voller Gesundheit, wenn man von der Schwerhörigkeit absehen will. Er hat damals[24] noch in Frack und weißer Binde einer Abendgesellschaft in meinem Hause beigewohnt. Als aber die üblichen 89 Tage vorüber waren, zog er mit der gewohnten Pünktlichkeit nach Rheydt zu seinem Schwiegersohn Arthur Dilthey. Hier soll er bei häufigem Verweilen in den Gasthäusern, besonders in jugendlicher Gesellschaft dem Bier- und Weingenuß über das Maß der Zuträglichkeit gehuldigt haben. Dem war das alte Herz nicht mehr gewachsen und das erste Zeichen seiner Insuffizienz gab sich kund in der Schwellung der Beine. Die Mahnung des Arztes, seine Lebensweise zu ändern und den Genuß alkoholischer Getränke zu vermeiden, beantwortete er mit der Frage: »Wieviel Leute in meinem Alter haben Sie schon behandelt?« Er blieb also bei seinen Gewohnheiten. Die Wassersucht wurde im Laufe des Sommers schlimmer, ohne ihn aber stark zu belästigen, und Anfangs Oktober kam er in Begleitung seines Enkels Alfred Dilthey als schwer kranker Mann zu mir nach Berlin. Ohne besonders zu leiden ist er hier am 16. Oktober 1902, 18 Tage vor seinem 95. Geburtstage sanft verschieden.

Einen Tag vor seinem Tode hat er nochmals das Bett verlassen, und 5 bis 6 Stunden auf die Vervollständigung seines Hauptbuches, das er stets auf Reisen mit sich führte, verwendet. Die spätere Prüfung des Buches ergab nur einen einzigen Fehler, der an diesem letzten Tage begangen war.

An seinem Todestage hat er in einem Gespräch mit mir die Bilanz seines Lebens gezogen und sich sehr befriedigt darüber geäußert. Eine Stunde vor seinem Tode trank er noch ein großes Glas Bier, offenbar mit Genuß; denn seine letzten Worte waren: »Es ist ein Glück, daß der gemeine Mann für billig Geld einen so guten Trank haben kann«. Er starb, wie er gelebt hatte, als vollkommener Atheist, aber in treuer Anhänglichkeit an Frau und Kinder, an die weitere Familie und an zahlreiche Freunde. Politisch war er früher rheinischer Fortschrittsmann, später nationalliberal und immer in scharfer Opposition zur ultramontanen Partei.

Obschon ganz im kapitalistischen Zeitalter groß geworden, hatte er doch Sinn und Verständnis für die soziale Bewegung der Neuzeit. Vom sozialistischen Zukunftsstaat wollte er gar nichts wissen, aber von den Bestrebungen der Arbeiter pflegte er zu sagen: »Die Leutchen haben ganz recht, wenn sie versuchen, ihre Lage zu verbessern«. In der großen Öffentlichkeit ist er weder als Redner noch als Schriftsteller hervorgetreten. Dagegen hat er als langjähriger Stadtverordneter und als Mitglied mancher Kommissionen an der Verwaltung von Gemeinde und Kreis teilgenommen, und wenn es sich darum handelte, allgemein wirtschaftliche Zwecke, wie den Bau von Eisenbahnen[25] in der dortigen Gegend zu fördern, so war er gewöhnlich Mitglied der Abordnungen, die nach Cöln oder Berlin zur Verhandlung mit der königl. Regierung geschickt wurden.

Trotz seiner Tatkraft in allen geschäftlichen Dingen war er von Charakter gutmütig und huldigte dem Grundsatz: »Leben und leben lassen«. Gegen Frau und Kinder war er nicht allein sehr gütig, sondern auch rücksichtsvoll und überließ die strenge Seite der Erziehung ganz der Mutter. Meine Schwestern konnten mit einigen Schmeichelworten fast alles von ihm erreichen. Nur in ernsten Dingen, z.B. in der Wahl des Gatten, mahnte er dauernd zur Vorsicht und Vernunft, und phantastischen Heiratsplänen wäre er sicherlich mit großer Entschiedenheit entgegengetreten. Er hat dann auch wirklich das Glück gehabt, mit allen Schwiegersöhnen sehr zufrieden sein zu können.

Ich selbst erinnere mich nicht, von ihm gestraft worden zu sein. Ja, ich habe kaum ein böses Wort von ihm gehört. Zwar hat er öfters sein Bedauern dar über ausgesprochen, daß ich kein Interesse an kaufmännischen Dingen und dem Erwerb von materiellen Gütern besitze, aber er ließ mich doch ruhig meinen Weg gehen und sprach nur Anderen gegenüber mit Bedauern darüber, daß der Sohn die Kunst des kaufmännischen Rechnens nicht besitze. Leider hat er es nicht mehr erlebt, daß dieser unpraktische Gelehrte den Nobelpreis für Chemie erhielt, und sich später durch einige kleine Erfindungen Jahreseinkünfte verschaffte, wie er selbst sie niemals gehabt hat.

Wesentlich verschieden von dem Vater war trotz der sehr glücklichen Ehe in Charakter, Anschauungen und Neigungen meine Mutter. Sie stammte aus der zweiten Ehe des Eisenfabrikanten Johann Abraham Poensgen in Schleiden (Eifel) mit Wilhelmine Fomm und war am 19. Februar 1819 geboren. Wie ich einer recht gut geschriebenen und im Druck erschienenen Geschichte der Familie Poensgen entnahm, haben meine Vorfahren mütterlicherseits Jahrhunderte lang als Erzeuger von Eisen und Eisenwaren im Schleidener Tal gewirkt und vielleicht habe ich von ihrer Seite die Freude an chemischen und technischen Prozessen geerbt. Es ist ein merkwürdiger Zufall, daß ich jetzt im Alter durch die Kaiser Wilhelm Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften mit der Kohlen- und Eisenindustrie wieder in nähere Berührung gekommen und in jüngster Zeit sogar Kuratoriumsmitglied des großartig geplanten Kaiser Wilhelm Instituts für Eisenforschung geworden bin.

Da meine Großmutter nach dem Tode des ersten Mannes den Arzt Dr. Fuß zu Gemuend im Schleidener Tal heiratete, so hat meine Mutter dort den größten Teil ihrer Jugend verlebt. Zur Vollendung ihrer Ausbildung kam sie mit etwa 16 Jahren in die Erziehungsanstalt der[26] Herrnhutergemeinde in Neuwied a. Rhein und daher stammte wohl die tiefe religiöse Überzeugung, der sie während ihres ganzen Lebens treu blieb.

Sie war sehr klug und wissensdurstig und von dem vielen Lesen hatte sie schon in der Jugend eine ziemlich starke Myopie erworben, die ich von allen ihren Kindern allein geerbt habe. Sie wäre heutzutage wahrscheinlich eine gelehrte Frau geworden, aber das Frauenstudium war zu ihrer Zeit noch nicht üblich. Da sie schon mit 18 Jahren heiratete und in den nächsten 15 Jahren 8 Kinder zur Welt brachte, so war ihre Zeit durch andere Pflichten ausgefüllt. Sie wurde eine tüchtige Hausfrau und half meinem Vater auch in geschäftlichen Dingen. Sie wußte sich überall in Respekt zu setzen und niemand von den Kindern oder dem Dienstpersonal hätte es gewagt, ihre Anordnungen zu mißachten. Sie war ernster wie mein Vater, konnte aber doch recht herzlich über seine Späße lachen. Nur wo sie rohen oder gemeinen Äußerungen begegnete, gab sie ihrer Entrüstung so deutlichen Ausdruck, daß jedermann in ihrer Gegenwart gezwungen war, sich anständig zu benehmen. Bei alledem war sie eine liebevolle Mutter, voller Fürsorge für ihre Kinder und später auch für deren Familien.

In ihrer tiefen Religiösität ließ sie sich durch den Unglauben meines Vaters und seinen gelegentlichen Spott über Kirche und Pfaffen nicht irre machen.

Ebenso selbständig waren ihre politischen Anschauungen, und als eifrige Protestantin verehrte sie Preußen als die Vormacht des evangelischen Glaubens in Deutschland.

Als unter der Ministerpräsidentenschaft Otto von Bismarcks der böse Konflikt zwischen der preußischen Regierung und dem Abgeordnetenhause im Jahre 1863/64 tobte, und fast alle Rheinländer, unter ihnen auch mein Vater, zur Oppositionspartei gehörten, war sie ganz auf Seiten Bismarcks: »Jetzt hat Preußen wieder einen Minister, der seiner würdig ist und ihr seid viel zu dumm, diesen Mann zu begreifen«. So sprach sie wohl zu ihren Kindern und auch meinem Vater machte sie in ihren politischen Urteilen so lebhafte Opposition, daß er sie scherzhaft »Frau Bismarck« nannte.

Dabei war sie eine recht hübsche Frau, besonders ausgezeichnet durch das üppige tiefschwarze Haar und durch die großen klugblickenden Augen. Als einziger Sohn habe ich mich besonders ihrer Liebe und Fürsorge erfreut. Sie hat auch stets meine Neigung zu wissenschaftlichen Studien gefördert, nur von der Wahl der Chemie als Berufsstudium war sie enttäuscht, weil ihr das zu sehr nach Apotheke schmeckte. Sie hätte es viel lieber gesehen, daß ich Jurist oder Mediziner geworden wäre.[27]

Im allgemeinen erfreute sie sich einer guten Gesundheit, und noch mit 59 Jahren reiste sie nach Meran, um meiner dort zur Kur weilenden kranken Schwester Mathilde während des Winters Gesellschaft zu leisten. Von München aus habe ich sie damals während der Weihnachtsfeiertage besucht. Die Fahrt machte ich in Gesellschaft meines Freundes Dr. Tappeiner, dessen Vater in Meran der bekannteste Arzt war.

Als wir von Bozen in einem besonderen Mietwagen abends nach Meran fuhren, war die Kälte so groß, daß wir uns recht unbehaglich fühlten, und bei unserer Ankunft in Meran war die Temperatur unter 12° gesunken. Ich habe damals meine optimistische Ansicht über das warme Klima der südlichen Alpenorte geändert und bei mancher anderen Fahrt nach dem Süden dieses Urteil bestätigt gefunden. In Meran war der Berg hinter der Stadt so mit Eis inkrustiert, daß man mit gewöhnlichen Schuhen kaum auf die Höhe steigen konnte. In dem Gasthause »Erzherzog Johann« fand ich das Wasser in der Waschschüssel am nächsten Morgen gefroren. Für die Kranken wurde allerdings durch fortwährende Ofenheizung besser gesorgt.

Von Meran kehrte meine Mutter Mitte Februar nach Deutschland zurück, um ihren 60. Geburtstag zuhause zu feiern. Sie besuchte mich noch in München und freute sich, einige meiner Freunde als ihre Gäste im Hotel »Bayrischer Hof« kennen zu lernen.

Aber diese lange Reise bei damals noch recht ungenügender Heizung der Eisenbahnen und selbstverständlich ohne Schlafwagen trug ihr einen heftigen Bronchialkatarrh ein. Die dadurch erschwerte Zirkulation in Verbindung mit den seelischen Sorgen um das Schicksal meiner Schwester haben wahrscheinlich bei ihr eine Herzkrankheit ausgelöst, die im Frühjahr 1879 begann und nach 31/2 jährigem, recht schweren Leiden am 14. September 1882 den Tod herbeiführte. Sie starb in Uerdingen im Hause meines Schwagers Mauritz unter der sorgfältigen Pflege meiner Schwester Bertha. Sie ist ebenso wie mein Vater beerdigt auf dem kleinen protestantischen Friedhof zu Uerdingen in der Familiengruft Mauritz-Fischer. Der Friedhof lag früher ganz hübsch auf freiem Felde, ist aber jetzt leider infolge der raschen industriellen Entwicklung des Ortes von hohen und unschönen Gebäuden umgeben.

Von meinen Schwestern ist schon vorher wiederholt die Rede gewesen. Die kleine Abneigung, die der Bruder bei der Abwehr ihrer Erziehungskünste früher manchmal empfunden hatte, war im Laufe der Zeit ins gerade Gegenteil umgeschlagen, und ein wirklich freundschaftliches Verhältnis hat mich dann sowohl mit meinen Schwestern, wie auch mit ihren Männern verbunden.[28]

Die älteste Schwester Laura habe ich als Mädchen wenig gekannt, da sie bereits im Jahre 1858 einen jungen Kaufmann, Friedrich Mauritz aus Uerdingen a. Rhein heiratete. Infolgedessen wurde mir schon mit 7 Jahren die Würde eines Onkels zuteil, was mir von seiten der Altersgenossen manchen Spott eingetragen hat.

Durch diese Heirat wurde zwischen den Familien Fischer und Mauritz eine Verbindung geschaffen, die sich im Laufe der Zeit erweiterte und vertiefte. Mein Schwager war ein prächtiger, frischer Mann, tüchtig in seinem Geschäft, einem Kohlenhandel, und mein Vater ist zu ihm in ein besonders herzliches Verhältnis getreten. Er liebte es, im Alter monatelang im Hause des Schwiegersohnes zu wohnen, hatte mit ihm mancherlei Geschäfte, z.B. die Brauerei in Dortmund begonnen, ging gerne zusammen mit ihm auf Reisen und hat sich oft dahin geäußert, der Fritz sei ihm so lieb wie sein eigener Sohn.

Ich selbst habe bei dem Schwager als Knabe in den Schulferien mich öfters aufgehalten und in der mir neuen Umgebung des mächtigen Stromes, des eigentümlichen Geschäftsbetriebes und der weit verzweigten und kinderreichen Familie Mauritz viel Unterhaltung und Freude erlebt. Leider starb meine Schwester Laura, eine gesunde und kräftige Frau, bald nach der Geburt des dritten Kindes Alfred, der jetzt als Direktor der Aktienbrauerei, als Stadtverordneter und auch sonst in der Öffentlichkeit vielfach tätiger Mann in Dortmund eine sehr angesehene Stellung hat. Sie scheint das Opfer einer Infektion gewesen zu sein, über deren Natur ich aber keine bestimmte Auskunft erhalten konnte. Fünf Jahre später, mitten im Kriege 1870 heiratete der Witwer meine dritte Schwester Bertha, die dem Gatten auch drei Söhne schenkte. Sie starb leider auch früh an einer Lungenentzündung 1888. Mein Schwager Fritz ist ihr etwa 10 Jahre später im Tode gefolgt, was für meinen Vater im hohen Alter ein besonders schmerzlicher Verlust war.

Von seinen 6 Kindern sind nur noch 2 übrig geblieben, der eben erwähnte Brauereidirektor und aus der zweiten Ehe der Sohn Otto, der in Nürnberg als Ingenieur in einer großen Maschinenfabrik tätig ist.

Meine zweite Schwester Emma hat ebenfalls ziemlich früh geheiratet und zwar einen Arzt Dr. Albert Winnertz in Krefeld, den sie durch meinen Schwager Mauritz kennen lernte.

Der Doktor war ein sehr kluger und liebenswürdiger Mensch, aber leider krank und starb schon nach 31/2 jähriger Ehe an Tuberkulose. Die junge Witwe kehrte dann mit 2 Kindern, Hedwig und Clara, ins Elternhaus nach Euskirchen zurück, und blieb dort fast 10 Jahre. Das ist der Grund, warum ich sie am besten von allen meinen Schwestern kennen gelernt habe und ihr besonders nahe getreten bin. Sie war[29] hübsch, liebenswürdig und sehr gewandt, sodaß mein Vater sie immer Salondame nannte. Sie spielte recht gut Klavier. Ich erinnere mich manchen Abends, wo ich stundenlang ihrem Spiel zuhörte, weil sie meist klassische Sachen auf einem guten Piano vortrug. Ich glaube, daß ihr Spiel mich hauptsächlich bewogen hat, ebenfalls Musik zu treiben. Im Jahre 1872 entschloß sie sich nach langem Zögern, eine zweite Ehe mit meinem Vetter Carl Fischer einzugehen, der in treuer Geduld um sie geworben hatte. So kam sie nach Rheydt, wo schon zwei andere Schwestern von ihr verheiratet waren. Ich habe sie dort öfter besucht und sie kam wiederholt nach Würzburg und Berlin. Auch sind wir in späteren Jahren häufig zusammen gereist. Sie trieb ihre Freundschaft für den Bruder manchmal so weit, daß ihr Gatte eifersüchtig wurde und sich über Zurücksetzung beklagte. Sie starb im Jahre 1901 am Typhus in Nassau, und mein Schwager Carl überlebte sie um 14 Jahre. Sie hatte den Schmerz, drei Söhne im jugendlichen Alter zu verlieren. Die vier Töchter, zwei Winnertz und zwei Fischer, haben sämtlich geheiratet und sind mir liebe Nichten geblieben.

Meine dritte Schwester Berta war eine recht originelle Person, im Grunde ihres Herzens sehr gutmütig, aber als Mädchen voller Launen, gegen die Männer häufig recht unliebenswürdig, aber sehr tüchtig. Nachdem sie im Alter von 29 Jahren meinen Schwager Mauritz geheiratet hatte, wurde sie in Uerdingen wegen ihrer ungewöhnlichen Kunst im Kochen und der Erziehung von Dienstboten, sowie wegen der Originalität ihres Wesens eine bekannte Frau. Besonders jungen Leuten, z.B. den Söhnen aus erster Ehe und deren Freunden war sie eine richtige Kameradin, mit denen sie Karten spielte, Wein trank und Ausflüge machte, fast wie ein Student. Ihr leider so früher Tod ist schon erwähnt.

Die vierte Schwester Fanny war von kräftigem Körperbau, aber wenig schön von Gesicht. Sie zeichnete sich in der Jugend durch Vorliebe für Turnen, Tanzen und sogar Pistolenschießen aus. Sie zog als Gattin des Holzhändlers Max Friedrichs im Jahre 1865 nach Rheydt, und ist hier im Jahre 1912 im Alter von 70 Jahren gestorben. Sie war klug und als Schülerin ebenso tüchtig, wie später als Hausfrau. Wie schon erwähnt, konnte sie mit den bei Herrn Vierkötter erworbenen mathematischen Kenntnissen noch im Alter eine Kubikwurzel ausziehen. Auch als Dichterin besaß sie in der Verwandtschaft einen gewissen Ruf. Hübsche Gelegenheitsgedichte und kleine Festspiele, um die sie von manchen Seiten gebeten wurde, konnte sie in unglaublich kurzer Zeit verfassen. Von ihren Kindern leben noch zwei Söhne, Ernst und Max, die das vom Vater ererbte bedeutende Holzgeschäft weiterführen, und zwei Töchter, Helene und Adele,[30] die auswärts verheiratet sind. Vom Schwager Max Friedrichs wird später noch ausführlich die Rede sein.

Die jüngste Schwester Mathilde war nur 4 Jahre älter wie ich und hat mir deshalb in der frühen Jugend am nächsten gestanden. Sie war ein liebes, sehr gutmütiges, recht hübsches Mädchen, geistig nicht besonders begabt, aber liebenswürdig und deshalb überall gerne gesehen. Ihr Wesen hat ihr manche Huldigung von seiten der Offiziere eingebracht, die während der Manöver oder während des Krieges 70/71 bei uns im Quartier lagen, aber sie zog es doch vor, beim Zivil zu bleiben und heiratete meinen Vetter Arthur Dilthey in Rheydt. Nach der Geburt des dritten Kindes erkrankte sie und starb im Herbst 1879 in Rheydt nach einer vergeblichen Kur in Meran. Es war nicht allein für meinen Schwager, dem sie zwei Söhne und eine Tochter hinterließ, sondern auch für meine Eltern und ganz besonders für meine Mutter ein schwerer Schlag, der sehr ungünstig auf ihren eigenen Gesundheitszustand zurückwirkte.

Ich habe dieser lieben »Tilla« ein dankbares und warmes Gedenken bewahrt. 5 Jahre später ging mein Schwager eine zweite Ehe ein mit Frieda Weuste, und diese hat es verstanden, den drei Kindern eine wirkliche zweite Mutter zu sein. Das Ehepaar Arthur Dilthey lebt jetzt noch in voller Rüstigkeit in Bonn. Von den drei Kindern ist leider der Jüngste Alfred als Opfer des unseligen Krieges 1915 in Rußland gefallen. Von meinem Schwager Arthur, mit dem mich dauernde Freundschaft verbunden hat, wird später die Rede sein.

Fast ebenso nahe wie die Schwestern standen mir in früher Jugend die Vettern und die Kusine im Nebenhause. Der Älteste, Heinrich Fischer, 5 Jahre älter wie ich, der als einziger Vertreter der Familie in Euskirchen zurückgeblieben ist, war als Junge geneigt, sich von dem übrigen Kreise etwas abzusondern. Er ist unverheiratet geblieben und hat mehr und mehr die Gewohnheiten eines Originals angenommen.

Er wohnt jetzt in unserem früheren Hause und betreibt mehr zu seinem Vergnügen das alte Spinnereigeschäft, aber in beschränktem Umfange.

Von den Vettern Ernst und dem Jüngsten Otto Fischer werde ich später noch Manches zu berichten haben.

Vetter Lorenz ist früher schon wegen seiner hervorragenden Eigenschaften als Jäger und Krieger erwähnt worden. In der Schule war er weniger tüchtig, und infolge unvernünftiger Lebensführung ist er im Alter von 35 Jahren an Tuberkulose gestorben. Sein jüngerer Bruder Hermann war ebenfalls für körperliche Leistungen besser veranlagt als für geistige Tätigkeit. Er war ein sehr hübscher Mann, guter Turner und Reiter und übersiedelte bald nach dem Tode seines Vaters nach[31] Cöln. Er wurde der Stammvater einer kriegerischen Familie; denn seine beiden Söhne Kurt und Walter sind Berufsoffiziere geworden und seine durch Schönheit ausgezeichneten Töchter sind beide glücklich verheiratet und wohnen in Groß-Berlin.

Auch die drei Söhne meines Onkels in Flamersheim kamen bei der geringen Entfernung von Euskirchen durch häufige wechselseitige Besuche vielfach mit uns in Berührung. Die beiden ältesten Karl und August wurden Kaufleute und haben später ein Geschäft in Baumwollgarn in Rheydt geführt. Dort sind sie auch beide gestorben. Wie schon erwähnt, wurde Karl der zweite Gatte meiner Schwester Emma. Er war trotz ziemlich dürftiger Schulbildung ein kluger und geschäftsgewandter Mann, den man gern in praktischen Dingen um Rat frug und mit dem ich häufig einen Teil der Osterferien in Territet am Genfer See verbrachte.

Der zweite Sohn August war körperlich ungewöhnlich stark, ein trefflicher Jäger und ein gutmütiger, zur Heiterkeit hinneigender Gesellschafter. In geschäftlichen Dingen folgte er gern der größeren Autorität seines Bruders Karl.

Ganz anders als die Brüder war der jüngste Flamersheimer Vetter Julius, ein sehr gescheidter und kritischer Kopf, der am meisten die geistige Regsamkeit und die Originalität seines Vaters geerbt hatte. Er wurde Jurist, schlug die Richterlaufbahn ein und starb verhältnismäßig früh an vernachläßigtem Diabetes in Cöln, wo er Richter beim Oberlandsgericht war. In seinem früheren Aufenthaltsort Cleve hat er sich verheiratet. Aus der Ehe stammt ein Sohn, der die Tochter eines Großschafzüchters in Australien heiratete und dort eine neue Heimat gefunden hat. Ich hoffe, daß er durch Naturalisation und durch den Schutz des Schwiegervaters den Unbilden entgangen ist, die unsere Landsleute während des Krieges in den englischen Kolonien erdulden müssen. Die einzige Tochter hat einen Hans von Eicken aus Hamburg geheiratet, den Sohn meiner Kusine Helene geb. Fischer aus Köln.

Der Vetter Julius besaß nicht allein Begabung für geistige Arbeit, sondern hatte auch das besondere Talent, Erkundigungen einzuziehen. Schon als Junge wußte er alles, was sich in der näheren und weiteren Umgebung zutrug. Auch geschäftliche Dinge interessierten ihn. Man konnte kaum etwas Komischeres hören, als wie eine Unterhaltung zwischen ihm und seinem Vater, der von den Gaben des Sohnes sehr hoch dachte und im vertraulichen Kreise nicht selten die Äußerung tat, »der ›Jul‹ wird noch Minister«. Im Alter hatte sich der Erwerbs- und Sparsinn des Vaters bis ins Groteske hinein gesteigert, und er würde direkt materiellen Mangel gelitten haben, wenn nicht der Sohn [32] Julius zusammen mit seinen Brüdern im geheimen die Hauptkosten des Haushaltes getragen hätten. Charakteristisch ist folgende Geschichte. Eines Tages vermißte der Vater auf seinem kleinen Kontor die Hälfte eines Hundertthalerscheines, und er kam auf den Verdacht, daß ein kleiner Hund, der Liebling vom Sohn Julius, diese Hälfte gefressen habe. Er entschloß sich sofort, das Tier aufschneiden zu lassen und hatte schon einen Operateur bestellt, als Julius von der Gefahr für seinen Liebling Kenntnis erhielt. Es gelang ihm auch, den Vater zu beruhigen, indem er ihm den Hund für 100 Taler abkaufte. Das Geschäft konnte glücklicherweise bald nachher rückgängig gemacht werden, da sich die zweite Hälfte des unglücklichen Hunderttalerscheines wieder vorfand.

Ich bin dem Vetter Julius in meiner Bonner Studienzeit näher getreten. Er war damals Assesor beim Landgericht, und wir haben hier und da im Rheinischen Hof eine gute Flasche Wein zusammengetrunken. Ich mußte immer sein besonderes Talent bewundern, eine Sache, die an und für sich ganz klar schien, von einer anderen Seite zu betrachten, und Möglichkeiten zu entwickeln, an die ein Laienverstand gar nicht denken konnte. Diese Art, die Welt in einem besonderen Spiegel anzusehen, war für mich sehr anziehend, so daß ich nach dem Doktorexamen im Herbst 1874 den Vetter zu einer Reise nach der Schweiz aufforderte. Obschon zum Reisen wenig aufgelegt, ging er darauf ein, und ich habe selten so viel gelacht, wie auf dieser Tour. Schon bei der Abreise ließen ihn die landschaftlichen Schönheiten des Oberrheintals, die lieblichen Bergzüge des Odenwaldes und Schwarzwaldes ziemlich gleichgültig. Dagegen kontrollierte er aufs Genaueste den fahrplanmäßigen Gang des Zuges und registrierte jede Minute Verspätung. Zu dem Zweck hatte er gleich nach Besteigung des Zuges Krawatte, Hemdenkragen und Rock ausgezogen und dafür einen Regenmantel angelegt. Das sei die beste Methode, um sich gegen den Staub und Schmutz zu schützen, den er für ungesund und unästhetisch hielt. In Basel machten wir zuerst Station. Die Stadt und die Bewohner interessierten ihn lebhaft, aber aus den Sehenswürdigkeiten und der Landschaft machte er sich nicht viel. Er proklamierte damals für Reisen gleich den Grundsatz: Die öffentlichen Gebäude von außen, die Berge von unten und die Gasthäuser von innen anzuschauen. Ich habe später auch von anderen Mitreisenden, z.B. meinem Freunde Wilhelm Königs ähnliche Worte vernommen, aber sie wurden doch niemals so gewissenhaft durchgeführt, wie von Vetter Julius. Gegen die Abendstunde hatte er immer das Bedürfnis, ein Glas Wein zu trinken, und beim Hinschlendern durch die Stadt war sein Augenmerk auf die Entdeckung eines geeigneten Weinhauses gerichtet.[33] Dem Reisehandbuch traute er gar nicht, ebensowenig den Aussagen der Hotelbedientesten, aber plötzlich entdeckte er auf der Straße einen Mann mit einer ungewöhnlichen großen und feuerroten Nase. »Der muß es wissen« sagte er sofort, und die Auskunft, die wir von dem Herrn erhielten, bewies in der Tat, daß wir uns an die richtige Adresse gewandt hatten.

Von Basel ging's nach Luzern, wo wir in einem Gasthause zweiten Ranges, einem echten Schweizer Hause Quartier nahmen. Den Vetter interessierte es besonders, mit der einheimischen Bevölkerung Fühlung zu nehmen, ihre Sitten, Einrichtungen und Anschauungen kennen zu lernen. Es gelang ihm auch rasch, mit einheimischen Stammgästen ins Gespräch zu kommen. Das alles war begleitet von dem Konsum ziemlich ansehnlicher Weinmengen. Der Reiseweg von dort aus war von ihm auf das genaueste festgestellt und ist auch bis in Kleinigkeiten hinein inne gehalten worden. Er ging zunächst über Flüelen, Andermatt und das Wallis zum Genfer See. Als wir morgens das Schiff bestiegen hatten, um über den Vierwaldstätter See in einer Landschaft, die wirklich des Sehens lohnt, nach Flüelen zu fahren, fiel der Vetter, trotz prächtigen Wetters und des sehr schönen Platzes auf dem Deck gleich nach der Abfahrt in tiefen Schlaf und erwachte erst am Ende der Fahrt. Er schaute sich dann ganz befriedigt um und sagte trocken: »Die Leute müssen denken, ich sei oft hier gewesen«. Von Flüelen hatten wir die Wahl, nach Andermatt entweder mit der Post oder auf Schusters Rappen zu kommen. Vetter Julius entschied sich kurz für letzteres. Es war ein schwüler Tag und die Landstraße von der Mittagsonne recht heiß und staubig. Das Gepäck hatten wir der Post übergeben, die später abfuhr und zogen nun los. Der Vetter meinte, der Mantel trage sich am bequemsten, wenn man ihn anziehe. Das geschah, und trug nicht wenig dazu bei, den üppig genährten und an körperliche Anstrengungen durchaus nicht gewöhnten Vetter in Dampf zu versetzen. Unglücklicherweise machte um dieselbe Zeit eine Schwadron schweizerischer Kavallerie Übungen in der Gegend. Kleine Trupps kamen häufig an uns vorbei und entwickelten eine ungeheure Staubwolke, die der Vetter für sehr schädlich hielt und der er zu entgehen suchte, indem er den Straßendamm hinab ins freie Feld flüchtete. Durch all diese Umstände war er nach 2 Stunden so erschöpft, daß ich Sorge bekam und ihn aufforderte, in das nächste Gasthaus einzutreten und dann den staubigen Teil des Weges mit der Post abzumachen. Er ging darauf ein und hat nun die Post nicht mehr verlassen, bis wir an den Genfer See gelangt waren. Ich selbst habe die schöneren Teile des Weges zu Fuß gemacht, besonders die Strecke von Andermatt über die Furka nach dem Rhonegletscher. Ich befand[34] mich dabei in der Gesellschaft eines jungen Amerikaners, dessen praktische Weise, zu reisen, mir besonders gefiel. Er war von Kalifornien herüber gekommen und hatte kein anderes Gepäck, als ein kleines Täschchen für Geld, Zahnbürste und Seife. Sobald er in eine Stadt kam, kaufte er neue Leibwäsche, und verschenkte die schmutzige. So hatte er sich schon 2 Monate in Europa herumgetrieben, viel gesehen, sich trefflich unterhalten und hoffte den Trip noch einige Wochen zu verlängern. Abends traf ich immer wieder mit dem Vetter Julius im Gasthause zusammen und er wußte dann zahlreiche Schnurren über abenteuerliche Postreisen im Gebirge und sonderbare Reisegefährten zu erzählen. An der Teufelsbrücke hatte er sogar ein neues physikalisches Phänomen entdeckt, d.h. einen umgekehrten Regenbogen. Ich wollte es anfangs nicht glauben, habe mich aber später überzeugt, daß bei Wasserfällen durch die Zerstäubung des Wassers in kleine Tropfen bei richtigem Stand der Sonne und des Beobachters diese Erscheinung in der Tat eintreten kann.

Von den landschaftlichen Schönheiten der Schweiz war wenig die Rede. Dagegen interessierte ihn Genf als die Stadt Calvins und als der Hauptsitz des schweizerischen Finanzgeschäftes. Auch hier erlebte ich mit ihm eine komische Szene. Er behauptete, das Wasser, das er zuhause niemals trank, sei in der Schweiz besonders heilsam, nur müßte man es direkt aus der Naturquelle entnehmen. So liebte er es denn, bei den vorgefundenen Brunnen direkt vom Wasserstrahl zu trinken. Das machte er auch bei einem Brunnen in Genf, mußte sich aber, um ans Wasser heran zu kommen, auf die gemauerte Brüstung legen und pendelte hier nun hin und her, um den Strahl mit seinem Munde aufzufangen. Das Bild des kleinen, stark genährten Mannes, auf der Brüstung des Brunnens liegend und trinkend, war so überaus komisch, daß sich ein großer Kreis von Zuschauern bildete. Als er fertig war und die versammelte Menge erblickte, sagte er ruhig, da sehe man wieder, daß man mit wenig Mühe den Leuten viel Spaß machen könne. Von Genf sind wir mit dem Omnibus nach Chamonix gefahren und ich habe dort mehrere kleine Bergtouren gemacht. Seinem Grundsatze getreu blieb Vetter Julius im Hotel; durch fleißige Erkundigungen bei Touristen, Führern und sonstigem Volk war er aber nachher über Bergtouren viel besser unterrichtet als die große Zahl der Reisenden. Selbstverständlich kontrollierte er auch alle Gäste des Hotels und berichtete eines Abends, draußen beim Wetterhäuschen sei ein aufgeregter deutscher Professor, der die Instrumente kritisiere und das Publikum über den bevorstehenden Wechsel des Wetters belehre. Ich erfuhr nachher, daß es Rudolf Fittig aus Tübingen sei, der mir als trefflicher Chemiker aus der Literatur schon bekannt[35] war. Ich habe damals nicht gewagt, mich ihm vorzustellen, bin aber einige Jahre später zu ihm in ein näheres Verhältnis getreten. Unter den Fußtouren, die ich von Chamonix unternahm, war auch die damals sehr beliebte Überquerung des mer de glace und der Abstieg über den mauvais pas. Für berggeübte Wanderer ist das ein Spaziergang, aber Leute ohne Erfahrung und ohne das richtige Schuhwerk konnten doch recht leicht ausgleiten und verunglücken. Ich habe deshalb beim Übergang über das Eis mit einem gewissen Schrecken mich daran erinnert, daß mein Vater 5 Jahre vorher denselben Weg mit 5 Damen, d.h. meiner Mutter, zwei Schwestern und den beiden Kusinen Marie und Helene Fischer aus Cöln unternommen hatte. Er erzählte auch hinterher, daß es die angstvollsten Stunden seines Lebens gewesen seien.

Die Damen schienen sich dieser Gefahr weniger bewußt zu sein, sie haben im Gegenteil auf dieser Schweizer Reise eine ganze Anzahl von merkwürdigen und lustigen Erlebnissen gehabt, von denen noch lange in unserem Hause geredet wurde.

Der Eindruck, den Vetter Julius von der Schweiz mit nach Hause nahm, war viel nüchterner; denn als wir wieder im Rheintal waren, meinte er, es sei nicht der Mühe wert, nach der Schweiz zu fahren, denn hier gäbe es auch Berge und Wasser und im Winter Schnee und Eis im Überfluß. Er hat meines Wissens nie mehr die Grenzen des deutschen Reiches überschritten. Dagegen bin ich in späteren Jahren oft und gern in die Schweiz und besonders an den Genfer See zurückgekehrt, habe aber das Chamonixtal nicht mehr gesehen.

Quelle:
Fischer, Emil: Aus meinem Leben. Berlin 1922, S. 9-36.
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