Arzt in Weimar 1783–1793

[58] Es war zu Ende des Julius, wo ich meinen Einzug in Weimar hielt. Ich fand den lieben Vater fast erblindet und sehr gebeugt und traurig. Er konnte fast nichts mehr lesen und sah nur die Gegenstände im großen; dabei oft das heftigste Herzklopfen, Schwindel, Hypochondrie. Die Schwestern waren außer sich vor[58] Freude, ihren Bruder wieder zu sehen, der nun auch die Stütze des Vaters und des ganzen Hauses sein sollte. – Ich fühlte tief meine nunmehrige Bestimmung und nahm mir fest vor, mich ihr ganz zu weihen, des Vaters Arbeit zu übernehmen und ihm sein schweres Leben zu erleichtern. Es war eine schwere Aufgabe für den jungen 21jährigen Mann, die ganze große Praxis des Vaters – denn er hatte die stärkste, nicht bloß in der Stadt, sondern auch auf dem Lande bis an die Harzgrenze von Thüringen – zu übernehmen, und sie ist mir auch herzlich schwer geworden. Die Jahre, wo andere Jünglinge noch reisen oder das Leben genießen, sind für mich unter schwerer, oft kaum zu überwältigender Arbeit, Sorge und Anstrengung verflossen. Aber auch dafür danke ich Gott und erkenne es als weise Führung. Denn erstens habe ich dadurch den mit nichts zu vergleichenden Trost und Zufriedenheit für mein ganzes Leben erhalten, meinem lieben Vater die letzten Jahre seines Lebens erleichtert und versüßt zu haben und ihm dadurch wenigstens einen Teil meines Dankes und meiner Schuld für seine großen Wohltaten abzutragen. Ich glaube, es hat mir Segen gebracht für mein ganzes Leben; denn die Schrift sagt: Des Vaters Segen bauet den Kindern Häuser. Anderenteils[59] wurde es für mich die herrlichste Schule, unter seiner erfahrenen, echt hippokratischen Leitung meine erste Praxis zu üben, und ich habe dadurch wohl mehr gelernt und bin besser zum Praktikus gebildet worden, als wenn ich alle Länder und alle Hospitäler Europas durchreist wäre.

Mein medizinischer Eintritt war nicht sehr glücklich. Merkwürdig genug erkrankten gerade an dem Tor, durch welches ich eingezogen war, zwei Personen, ein Schmied und seine Frau, an einem Faulfieber, übergaben sich meiner Kur und starben beide. Dieses schlug mich etwas nieder und hätte es als ein böses Omen betrachtet werden können. Aber ich führe es ausdrücklich an, um das Gegenteil zu beweisen, denn ich habe zehn Jahre mit vielem Glück in Weimar praktiziert.

Ich lebte nun im Hause ein ruhiges, stilles Familienleben, mit dem Vater, vier Schwestern (die älteste war als Witwe wieder nach Hause zurückgekehrt) und dem Bruder Fritz, der 12 Jahre jünger war als ich. Das Leben außer dem Hause, der größte Teil des Tages, war desto geräuschvoller und unruhiger für mich. Meine Lebensordnung gestaltete sich nun bald in folgender Weise, die nachher die Ordnung für mein ganzes[60] Leben geblieben ist. Die Morgenstunde – ich stand früh auf, im Sommer halb sechs Uhr, im Winter sechs Uhr – war dem Geiste geweihet, dem stillen Nachdenken, dem eignen produktiven Arbeiten (denn früh ist der Geist am reinsten und produktivsten, am meisten sich selbst gleich, am wenigsten gestört und getrübt durch das Irdische, und daher reinerer und höherer Eingebungen fähig, auch ist es die einzige Zeit, wo der Arzt noch ungestört ist. – Die Stunden im Sommer von fünf, im Winter von sechs bis acht Uhr, sind daher durch mein ganzes Leben die einzigen geblieben, in denen ich schriftstellerische Arbeiten gemacht und alles geschrieben habe, was ich geschrieben, und das ist nicht wenig.) Von neun Uhr bis abends sieben bis acht Uhr der Welt, das heißt den praktischen Geschäften (in der Folge auch den akademischen); – der Abend dem Herzen zum Genuß des häuslichen Familienkreises.

Mein praktisches Leben in Weimar war in der Tat viel mühseliger, als es sich mancher praktische Arzt jetzt denken kann. Nicht allein nämlich mußte ich von früh bis abends zu Fuße herumlaufen, denn Weimar gehört zu den Mittelstädten, zu klein, um darin herumzufahren, und doch zu groß, um zu Fuß sich nicht recht sehr zu ermüden; sondern es kam nun noch die Landpraxis[61] dazu. Bald schickte ein Pächter, bald ein reicher Bauer oder ein Landpastor oder ein Gutsbesitzer einen Wagen oder nur ein Pferd, oft ein schlechtes, um ihn zu besuchen; zuweilen vier bis fünf Meilen weit, am häufigsten jenseits des Ettersberges, nach Schwerstädt, Krautheim, Vippach, Brembach, Cölleda, Beichlingen, Wiehe, Heldrungen bis Mönchpfiffel, wo ich dann bei den damaligen abscheulichen Wegen und im Winter oder Frühjahr bei Tauwetter oft in Lebensgefahr geriet. Und das Allerbeschwerlichste war, daß ich zugleich, nach der damaligen fast allgemein herrschenden Sitte, die Arznei selbst geben und also zum Teil den Apotheker machen mußte. Wenn ich also mit den Krankenbesuchen fertig war, so mußte ich nun noch Dekokte, Pulver, Pillen machen und selbst dispensieren, und, was mir noch beschwerlicher war, abends 9 Uhr, oft mit völlig ermüdetem und erschöpftem Körper, mich hinsetzen und in die Krankenbücher die täglich verabreichten Arzneien eintragen, um zu Ende des Jahres oder der Krankheit die Rechnung machen zu können. Doch hatte dieses wieder den Vorteil, daß ich zugleich genötigt war, täglich mein Krankenjournal ordentlich zu führen. Auch hatte das Selbstdispensieren manche Vorteile. Ich lernte die Arzneikörper weit besser kennen,[62] konnte mich selbst von ihrer Güte und Echtheit überzeugen, war sicher, daß bei der Zubereitung nichts versehen wurde, und, was ein Hauptvorzug des Selbstdispensierens ist, auch bei der Zubereitung hatte ich oft noch einen glücklichen Einfall von dem oder jenem Zusatz (wie ein Koch von der oder jener Würze), der die Wirksamkeit erhöhte. Nicht zu gedenken des unendlich größeren Zutrauens, womit der Kranke die Arznei unmittelbar aus der Hand des Arztes empfing, und man weiß, wieviel dies zur Wirkung beiträgt. – Genug, es war in aller Hinsicht eine höchst vortreffliche praktische Schule, durch die ich in diesen ersten zehn Jahren ging, und ich genoß so die beste Vorbereitung für meine nachherige akademische Laufbahn, von der ich freilich damals noch nichts ahnte.

Ich war abends oft so erschöpft und von Sorgen niedergedrückt, daß ich wünschte: es möge die letzte Nacht sein. – Perfer et obdura, dolor hic tibi produit olim, das rief ich mir dann zu.

Es ist gewiß eine der Hauptbeschwerden des praktischen Arztes, keinen Augenblick sicher für sich zu haben; selbst die Nacht ist nicht sein, und hierin genießt der geringste Hozhauer einen Vorzug, der abends nach getaner Arbeit Feierabend machen, seine Tür schließen[63] und nun sicher auf Ruhe rechnen kann. Aber zwei große Folgen für das Innere entspringen daraus; einmal, daß der große Gedanke, die Basis des ganzen Christentums – nicht für sich, sondern für andere zu leben – immer lebendig in seiner Seele erhalten und immer praktisch ins Leben gerufen wird, – zweitens, daß er sich gewöhnt, nie mit Gewißheit auf etwas – auch nicht auf Freuden und Genüsse zu rechnen, – eine Eigenschaft, die in diesem unsicheren Erdenleben überhaupt sehr nützlich ist. Ich erinnere mich zum Beispiel, daß ich in dem damals sehr vollkommen gewordenen Theater sehnlichst die damals neue schöne Oper »Azur und Zemire« zu hören wünschte und dreimal schon Billetts dazu gekauft hatte, aber jedesmal durch unvorhergesehene praktische Geschäfte abgehalten wurde. Also was man so gewöhnlich Freuden nennt, die genoß ich wenig. Meine einzige Erholung und Aufheiterung war, außer den stillen häuslichen Stunden mit Vater und Geschwistern, die Beschäftigung mit der Wissenschaft und der Umgang mit einigen Freunden und geistreichen Menschen.

Was das erste betraf, so hatte ich noch große Liebe für Physik, besonders die Lehre von der Elektrizität, und für Naturwissenschaften von Göttingen mitgebracht.[64] Ich setzte meine Versuche mit der Elektrizität fort und stellte dann Versuche mit dem Hedysarum gyrans an, wovon mir mein Freund Groschke aus England mitgebracht hatte. Außerdem benutzte ich die auserlesene praktische Bibliothek des Vaters zum Studieren. Was das zweite betraf, so war ich so glücklich, des Umgangs der damals Weimar zierenden großen Geister Wieland, Herder, Goethe, Schiller zu genießen, ja ihr Arzt zu sein, sie so noch viel genauer kennen zu lernen. Aber mir näher traten vier, Bode, Bertuch, der Arzt Buchholz, Musäus; besonders die beiden ersten; sie wurden, obgleich älter, meine wahren Freunde und wirkten viel auf mich. Bode, der bekannte vortreffliche Übersetzer von Yorick Sterne, war einer der merkwürdigsten Menschen. Seinen Anfang hatte er als gemeiner Regimentspfeifer gemacht, war dann Buchdrucker und Buchhändler in Hamburg geworden, durch eigene Anstrengung wissenschaftlich und Schriftsteller, Freund von Claudius und Klopstock, zuletzt des Minister Bernstorff, und nach dessen Tode Hausverwalter und Gesellschafter seiner Witwe, mit der er in Weimar lebte. Er war von großem, starken, kräftigen Körper, grundehrlich, offen und wahr, gerade, freisinnig[65] in allen Beziehungen; dabei voll Geist und Witz, der ganz die Tristram Schandysche Manier angenommen hatte. Dadurch erwarb er sich in Weimar einen großen Einfluß, am meisten auf junge Leute, die er gern an sich zog. Natürlich war seine Wirkung auf mich jungen Mann sehr groß, und auch er bewies mir besondere Auszeichnung und Liebe. Seine Hauptstärke war damals der Kampf gegen den Katholizismus und Jesuitismus (der sich in Deutschland, besonders in Berlin, sehr wirksam zeigte, und von Nicolai und Biester bekriegt wurde), und Reformationen der Maurerei. Damit vereinigte sich nun das Eingehen in die Freiheitsideen und der Kampf gegen Despotismus, der damals in Frankreich vorbereitet wurde; auch Mirabeau lernte ich bei ihm kennen. Er zog mich natürlich in das Interesse aller dieser Gegenstände. Er wollte nur die Maurerei benutzen zur Bekämpfung des Jesuitismus und Despotismus, und gründete dazu als höheren Grad den Illuminaten-Orden, woran er mit Weishaupt und Knigge tätig arbeitete. Auch ich ward darin aufgenommen und glaubte damit Gott und der Wahrheit einen Dienst zu tun. Auch kann ich versichern, daß auf dem Standpunkt, auf welchem ich stand, nur auf Selbsterkenntnis, Aufklärung, Reinheit[66] der Gesinnung und Sitten hingearbeitet wurde, und ich diesem recht viel Gutes für meine innere Ausbildung verdanke. Besonders war die zur Pflicht gemachte Führung eines Tagebuches und Notierung aller Gedanken und gelesenen Stellen, die einen besonderen Eindruck auf mich gemacht hatten, von vielem Nutzen.

Der zweite Mann, dem ich hier ein Dank- und Ehrendenkmal zu setzen habe, ist Bertuch. Er meinte es redlich und gut mit mir und wirkte durch seine mannigfaltigen Kenntnisse, ausgebreiteten Bekanntschaften, Mitteilung literarischer Erfahrungen und Neuigkeiten und unermüdete Regsamkeit und literarisch-technische Tätigkeit auch aufregend auf mich, und Aufregung von außen und nach außen bedurfte mein Geist.

Und so wurde das damalige Athen von Deutschland besonders ein Athen für mich, und ich kann es nicht anders als eine Gnade Gottes und einen Haupteinfluß auf meine fernere geistige Entwicklung betrachten, in diesen hellen geistigen Elementen die ersten zehn Jahre meiner geistigen Entfaltung und Hervortretens in die Welt verlebt zu haben.

So entwickelte sich auch meine Liebe zur Schriftstellerei, die vorher schon immer embryonisch in mir gekeimt[67] hatte, zur Tat. Die erste Veranlassung gab das Unwesen, welches damals Mesmer in Wien mit seinem Magnetismus angefangen, und was sich aus ihm nach Frankreich verpflanzt hatte, und was von da aus uns wieder mit Pamphleten überschüttete. Manche Aufschlüsse, die mein Freund Reinhold, der damals von Wien kam, darüber gab, Bertuchs Aufmunterungen und literarische Hilfsmittel, meine gesunde Lichtenbergsche Physik und die durch Bode, Nicolai und Biester damals aufgeregte Furcht vor Jesuitismus und Aberglauben – alles dieses drängte mich, öffentlich dagegen aufzutreten und das Ungründliche, Unphysische in der Sache aufzudecken, und alles auf Täuschung der Sinne durch Phantasie, ja selbst die Sinnlichkeit, zurückzuführen. Ich glaubte dadurch der Wissenschaft, der gesunden Vernunft, ja selbst der wahren Religion und Aufklärung einen Dienst zu tun. So entstand mein erster literarischer Versuch, der Aufsatz »Mesmer und sein Magnetismus«, der im Jahre 1785 im Deutschen Merkur abgedruckt wurde. Wieland war darob so zufrieden, daß er mir ein sehr schmeichelhaftes Billett nebst zehn schönen glänzenden Dukaten schickte. Man kann sich die Freude eines jungen Autors darüber denken, und[68] dieses Zeugnis eines hohen Meisters trug nicht wenig dazu bei, meine Luft und meinen Mut zu fernerer Schriftstellerei zu stärken. Das Folgende war meine Abhandlung »Über die Ausrottung der Pocken«, wozu ich die Absonderung, ebenso wie bei der Pest – damals das einzige denkbare Mittel – vorschlug. Eine damals in Weimar grassierende, höchst bösartige Pocken-Epidemie veranlaßte mich, meine Beobachtungen darüber sowie über die Inokulation, die ich damals häufig ausübte, niederzuschreiben, die manche meiner Ansichten und Erfahrungen enthielt. Dies war mein erstes Buch, das ich 1787 bei Göschen in Leipzig drucken ließ. Mit großer Schüchternheit und Bescheidenheit; ich war höchst zufrieden, einen Louisd'or für den Bogen zu erhalten. Aber um so überraschender war der Beifall, den es allgemein erhielt, besonders eine sehr vorteilhafte Rezension in der Allg. Lit. Zeitung von Fritze in Halberstadt, und ich freue mich noch, zu sehen, daß meine Grundsätze, die ich damals aussprach, noch jetzt die wahren und allgemein anerkannten sind. – Ich habe sie aber auch, wie alles, was ich in meinem Leben geschrieben habe, nicht aus meinem Kopfe, sondern aus der Natur und Erfahrung entnommen, wie ich überhaupt nie die Feder irgend eines äußeren Zweckes[69] wegen angesetzt habe, sondern immer nur, wenn ich so von einem Gegenstande und meiner Überzeugung erfüllt war, daß ich durch inneren Antrieb gedrängt wurde, mich darüber auszusprechen.

Ein anderer Gegenstand nahm mich hierauf auf das lebhafteste in Anspruch, »Die Sorgen für die Scheintoten und die Errichtung eines Leichenhauses in Weimar«. Franks Ideen hierüber hatten mich begeistert. Ich schrieb hierüber eine Abhandlung für das Publikum, »Über die Ungewißheit des Todes«, und hatte die Freude, zu sehen, daß sie allgemeine Bewegung und Teilnahme in Weimar hervorbrachte, und besonders durch die Mitwirkung der edlen Gräfin Bernstorff (Witwe des berühmten dänischen Staatsministers) eine Subskription zustande kam, welche zur Errichtung des ersten Leichenhauses in Weimar zureichte.

Auch die Beobachtung der schönen Selbstbewegungspflanze, die den Namen Hedysarum gyrans führt und wovon ich einige Erempiare aus Samen in meinem Zimmer gezogen hatte, und die merkwürdigen, noch immer nicht erklärten, Tag und Nacht fortdauernden balancierenden Bewegungen ihrer Seitenblättchen beschäftigten mich auf ein ganzes Jahr hindurch auf das[70] Lebhafteste, gaben Gelegenheit zu einer Menge von Versuchen mit Elektrizität etc., und zu tiefem Nachdenken über Leben und Reizbarkeit als Prinzip der Lebenstätigkeit, und veranlaßte endlich eine Schrift darüber, worin ich zuerst die Ideen aussprach, die ich nachher weiter ausbildete. Aber ich war so bescheiden, dieselbe zuerst ohne meinen Namen in Voigts Magazin der Physik abdrucken zu lassen.

Hier darf ich aber nicht unerwähnt lassen, daß schon in den letzten vier Jahren meines Weimarischen Lebens die Grundideen meiner Makrobiotik und Pathogenie sich in mir erzeugten und in den frühen Morgenstunden von mir niedergeschrieben wurden. Den ersten Anstoß zur Makrobiotik gab mir Bacons Historia vitae et mortis, und meine Ideen und Leben und Lebenskraft bildeten sich aus von Beobachtung der Natur im gesunden und kranken Zustande, besonders aber des Eies, der Samen und der Germination, sowohl im vegetabilischen als animalischen Organismus, – sowie auch die Ideen von der Aufzehrung der Lebenskraft durch das Leben selbst und angewendet auf einzelne Funktionen, Krankheiten, Krise, die Schwäche als natürliche Folge des Nachlasses durch die Überreizung und Selbstaufzehrung, und so hatte ich schon damals[71] die ganze Idee von der damals von Brown genannten indirekten Schwäche, lange vorher (1787 bis 1790) ehe man noch wußte, daß ein Brown in der Welt war.

Ich muß hier noch ein Wort von meinem Stil sagen, den man, wie ich in der Folge gehört habe, gut gefunden, und dem man besonders das Lob der Klarheit und Bestimmtheit erteilt hat, und sagen, wie ich glaube dazu gekommen zu sein. Zuerst, daß ich mich beständig bestrebt, klare und bestimmte Begriffe von allen Dingen in meiner Seele zu bilden. Zweitens, daß ich besonders die römischen Autoren und vor allen den Cicero in meiner Jugend studiert hatte; denn das, glaube ich, ist der Hauptvorzug der römischen Sprache, daß sie den Jüngling nötigt, bestimmt, kurz und energisch zu denken, und auch den Gedanken so auszudrücken. Selbst der Periodenbau hilft dazu und hilft zugleich in der Logik. Sehr viel hat mir auch dazu das Studium der Rhetorik (Ernestis Initia) und des Quintilianus geholfen, worauf der gute Heinze viel hielt. Drittens mag nachher die Beschäftigung mit der klassischen französischen Literatur viel beigetragen haben, dem Stil mehr Geschmeidigkeit zu geben. Und endlich ist gewiß noch ein Hauptgrund[72] dieser, daß ich nie schrieb, ohne ganz von meinem Gegenstand erfüllt zu sein, und das Geschäft des Schriftstellers als etwas Hohes und Heiliges zu betrachten, ja als das Höchste, weil er ja hier nicht bloß zur Gegenwart, sondern auch zur Nachwelt spricht, und mir auch dies immer zum Hauptgesichtspunkt machte: nie bloß an die Gegenwart, an das Interesse des Tages oder der Mode zu denken, sondern die Sache höher und für alle Zeiten zu fassen.

Am 13. März 1787 starb mein Vater an einem Frieselfieber im 57. Jahre. Sein Ende war selig wie sein Leben, und noch sehe ich, wie die Morgensonne gleich nach seinem Hinscheiden (es erfolgte morgens) so schön und ans Auferstehen erinnernd ins Zimmer schien. – Dieser Todesfall machte einen Abschnitt im Leben. Ich wurde nun selbständig, sowohl in der Praxis als in bürgerlichen und ökonomischen Verhältnissen. Es lag vieles auf mir und ich bat Gott innig um seinen Beistand. Wir Geschwister beschlossen einig zusammen im väterlichen Hause fortzuleben.

Aber ich sah wohl ein, daß ich nun aus Heiraten denken mußte, und, außerdem der Sehnsucht meines Herzens nach einem zweiten Herzen, waren es zwei[73] Gründe, die mich trieben, die Ausführung zu beschleunigen. Der eine war die unangenehme und oft verlegene Stellung des praktischen Arztes, wenn er ledig ist, der andere, die mancherlei unangenehmen und kritischen Lagen, in welche ein junger Mann, der heiratsfähig und gern gesehen ist, in Beziehung auf junge Mädchen und ihre Familien kommt, mit allen den Rücksichten, nicht zu beleidigen und mich auch nicht zu sehr zu nähern, besonders bei meiner Gewissenhaftigkeit, die mir immer als höchst strafbar erscheinen ließ, einem weiblichen Herzen Hoffnungen zu erregen, die man nicht erfüllen wollte.

Meine erste Neigung wurde mir nicht gewährt, obwohl alles dazu geeignet schien. Es trat ein Freund aus der Ferne dazwischen, es entstand ein schmerzlicher Freundschaftskampf und ich opferte der Freundschaft meine Liebe. – Da erschien aus fernem Gebirge ein junges, unschuldiges, heiteres, höchst liebenswürdiges Landmädchen in Weimar, die ich, da sie im Hause des Bergrats Voigt lebte, fast täglich sah und kennen lernte. Sie gewann mein Herz. Ich dankte Gott, mir hier ein reines unverdorbenes Herz, im Gegensatz der vielen Verbildeten, zugeführt zu haben. Sie war aber erst 16 Jahre alt, und mein Plan war,[74] unsere Verbindung noch wenigstens ein Jahr aufzuschieben und sie noch in einem guten Hause vollkommen ausbilden zu lassen. Aber ihr Vater, ein rascher lebhafter Mann, voll Freude über die glückliche Verbindung seiner Tochter, hatte uns gleich bei der ersten Nachricht aufgeboten, kam persönlich nach Weimar und drang auf die eheliche Verbindung, welche auch im November 1787 geschah.

Merkwürdig war übrigens das Fehlschlagen menschlicher, besonders väterlicher Pläne in Bezug auf mein Leben in Weimar. Der liebe Vater hatte natürlich keinen lieberen Wunsch, als seinen Sohn dereinst am Hofe als seinen Nachfolger als Leibarzt zu sehen, welches schon der Großvater gewesen war. Er tat alles Mögliche dazu. Aber was geschah? – Die älteste Tochter des Herzogs, ein Kind von eineinhalb Jahren, bekam einen Anfall des Asthma acut. Mill., ich besuchte und besorgte sie, und sie starb am dritten Tage. Dies konnte natürlich nicht viel Zutrauen zu dem jungen Arzt erregen. – Die Herzogin-Mutter wird tödlich krank an einer Lungenentzündung. In der größten Not wird Hofrat Stark von Jena berufen. Er wagte am elften Tage noch ein Brechmittel, und sie genas. Dies gab ihm natürlich das größte[75] Vertrauen und vereitelte des Vaters Hoffnungen für die Zukunft für mich. Ich war und blieb Hofmedicus mit 100 Thlr. Gehalt. Der Kummer über diese fehlgeschlagene Hoffnung trug gewiß viel zu des Vaters frühem Tode bei. – Aber wie herrlich haben sich Gottes Wege in der Folge entfaltet, und wie hat sich gezeigt, daß gerade das scheinbare Unglück das Mittel zu meinem Glück war. – Die Vorsehung hatte mich zu einem höheren und größeren Wirkungskreis bestimmt, von dem ich freilich damals nichts ahnte. Wäre ich aber in Weimar am Hofe glücklich gewesen und Leibarzt geworden, so wäre ich da fest geblieben und hätte nie als Lehrer, als Schriftsteller für die Wissenschaft, für die Welt, für einen größeren Staat das wirken können, was ich gewirkt habe.

So lebte ich also in meinen beschränkten Verhältnissen zufrieden, ruhig und tätig fort, keine Pläne für die Zukunft machend, bemüht, einen jeden Tag gehörig anzuwenden und meine Pflicht als Arzt zu tun. Gott allein überließ ich die Sorge für die Zukunft. Ich schrieb in mein medizinisches Tagebuch:


Der Menschen Leiden zu versüßen,

Das höchste Glück ganz zu genießen,

Ein Helfer, Tröster hier zu sein,[76]

Dies, Gott, laß mich bei allen Sorgen,

Bei Tages Last, an jedem schwülen Morgen,

Gerührt empfinden, ganz mich weih'n

Zu helfen, trösten, zu erfreu'n!


Was meine religiöse Denkart betrifft, so lebte ich freilich in Weimar fast unter lauter sogenannten starken Geistern und solchen, welche nichts glaubten, sondern stolz darauf waren, sich, wie sie sagten, von allen religiösen Vorurteilen und Aberglauben frei gemacht zu haben. Auch ich nahm den Teil von allem, was nicht wesentlich war. Aber die Hauptsache blieb, der Glaube an Gottes Wort. An dies allein hielt ich mich, ja, ich konnte im Innern eine wahre Freude empfinden, wenn ich andere in Zweifeln und philosophischen Sophistereien begriffen sah und in mir die schöne Sicherheit fühlte, etwas Festes zu haben, an das ich mich halten konnte, was alle Zweifel löste. – Sehr wohltätig war mir auch in dieser Zeit das Lesen von Stillings Jugend zur Stärkung des Glaubens und des kindlichen Vertrauens auf Gott, wofür ich dem Verfasser noch im Grabe danke. – Auch Herders Predigten voll Würde und Salbung und voll göttlichen Geistes und erhabenen Ideen trugen nicht wenig dazu[77] bei, meine Seele immer mehr zu Gott zu erheben und im Christentum zu veredlen.

Während ich nun so ruhig in meinem Berufe fortlebte, ereignete sich im Herbst 1792 ganz unerwartet ein Zufall, der meine ganze künftige Bestimmung, ja mein Leben änderte, und der folglich kein Zufall war. Goethe hielt alle Freitage eine Gesellschaft gebildeter Menschen beiderlei Geschlechts, eine Art von Akademie, wo nach der Reihe jeder etwas zur Unterhaltung vortrug. Die Reihe kam auch an mich und ich las ein Fragment über das organische Leben aus meinen Arbeiten über Makrobiotik vor. Der Herzog war gegenwärtig, und gleich nachher sagte dieser zu Goethe: »Der Hufeland paßt zu einem Professor, ich will ihn nach Jena versetzen.« Dies wurde mir wieder gesagt. Ich fühlte nun zum erstenmal, daß ich dazu im Innern Neigung und Anlage hatte, ich erkannte zugleich in diesem ganz ohne mein Zutun von außen an mich ergangenen Antrag eine Fügung und Berufung von oben, und der Entschluß war gefaßt. Freund Loder tat alles Mögliche, um den Übergang zu erleichtern, und zum nächsten Frühjahr wurde der Überzug festgesetzt.[78]

Quelle:
Hufeland. Leibarzt und Volkserzieher. Selbstbiographie von Christoph Wilhelm Hufeland. Stuttgart 1937, S. 58-79.
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