Professor in Jena 1793–1801

[79] So trat ich also, durch höhere Macht geleitet und auch durch sie gestärkt, Ostern 1793 mein Lehramt in Jena als Professor ordinar. honorar. mit nicht mehr als 300 Taler Gehalt, aber der Hoffnung, durch die Honorare der zahlreichen medizinischen Studierenden das übrige zu erwerben, an. Außer dem Vertrauen auf Gott stärkte mich eine innere Stimme, die mir sagte: daß die vielen Erfahrungen und neuen Ideen, die ich über Leben, Kunst und Wissenschaft seit zehn Jahren gesammelt hatte, und von denen ich ganz erfüllt und zur Mitteilung gedrängt wurde, mein Wirken nützlich und segensreich für die Bildung der Jugend und Weiterförderung, ja neue Gestaltung dieser Wissenschaft machen werde, denn es waren mir wirklich viele neue Ideen aufgegangen, die in die Betrachtung des Lebens und in die Kunst einen höheren Einheitsgesichtspunkt brachten, nämlich: die Idee des Lebens, und dieser alles unterordneten. Ich hatte in diesem Sinne schon mehrere Jahre Fragmente für die künftige Makrobiotik und Pathogenie niedergeschrieben, die ich nun zu meinen Vorlesungen benutzte.

Meine Vorlesungen fanden mehr Beifall, als ich erwartet hatte und verdiente, besonders die Makrobiotik,[79] die ich in dem großen Auditorium vor bis 500 Zuhörern öffentlich vortrug, und die, wegen ihrer moralischen Tendenz, die sie auf die Jugend haben mußte, mir viel Freude machte und Segen brachte. Außerdem las ich spezielle Therapie täglich zwei Stunden (in einem halben Jahre das ganze), Semiotik mit Therapia generalis und Clinicum, so daß ich täglich vier Stunden lesen, die klinischen Kranken besuchen und meine Vorträge täglich erst ausarbeiten mußte. Das alles zu leisten, stand ich alle Morgen um 5 Uhr auf, und hatte ein sehr angreifendes Jahr, besonders im Winter, wo die Früharbeit bei Licht meine Augen sehr schwächte. – In der Folge trug ich noch abwechselnd Pathologie und Materia medica vor, so daß ich alle Teile der Medizin nach meinen Grundsätzen bearbeitete. Meine Privatvorlesungen hatten 80 bis 100 Zuhörer, voll von Eifer und Fleiß für die Wissenschaft, – es war ein herrlicher Geist unter der Jugend. Es wurde dadurch das scheinbar Unmögliche möglich. Das Klinikum wurde mit 300 Taler, die ich dazu erhielt, dennoch so vollkommen besorgt, daß jährlich 600 Kranke behandelt und 50 junge Leute praktisch beschäftigt wurden – freilich durch die Verwendung ihrer Honorare für das Institut.[80]

Hierzu kam nun noch der freundliche Empfang eines schönen Kreises hochgebildeter Kollegen und Freunde: Loder, Stark, Batsch, Fichte, Griesbach, Paulus, Hufeland, Schiller, zu denen in der Folge sich noch Schlegel und Schelling gesellten.

Im Jahre 1705 gab ich meine Pathogenie, 1796 meine Makrobiotik heraus, wovon die erste in der wissenschaftlichen, die zweite in der populären Welt einen sehr vorteilhaften Eindruck machte, und von denen die letztere in alle europäischen Sprachen (englisch, französisch, italienisch, spanisch, polnisch, schwedisch, russisch, serbisch) übersetzt wurde.

Zu gleicher Zeit fing ich auf Zureden des Buchhändlers Seidler das Journal der praktischen Heilkunde an, welches ebenfalls einen so glücklichen Fortgang hatte, daß es durch mein ganzes Leben hindurch fortgedauert hat, und außer dem wissenschaftlichen Nutzen für Aufrechthaltung einer erfahrungsmäßigen Medizin (im Gegensatz der hypothetischen) auch für mein Ökonomisches eine gute Stütze in der Not und eine Hauptquelle meines Vermögens wurde, da ich mir es zum Grundsatz machte, die Einkünfte davon nicht auszugeben, sondern zurückzulegen. Die Folge von alle dem war eine große allgemeine Berühmtheit,[81] weit weit über mein Verdienst, was ich auch, Gott sei gedankt, immer dabei fühlte. Und davon waren wiederum die Folgen auswärtige Vokationen, die sich in den Jahren 1797–1798 fast drängten. Erst als Professor nach Kiel, dann nach Leipzig, dann als Leibarzt nach Rußland, vom Kaiser Paul, endlich als Professor nach Pavia an Franks Stelle und von ihm empfohlen. Ich schlug sie alle aus, weil es mir in Jena wohl ging, aus Dankbarkeit gegen mein Vaterland und weil der Ehrgeiz mich nicht beherrschte; in Rußland besonders auch deswegen, weil ich dann an die Person eines launischen Monarchen gefesselt und von aller wissenschaftlichen Verbindung getrennt gewesen wäre. Pavia und das schöne Italien mit 4000 Taler Gehalt und vier Monaten Sommerferien hatten den größten Reiz, und dennoch lehnte ich sie ab, einmal weil ich noch zu deutsch fühlte und mich verpflichtet hielt, das, was ich sei, meinem Vaterlande vor allen Dingen zu opfern, dann weil ich den Katholizismus, besonders für meine Kinder, fürchtete, und endlich, weil eine Invasion von Napoleon und langwierige Kriege zu fürchten waren, was auch eintraf. Doch machte ich die Bedingung: meinen Gehalt von 300 auf 600 Taler zu erhöhen und ein kleines Krankenhaus für das Klinikum eingerichtet zu bekommen.[82]

Es war offenbar der höchste Glanzpunkt meines Lebens; aber eben deswegen der gefährlichste für meine Eitelkeit, für die Aufregung des Übermutes, des Stolzes und der Selbstsucht, sowie überhaupt für mein besseres Ich. – Und wie wunderbar, wie weise, wie gnädig sorgte hier die Vorsehung durch unerwartete, zum Teil höchst schmerzhafte Ereignisse, mich davor zu bewahren, und mich in der Demut, der Bescheidenheit und der Entsagung zu üben.

Das erste war die Erscheinung des Brown'schen Systems, durch Weikard, Röschlaub auf die heftigste, zum Teil unanständigste Weise gegen alle Andersdenkende in Deutschland gepredigt, und durch seine Konsequenz, scheinbare Wahrheit, große Einfachheit und Leichtigkeit bei jungen Leuten viel Glück machend. – Es verwundete mich tief, einmal weil es die wahre gründliche Wissenschaft, Naturansicht und Erfahrung geradezu zerstörte und in der Praxis einen falschen, ja höchst gefährlichen Weg lehrte. Zweitens weil es mir geradezu mein persönliches Verdienst in der Wissenschaft raubte, indem es das, was ich mein Eigentum nennen konnte – zuerst und lange vor Brown den Gedanken und das Bestreben gehabt und öffentlich ausgesprochen zu haben, die ganze Medizin[83] unter ein Prinzip, das Prinzip des Lebens oder der Lebenskraft zu bringen, und so Einheit in den verschiedenen Teilen derselben zu begründen, und den Unterschied von Solidar- und Humoralpathologie, Materialisten und Dynamisten gänzlich aufzuheben – jetzt allein dem Engländer Brown zuschrieb, der es aber höchst einseitig nur unter dem Namen Inkitabilität aufgestellt hatte, und ihn dadurch als den Reformator und Restaurator einer neuen höheren Medizin pries – ein Irrtum, der leider noch bis auf den heutigen Tag sich in den deutschen Kompendien und vielen Köpfen erhalten hat. Drittens weil dadurch die Jugend so betört wurde, daß sie die Ohren für die Stimme der Erfahrungslehre verschloß und sich blindlings dem neuen Irrtum ergab. So machte es mich sehr unglücklich, wenn ich nun, nachdem ich sie anfangs meist gebildet hatte, sie haufenweise nach Wien und Bamberg eilen und sich unter Franks und Marcus Leitung dem verderblichen Brownianismus hingeben sah. Schließlich kam noch die Kränkung hinzu, daß ich von Röschlaub öffentlich mit allem, was ich schrieb und geschrieben hatte, auf das pöbelhafteste behandelt und herabgewürdigt wurde.[84]

Das zweite war ein körperliches Unglück, ein plötzliches Erblinden auf dem rechten Auge. Am 20. November 1798 war ich bei sehr kalter nasser Witterung im offenen Wagen zu einem Kranken (Herrn v. Seckendorf) drei Stunden weit gefahren und abends 8 Uhr sehr durchkältet und durchnäßt zurückgekommen. Hier fand ich das eben herausgekommene Gedicht Goethes »Hermann und Dorothea«, fiel darüber her, durchlas es bis fast Mitternacht mit großer Anstrengung meiner Augen, schlief dann bis 7 Uhr, und als ich erwachte, war ich in dieser Nacht auf dem rechten Auge völlig blind geworden, ich sah da nichts als eine dunkelgraue Wolke. Es war offenbar Amaurosis a Metastasi rheumatica et nimia intentione nervi optici. Meine Freunde Loder, Stark, Bernstein taten alles zur Hebung des Übels, aber alles war vergebens; ich beschloß endlich, ein halbes Jahr die Augen gar nicht anzustrengen, machte eine Reise nach Doberan, Pyrmont, Hänlein am Rhein (ein Gut, das ich gekauft hatte), brauchte das Seebad und Pyrmont, aber alles war vergebens. Mein Auge blieb blind, ist es bis auf den heutigen Tag (den 4. Juni 1831) geblieben, und Gott hat mir dennoch das andere Auge so erhalten, daß ich in den 30 Jahren noch viel habe tun können.[85] Aber freilich damals machte dieses Unglück einen großen Eindruck und hatte einen entschiedenen Einfluß auf mein ganzes Leben und künftiges Schicksal. Ich mußte nämlich mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen, daß ich auch das andere Auge verlieren würde. Die erste Folge war, daß meine literarischen und praktischen Arbeiten gänzlich unterbrochen wurden (der zweite Band der Pathologie blieb dadurch zurück), die zweite, daß ich mich für die Zukunft darauf einrichten mußte, als blinder Mann noch nützlich zu sein, und dies konnte nur als Lehrer und Schriftsteller geschehen. Die dritte, daß ich mich nun fremder Hilfe, zum Vorlesen und Diktieren, bedienen mußte, und dies war der Grund, weshalb ich junge Studierende (Harbauer und Bischoff) zu Hausfreunden und Hausgenossen aufnehmen mußte. – Ich war so glücklich, dem Kummer nicht zu unterliegen, sondern mich bald wieder zu ermannen, meine Kraft zu sammeln und im Vertrauen auf Gott meine Geschäfte, wenn auch schwieriger und unvollkommener, fortzusetzen. Ich bin überzeugt, hätte ich mich dem Gram und den Tränen hingegeben, wie so viele tun, ich hätte das andere Auge auch verloren.

Außerdem hatte auch mancher stille Kummer des Herzens und Mangel seiner Befriedigung mich längst[86] dahin gebracht, auf alles irdische Glück zu verzichten und mich ganz dem höheren geistigen Leben zu widmen, ja den wirklichen Übergang in jene Welt als ein Glück zu betrachten.

So fand mich das Jahr 1800, nicht mehr feurig, noch weniger übermütig, sondern ziemlich niedergebeugt und bekümmert, dazu auch die äußere Lage nicht mehr ermunternd und erfreuend, denn durch die französische Revolution und den sich auch in Deutschland regenden Jakobinismus und Sansculottismus war bei den Monarchen großes Mißtrauen, besonders gegen Gelehrte und Akademien, entstanden, und selbst unser trefflicher Fürst – durch mehrere freie Außerungen der Jenaischen Professoren und durch die bei jungen Leuten so leicht zu erregenden Freiheitsideen (Marseiller Lieder usw.) etwas von seiner früheren Liebe für Jena abwendig gemacht – besuchte uns nicht mehr, die versprochenen und begonnenen Verbesserungen blieben aus, und ich insbesondere konnte das mir versprochene und so nötige Krankenhaus nicht erhalten, sondern mußte es sehen, daß, wenn eines errichtet werden sollte, solches Stark, der als Leibarzt in Weimar mehr persönlichen Einfluß hatte, zu Teil werden würde. – Schon verbreitete sich ein Mißbehagen unter den Professoren[87] und schon war Fichte, durch seinen unglücklichen Atheistenprozeß veranlaßt, nach Berlin abgegangen. – Alles dies machte mich immer mehr mißmutig und ließ mich für die Zukunft nichts Erfreuliches erwarten.

Da erschien ganz plötzlich und unerwartet ein Ruf nach Berlin an Selles Stelle als Leibarzt, als Direktor des Collegium med. und erster Arzt der Charité mit 1600 Talern Gehalt. – Ich verdankte ihn, wie ich nachher erfuhr, außer meinem literarischen Rufe, der Empfehlung Beymes, der mich bei des Königs Besuch in Weimar im vorigen Jahre persönlich kennen gelernt hatte. In meiner jetzigen innern und äußern Lage konnte mir dieser Antrag nicht anders als ein Ruf von oben, als eine gnädige Fügung des himmlischen Vaters erscheinen, besonders da er so ganz ohne mein Zutun erfolgte. In Jena trübten sich die Aussichten für die Zukunft; hier öffnete sich mir ein großer erfreulicher Wirkungskreis: ein großes Krankenhaus, wo ich als klinischer Lehrer mehr Nutzen stiften konnte, ein weniger beengtes Leben, ein liberaler, unter einer neuen Regierung neu aufblühender Staat, und, was für meine individuelle Lage und als Familienvater besonders wichtig war, in einer großen Stadt eine schöne Aussicht in die Zukunft für mich und meine Kinder.[88]

In diesem Sinne war der Entschluß bald gefaßt. Ich legte mein Lehramt nieder, dankbar gegen den Fürsten, der mich darauf gesetzt, und gegen die Akademie, die mich acht Jahre lang so freundlich und ehrenvoll gepflegt hatte, und trat mit neuem Mut die neu eröffnete Bahn an.

Meinem Beispiel folgten nachher mehrere der ausgezeichnetsten Lehrer, Loder, Paulus, Schelling, Hufeland, so daß es einer Emigration ähnlich war.

Während meines Aufenthalts in Jena wurden mir zwei liebe Kinder geboren, Julie in Jena und Laura am Rhein, wohin sich ihre Mutter wegen sehr geschwächter Gesundheit begeben mußte.

Durch meine literarischen Arbeiten, besonders die Makrobiotik und das Journal, hatte ich so viel gewonnen, daß ich ein Kapital von 10000 Talern besaß, welches ich zum Ankauf des Gutes Hänlein an der Bergstraße zu 30000 Gulden rhein. verwendete, das ich mir als Asyl für mein Alter dachte. Aber was sind des Menschen Berechnungen! Wie ganz anders ist es gekommen! Achtzig Meilen davon, im Tiergarten bei Berlin, habe ich dieses Asyl gefunden.[89]

Quelle:
Hufeland. Leibarzt und Volkserzieher. Selbstbiographie von Christoph Wilhelm Hufeland. Stuttgart 1937, S. 79-90.
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