Aufenthalt in Memel vom 11. Januar 1807 bis 15. Januar 1808

[98] Wichtiger Abschnitt meines Lebens! Nach einem sechsjährigen unaufhörlichen tumultuarischen, größtenteils in Tag und Nacht anstrengenden Berufsarbeiten, teils auch in Sinnengenuß und eitlen Weltzerstreuungen verbrachten Leben, wo selten eine Stunde ruhiger Sammlung und frommer Erhebung des Herzens möglich war – nun plötzlich in gänzliche Abgeschiedenheit[98] von allem äußeren Leben, sowohl Geschäfts als Sinnenrauschs; selbst abgeschieden von denen, die meinem Herzen am nächsten standen, Frau und Kindern; umgeben vom Unglück, ja von einem Weltsturm, der selbst den Staat und das Königshaus, dem ich angehörte, mit allem irdischen Besitz zu verschlingen drohte; dazu noch durch ein zunehmendes Augenleiden beschränkt auf meine kleine einsame Zelle, war ich da, ohne alle literarische Unterhaltung, da ich noch überdies bei den nordischen langen Nächten durch meine Augenschwäche bei Licht zu lesen und zu arbeiten verhindert wurde! Dem allen gesellte sich nun noch – das größte Unglück meines Lebens! – die nicht bloß durch irdische Verhältnisse, sondern durch heilige, durch Gottes Gesetz selbst (ohne welches ich mich nie dazu würde haben entschließen können) gebotene und zur unumstößlicher Pflicht gemachte Trennung von meiner Gattin nach 18jähriger Ehe und mit 7 Kindern! Da fühlte ich, was es heißt: »Wer nie sein Brot mit Tränen aß, der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.« – Ich lernte wieder die höhere himmlische Macht kennen, übergab mich ihr ganz und mein einziger Trost und Rettung war Dichten, d. h. meine[99] Gefühle und Gebete in Versen auszusprechen, und das Lesen der Bibel, denn sie und Schillers Gedichte waren die einzigen Bücher, die ich mitgenommen hatte.


Zum ersten Mal seit meiner Jugend (also seit 30 Jahren) las ich wieder das Wort Gottes vom Anfang bis zu Ende durch, und ich fühlte die Kraft Gottes, und auch zugleich, wie wichtig es ist und unentbehrlich, daß man beides, erst das Alte, dann das Neue Testament liest, um die Verbindung und gegenseitige Unterstützung beider, und so die Kraft Gottes ganz zu empfinden. Mein Glaube wurde von neuem erweckt, gestärkt, christlich befestigt. Es entstand dadurch mein Religionsunterricht für meine Kinder, den ich zugleich als mein eigenes Glaubensbekenntnis niederschrieb. – Zu dem allen sendete mir Gottes Gnade einen Engel des Trostes in der Person der teuren Frau C. zu – eine so reine, fromme, kindliche Seele und durch gleiches Unglück mir zugewendet und verbunden, ein Herz, was mich ganz verstand. O wie viel verdankte ihr mein so ganz verwaistes Herz! Fast Beseligung, Erhebung, Veredelung, und dann die höchste Prüfung und Befestigung im Glauben durch die schmerzlichste freiwillige Entsagung.[100]

Sehr schön vereinigte sich hiermit der tägliche Anblick, ja ich kann sagen der Umgang des edlen Königspaares, dessen Standhaftigkeit, Ergebung und Seelengröße im größten Unglück, in der größten Erniedrigung, die ein mächtiges Herrscherhaus erfahren kann, jedem fühlenden Herzen rührend, erhebend sein mußte, und immer an ein höheres Leben als das höchste Irdidische in ihm erinnerte und durch sie darstellte.

Nie werde ich den Moment vergessen, wo die edle Königin den Befehl vom Könige erhielt, auch nach Tilsit zu kommen, um wo möglich noch vorteilhaftere Friedensbedingungen von Napoleon zu erhalten. Dies hatte sie nicht erwartet. Sie war außer sich. Unter tausend Tränen sagte sie: »Das ist das schmerzhafteste Opfer, was ich meinem Volk bringe, und nur die Hoffnung, diesem dadurch nützlich zu sein, kann mich dazu bringen.«

Mein Leben war sehr einfach, still und geregelt. Früh und vormittags Arbeit und einige Besuche. Mittags an des Königs Tafel. – Gegen Abend eine Stunde lang bei der Königin zum Tee und abends in meiner stillen Zelle.[101]

Quelle:
Hufeland. Leibarzt und Volkserzieher. Selbstbiographie von Christoph Wilhelm Hufeland. Stuttgart 1937, S. 98-102.
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