Flucht nach Preußen / Exilium in Memel und Königsberg

[94] Am 14. Oktober 1806 war die unglückliche Schlacht bei Jena, den 16. hatten wir nichts als Siegesnachrichten davon in Berlin und feierten mit Fichte abends ein frohes Siegesmahl. Den 18. früh 6 Uhr ward ich aufs königl. Palais zur Königin gerufen, die eben in der Nacht vom Schlachtfelde angekommen war. Ich fand sie mit verweinten Augen, aufgelösten Haaren, in voller Verzweiflung. Sie kam mir mit den Worten entgegen: »Alles ist verloren. Ich muß fliehen mit meinen Kindern und Sie müssen uns begleiten.« Dies sagte sie mir um 6 Uhr und um 10 Uhr saß ich im Wagen, nachdem ich in aller Eile nur das Notwendigste geordnet, meine Kranken übertragen und meine Arbeitsstube verschlossen hatte. Es war ein harter Kampf und eine schwere Stunde. Aber die heilige[94] Pflicht gebot, denn auch die Prinzeß Wilhelm, deren Arzt ich war, und die jeden Augenblick ihre Niederkunft erwartete, mußte fliehen und auch diese konnte ich nicht verlassen. Die Pflicht gebot dem Manne seinem Beruf treu zu folgen, der Frau das Haus und die Kinder zu bewahren. So machte ich meine Anordnung: Julie sollte ruhig während des Kriegs zu Hause bleiben und die Kinder, davon das jüngste erst 1 Jahr alt war, bewachen; aber, um dem ersten Einfall der Franzosen in Berlin zu entgehen, den man gefährlich glaubte, sollte sie solange, bis die französische Armee weiter vorgerückt wäre, in Stargard bleiben und dann ruhig nach Berlin zurückkehren. Aber sie handelte leider anders. Statt nur bis Stargard zu reisen, reiste sie mir mit sämtlichen Kindern (mit Ausnahme Eduards) bis Königsberg nach, wodurch nachher viel Not und Unglück entstand.

Ich folgte treu meiner Pflicht, begleitete Prinzeß Wilhelm in beständiger ängstlicher Erwartung der Niederkunft bis nach Danzig, wo sie niederkam. Das Kind kam mit Krämpfen zur Welt (die natürliche Folge der zuletzt ausgestandenen Not und Angst) und starb den 9. Tag unter Krämpfen. Die einzige noch lebende Tochter Amalie, eineinhalb Jahr alt, legte sich[95] nun auch, bekam ein heftiges Nervenfieber, und, als ich am 8. Tage desselben, wo die Gefahr eben etwas nachzulassen anfing, abends bei ihr saß, bekam ich einen Kurier von Königsberg, augenblicklich zur Rettung des Prinzen Karl, der auch vom Nervenfieber ergriffen, zu eilen. Ich machte mich sogleich auf den Weg, setzte bei stürmischem Novemberwetter bei Pillau über das Meer – ich mußte die Matrosen mit Gewalt zum Übersetzen zwingen, weil sie die Gefahr des Sturmes fürchteten – kam des Nachts um 2 Uhr in Königsberg an und fand den Prinzen im Zustande eines Sterbenden, ohne Besinnung, Puls 120, Krämpfe, Diarrhöe, den 7. Tag des Fiebers. Ein warmes Kräuterbad allein konnte retten, aber es war bei der höchsten Schwäche mit Lebensgefahr verbunden; doch ohne Rücksicht auf den Erfolg und meinen Ruf, nur der Pflicht: alles zu tun, was zur Rettung möglich war, folgend, entschied ich mich. Das Bad wurde genommen und Gott segnete es. Von dem Augenblick an mäßigte sich das Fieber, der Kopf wurde freier und die Krämpfe ließen nach; der Anfang der Besserung war gemacht.

Es wurden fast alle Emigranten von dieser Krankheit ergriffen, ich war den ganzen Tag, auch Nächte, am Krankenbette, sehr angegriffen, ein Wunder, daß[96] ich frei blieb! Endlich ergriff der böse Typhus auch unsere herrliche Königin, an der alle Herzen und auch unser Trost hing. – Sie lag sehr gefährlich darnieder, und nie werde ich die Nacht des 22. Dezembers vergessen, wo sie in Todesgefahr lag, ich bei ihr wachte und zugleich ein so fürchterlicher Sturm wütete, daß er einen Giebel des alten Schlosses, in dem sie lag, herabriß, während das Schiff, welches den ganzen noch übrigen Schatz und alle Kostbarkeiten enthielt, auf der See war. Indes auch hier ließ Gottes Segen die Kur gelingen, die Kranke fing an sich zu bessern. Aber plötzlich kam die Nachricht, daß die Franzosen heranrückten. Sie erklärte bestimmt: »Ich will lieber in die Hände Gottes als dieser Menschen fallen«. Und so wurde sie den 8. Januar 1807 bei der heftigsten Kälte, bei dem fürchterlichsten Sturm und Schneegestöber in den Wagen getragen und 20 Meilen weit über die Kurische Nehrung nach Memel transportiert. Wir brachten 3 Tage und 3 Nächte, die Tage teils in den Sturmwellen des Meeres, teils im Eise fahrend, die Nächte in den elendsten Nachtquartieren zu – die erste Nacht lag die Königin in einer Stube, wo die Fenster zerbrochen waren und der Schnee ihr auf das Bett geweht wurde, ohne erquickende Nahrung –[97] so hat noch keine Königin die Not empfunden! – Ich dabei in der beständigen ängstlichen Besorgnis, daß sie ein Schlagfluß treffen möchte. – Und dennoch erhielt sie ihren Mut, ihr himmlisches Vertrauen auf Gott aufrecht, und er belebte uns alle. Selbst die freie Luft wirkte wohltätig, statt sich zu verschlimmern, besserte sie sich auf der bösen Reise. Wir erblickten endlich Memel am jenseitigen Ufer, zum ersten Mal brach die Sonne durch und beleuchtete mild und schön die Stadt, die unser Ruhe- und Wendepunkt werden sollte. Wir nahmen es als ein gutes Omen an.

Quelle:
Hufeland. Leibarzt und Volkserzieher. Selbstbiographie von Christoph Wilhelm Hufeland. Stuttgart 1937, S. 94-98.
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