In ruhigen Bahnen / Drohende Erblindung / 1820–1831

[120] Mein äußeres Leben blieb sich gleich. Berufsarbeiten, Vorlesungen, Klinik, Ministerialgeschäfte, Konsultationen,[120] arme Kranke, die Gesundheitssorge für den König und die königliche Familie, literarische Arbeiten, Fortsetzung meines Journals, stille Abendunterhaltungen, Umgang mit einigen Freunden, Mittwochs ein größerer Zirkel, füllten auf die angenehmste und befriedigendste Weise meine Zeit aus, und so ging ein Tag nach dein andern mit Frieden im Innern und Tätigkeit nach Außen, sich gleich, hin. – Des Königs Gnade und Vertrauen wendete sich mir immer mehr zu, und so hatte ich das Glück, selbst bei seiner zweiten Verheiratung, und noch mehr bei dem Übertritt seiner Gemahlin zur evangelischen Religion als Vertrauter mitzuwirken. Nur zu sehr suchte er mir seine Huld durch äußere Gnadenbezeugungen zu erkennen zu geben und brachte mich selbst dadurch in Verlegenheit. – Zuerst durch Orden. Von jeher waren mir diese äußerlichen Auszeichnungen zuwider. Ich konnte sie – nicht als Zeichen der Tugend und des Verdienstes, denn diese dürfen nicht zur Schau getragen werden, – sondern nur als Zeichen meiner Treue und Anhänglichkeit an meinen Herrn betrachten und gelten lassen. Daher hatte ich alle Ordenszeichen anderer Monarchen abzulehnen gesucht, oder sie nicht getragen, denn sie erschienen mir nur als Dekorationen,[121] die nicht für Männer, sondern für Weiber passen. Aber das Ordenszeichen meines Königs trug ich als Sinnbild meiner Treue gern und beständig. – Nun wollte aber seine Gnade mich und meine Kinder in den Adelsstand erheben. Dies setzte mich in große Verlegenheit, denn hier mußte ich nicht bloß für mich, sondern auch für meine Kinder entscheiden, und die Verantwortlichkeit sowohl des Adligseins als Nichtadligseins eines ganzen Geschlechts auf mich nehmen. Ich überlegte es vor Gott und meinem Gewissen und die Entscheidung war: du darfst den Adel nicht annehmen, wenn auch nicht deinet-, doch deiner Kinder und Nachkommen wegen.

Die Hauptgründe dagegen waren: 1. Es wird dadurch den Kindern mit dem Blute das Prinzip des Stolzes eingepflanzt, sich mehr und höher, ja wirklich aus anderem Blute bestehend zu denken, folglich andere geringer zu achten, als sich, – gerade das Gegenteil von dem, was das Christentum lehrt. 2. Ebenso wird ihnen mit dem Blute das Prinzip der Rache eingeflößt, keine Beleidigung der sogenannten Ehre ungerochen zu lassen, sondern sie nur mit dem Blute, ja dem Leben des Beleidigers zu vergelten und auszulöschen. 3. Ebenso das falsche Prinzip der Adelsehre, der Gegensatz der[122] Ehre, die vor Gott gilt, indem sich mit jener Ausschweifung, Ehebruch, Schuldenmachen (also Stehlen) recht gut verträgt. 4. Die darauf gegründete Pflicht des Duellierens, welches doch immer, wenn es unglücklich ausfällt, ein absichtlicher Mord bleibt. – Alles dies Prinzipien und Verpflichtungen, die geradezu den göttlichen und christlichen Geboten entgegengesetzt sind. – Außerdem lehrt noch in irdischer Rücksicht die Erfahrung und liegt in der Natur der Sache, daß adlige Jungens weniger lernen, als bürgerliche, auch weniger Aussicht haben, durch ein ehrliches Gewerbe oder Handwerk ihr Brot zu verdienen, und adlige Mädchen weniger Aussicht zum Heiraten haben. Endlich hielt ich es auch für meine Pflicht, den ehrlichen Bürgerstand, in welchem ich geboren ward, zu ehren, und ihm das bißchen Ehre und Verdienst, was ich etwa in der Welt erworben, zuzuwenden. Also in Gottes Namen schlug ich es aus, und fühlte mich in meinem Gewissen recht erleichtert und beglückt, meinen Kindern und Nachkommen diesen ungöttlichen und unchristlichen Keim nicht eingepflanzt zu haben. Auch hatte ich die Freude, von ihnen völlige Übereinstimmung zu erhalten.[123]

Zuletzt muß ich noch die zweite bedeutende Zunahme meiner Blindheit, im Herbst 1830, erwähnen. Nachdem meine liebe Frau eine schwere Krankheit, bei der Gott mein Gebet erhört hatte, glücklich überstanden, bemerkte ich mit einem Mal, nach starker Anstrengung und Blendung meiner Augen, daß mir das Lesen schwerer wurde und die Buchstaben zur Hälfte verschwanden. Es machte mich anfangs sehr traurig, denn ich sollte nun des besseren Teils meines Lebens, der stillen Unterhaltung mit den Geistern der Toten und Abwesenden, »des Lesens«, beraubt sein. Aber auch hier half mir meine gute Gabe mich zu gewöhnen, das Vorlesen meiner lieben Frau, und daß ich doch noch schreiben konnte und durfte. –

Eine Angelegenheit, die mich noch auf meinem Sterbebette erfreuen wird, war die Angelegenheit des griechischen Volkes, bei der ich ganz unverdient und so unbedeutend als ich war, dennoch durch den Segen der Vorsehung ein recht wirksames Werkzeug zur Hilfe und Rettung wurde.

Die Not dieses armen Volkes war auf das äußerste gestiegen. Eben war Missolunghi auf die gräßlichste Weise gefallen und Tausende von Hilflosen waren in Gefahr zu verhungern, verlassen von aller Welt, selbst[124] von ihren Brüdern, den Christen, der Wut der Barbaren preisgegeben. Die Strenge der Politik verbot in den öffentlichen Blättern etwas zu ihrem Besten (als Rebellen) zu sagen. – Da ergriff mich eines Morgens das Menschlichkeitsgefühl so heftig, daß ich, alle Rücksichten überwindend, einem edlen, dafür Sinn habenden König es aussprach, und ihn bat, zu erlauben, daß ich eine Subskription zur Unterstützung der notleidenden Griechen eröffnen dürfe. Er erlaubte es. Ich hatte des Königs Wort, und so überwand ich alle späteren Einwendungen der Minister. Ich ließ, vereint mit Strauß, Ritschl und Streckfuß, einen Aufruf in die Zeitungen setzen, und er wirkte wie ein elektrischer Schlag auf ganz Deutschland, er gab dem lange unterdrückten Mitleidsgefühl Freiheit zur Tat. – Es kamen nach und nach so viel Beiträge zusammen, daß wir eine halbe Million Franken nach Griechenland senden konnten, und so wurden durch Gottes Beistand, durch ein so schwaches Werkzeug, durch einen glücklichen Augenblick – ich möchte es lieber höhere Eingebung und Rührung nennen – nicht allein viel Tausend Unglückliche vom Hungertode errettet, sondern auch (wie mir einsichtsvolle Diplomaten versichert haben), durch die nun sich allgemein aussprechende öffentliche[125] Meinung mächtig auf die Politik der Kabinette gewirkt, und mir das Bewußtsein, wesentlich zu der günstigen Wendung der griechischen Sache beigetragen zu haben. –


Und so schließe ich nun diesen Lebensbericht heute den 8. Juli 1831, nahe dem 70. Jahre, ruhig und ohne Lebenssorgen, sitzend auf meinem schönen Landhause im Tiergarten bei Berlin, um noch mit so viel Gesundheit und Lebenskraft den Menschen nützlich sein zu können, umgeben von guten frommen Kindern und glücklichen Enkeln. – Anbetend dankend blicke ich zurück auf Gottes unendliche unverdiente Gnade, die Er über mich ausgegossen hat. – Mein Lauf ist vollbracht, und ich harre mit Freuden auf den Augenblick, wo ich meinen Geist in die Hände dessen zurückgeben kann, von dem ich ihn erhielt. Möge er Seiner würdig befunden werden! – Ich hoffe darauf im Namen und im Glauben an Jesum Christum den Gekreuzigten, Auferstandenen, zum Vater Zurückgekehrten und mit ihm Eines seienden. Amen! –[126]

Quelle:
Hufeland. Leibarzt und Volkserzieher. Selbstbiographie von Christoph Wilhelm Hufeland. Stuttgart 1937, S. 120-127.
Lizenz:
Kategorien: