Zeitbegebenheiten

[27] Auf dem großen Septembermarkt in Königshofen an der Tauber durfte ich mir kolorierte Bilderbogen kaufen und erfuhr daraus als Knabe zuerst von den Welthändeln der zwanziger Jahre, von den türkischen Greueln und den Heldentaten der Griechen und Russen in den Freiheitskämpfen der Griechen und dem Russisch-Türkischen Kriege von 1828/29. Natürlich schlug mein Herz für die christlichen Brüder.

Das Jahr 1830 brachte große Aufregung unter die Honoratioren des Amtsbezirks Boxberg, denn die Luft war gewitterschwanger, und in Europa folgte eine Revolution der andern. Nach der Julirevolution der Franzosen kam der Abfall der Belgier von Holland und der Aufstand der Polen.[27]

Die Eingeborenen in Boxberg und der ganzen Umgegend nahmen an den politischen Ereignissen kaum teil, sie verhielten sich stumpf dagegen. Während der größte Teil des Großherzogtums in lebhafte Bewegung geraten war, blieb das Land zwischen Neckar und Main fast unberührt von den welterschütternden Vorgängen. Der ehemalige badische Main- und Tauberkreis, der 1834 aufgehoben und mit dem Neckarkreis zu dem heutigen Unterrheinkreis verschmolzen wurde, stand, wenn wir etwa Wertheim ausnehmen, an Wohlstand und Bildung hinter den übrigen Teilen des Großherzogtums zurück. Obwohl es ihm nicht an fruchtbarem Gelände und lieblichen Tälern und Höhen fehlt und die Hügel an Main und Tauber einen guten Wein erzeugen, so betrachteten doch viele Beamte diesen Landesteil als das badische Sibirien und sehnten sich wie Verbannte daraus weg. Seine Bewohner, ostfränkischen Stammes, standen an geistiger Begabung nicht tiefer als die Rheinfranken und Alemannen in den andern Teilen des badischen Landes, aber sie lebten abseits vom großen Verkehr, und ihre politische Vergangenheit war eine schlimmere.

Kaum irgendwo im ganzen Heiligen Römischen Reich lagen so wie zwischen Main und Neckar geistliche und weltliche, große und kleine Herrschaften bunt durcheinander, und fast nirgends vielleicht war der Bauer so schutzlos der Willkür der Bischöfe, des hohen und niederen Adels preisgegeben. Die mächtigsten Herren waren die Bischöfe von Mainz und Würzburg und der Pfalzgraf vom Rhein, von den kleinen die schlimmsten die Ritter von Rosenberg auf der Feste Boxberg. Die malerischen Ruinen dieser Burg, worin ich mich als Knabe mit den gleichaltrigen Gespielen so oft und gerne tummelte, sind von der Höhe über dem Städtchen verschwunden; ihre Steine dienten zum Bau des Stationsgebäudes, das in dem nahen Wölchingen an der Bahn von Heidelberg nach Würzburg liegt.

In ewigen Fehden machten die gebietenden Herren einander und alle zusammen den Bauern das Leben sauer.

Solche Zustände machen es begreiflich, warum gerade im Taubergrund schon 1476 der Pfeifer von Niklashausen den Kommunismus predigte, bis ihn der Bischof von Würzburg[28] verbrennen ließ. – Fünfzig Jahre nachher erhob zu Ballenberg bei Krautheim der wilde Metzler das Banner des Bundschuhs. Bei Königshofen kam es am 2. Juli 1525 zwischen dem wohlgeführten Adel und dem zuchtlosen Bauernheere zur entscheidenden Schlacht. Der Truchseß von Waldburg vernichtete die Macht des Bundschuhs und hielt auf dem Schlachtfeld ein furchtbares Blutgericht. Wie Wolfgang Menzel in seiner Geschichte der Deutschen (Bd. 3, S. 53) nach dem Berichte von Hormayr erzählt, ließ der Bauernjörg, so hieß er beim Volk, die Gefangenen in der Reihe niederknien, und sein »lustiger Knecht Hans« ging hinter ihnen mit dem Richtschwert auf und ab. Der Truchseß fragte, wer von ihnen beim Aufruhr gewesen sei. Keiner gestand es. Wer von ihnen die Bibel gelesen habe? Mehrere sagten ja, und jedem, der es bejahte, schlug der lustige Hans den Kopf ab, unter lautem Gelächter der Junker. Ebenso jedem, der lesen und schreiben konnte.

Nach diesem blutigen Tag war das Volk in die alte Knechtschaft gesunken. Es begann erst unter der badischen Herrschaft aus seiner Erstarrung langsam aufzutauen, doch zogen die Bauern noch in den dreißiger Jahren, wenn ihr Geschäft sie an dem Amtshaus in Boxberg vorbeiführte, demütig die Mütze, auch wenn der Herr Amtmann nicht am Fenster stand. Noch immer regierte der Stock. Zuweilen sahen wir Kinder vor dem Amtshaus die Pritsche herrichten. Dann eilten wir herbei, neugierig und besorgt, wir könnten das Schauspiel verfehlen. Ein armer Sünder wurde vom Büttel vorgeführt, aufgebunden und mit der ordnungsmäßig verfügten Zahl von Hieben bedacht. Sie trafen denjenigen Teil des Leibs, den die Natur – nach dem alten Glauben der Pädagogen – mit den innigsten Beziehungen zu den Organen der Sittenlehre ausgestattet hat.

Äußerlich erstarb der Bauer in Demut, aber es hieß von dem Taubergründer und Odenwälder im Bauland: »Er red't nit aus.« Der Haß glimmte versteckt im Innern fort, wider den Junker, dem er Zehnten und Gülten entrichtete, und wider den Juden, der dem Bauern in Handel und Wandel, Listen und Schlichen weit überlegen war.[29]

Während der Julirevolution hielt sich das Land zwischen Main und Neckar ruhig, aber 18 Jahre nachher, als der Thron Louis Philipps im Februar 1848 in Trümmer ging, da durchbrach der verhaltene Groll die festen Schranken, die ihm die Staatsgewalt bisher gesetzt hatte. Was nirgendwo sonst im Großherzogtum geschah, ereignete sich dort. Haufen Vermummter zogen von Ort zu Ort, von Schloß zu Schloß, erbrachen die Archive, verbrannten die Gültenbriefe und Urkunden und plünderten die Juden.

Wunderlicherweise begab sich auch wieder ein Götz von Berlichingen, ein Nachkomme des alten Götz, ein Mannheimer Schulkamerad und Heidelberger Studiengenosse von mir, ein ritterlicher junger Herr, zu den aufrührerischen Bauern. Was er ausrichtete, habe ich nicht erfahren.

Besser weiß ich Bescheid, wie es einem Studiosus Schloeffel erging, der gleichfalls von Heidelberg zu den Bauern gereist war, aber nicht um Ordnung zu stiften, wie der Sprosse des alten Rittergeschlechts, sondern um den Aufruhr zu schüren. Er war der Sohn des wütenden schlesischen Demagogen Schloeffel, hatte anderthalb Jahre zuvor, während ich Assistent an Pfeufers medizinischer Klinik war, am Typhus darin gelegen und war dem Tode mit Mühe entronnen. Von daher kannte ich ihn persönlich und wußte, daß er wie sein Vater ein fanatischer Republikaner war. Zufällig traf ich ihn nach meiner Heimkehr von Prag und Wien im März unterwegs im Eilwagen auf der Strecke von Heidelberg nach Wiesenbach, wo wir uns trennten; ich fuhr nach Sinsheim, er nach Mosbach. Ich erriet den Zweck seiner Reise und warnte ihn, obwohl er mir sein Vorhaben nicht eingestand. Er lächelte überlegen, als ich ihm prophezeite, die Bauern würden ihn packen und den Gendarmen überliefern, denn sie stünden treu zur badischen Regierung. Es kam, wie ich voraussah. Die Bauern ergriffen ihn und übergaben ihn den Gendarmen, die ihn zurück nach Heidelberg ins Gefängnis brachten. Er blieb nicht lange in Haft, wurde amnestiert und freigelassen. – Am 21. Juni 1849 fand er als Adjutant Mieroslawskis den Tod auf dem Schlachtfeld bei Waghäusel.

Quelle:
Kussmaul, Adolf: Jugenderinnerungen eines alten Arztes. München 1960, S. 27-30.
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