Purgierkuren und Blutentziehungen

[176] Die Heilkunst teilt mit den andern edeln Künsten das Los, daß jedem Fortschritt eine Übertreibung auf dem Fuße folgt, die den entgegengesetzten Weg der bisher eingehaltenen Richtung einschlägt. Auf den Vampirismus kam die noch heute herrschende übertriebene Blutscheu, die jedoch ihrem Ende entgegenzugehen scheint. Man geizt mit dem kleinsten Tropfen Blut in lächerlichster Weise. Man hätte in meiner Jugend weit mehr Grund gehabt, schonend damit umzugehen, denn man nährte sich schlechter und sorgte im ganzen weit weniger für die hygienischen Bedingungen unseres leiblichen Wohlergehens. Am schlechtesten war für die weibliche Jugend gesorgt; man bannte sie in das Haus, ließ sie kaum ihre Muskeln durch Turnen, gymnastische Spiele, Schwimmen, Schlittschuh laufen und dergleichen üben, nur sehr allmählich wurde die Erziehung in dieser Hinsicht besser und das Vorurteil überwunden, dergleichen Übungen schickten sich nicht für das weibliche Geschlecht. Die Bleichsucht war deshalb viel häufiger. Nur die Ansprüche der Schule an die männliche und weibliche Jugend sind heute bedenklich hinaufgeschraubt, was zur größeren Vorsicht mit Blutentziehungen mahnen muß, denn die Nervosität auch der höheren Grade ist infolgedessen heute viel verbreiteter als früher; schon damals, wo die Blutentziehungen so wenig gefürchtet wurden, warnten davor die erfahrenen Irrenärzte bei gesteigerter Reizbarkeit des Gehirns.

Das Aderlaßmännlein war schon in meiner Jugendzeit aus den Kalendern verschwunden, worin es einst eine große Rolle gespielt hatte. Es stellte eine menschliche Figur dar, worauf sämtliche Blutadern, die sich zum Aderlassen eignen, eingezeichnet waren; dabei standen Vorschriften, in welchen Monaten das Blut am besten aus dieser oder jener Ader geholt werden solle. In den Köpfen des Landvolks vieler Gegenden aber[176] lebte das Aderlaßmännlein fort, und der Brauch wurde eingehalten, das »abgenützte« Blut von Zeit zu Zeit wegzuschaffen. Man nahm es weg in der Absicht, mit ihm die »Unreinheiten« und »Schärfen« aus den Säften zu bringen und es durch reines und besseres zu ersetzen. Schröpfen und Aderlassen dienten zu Regenerationskuren, wie man sich gelehrt ausdrückt, und da die Welt sich dreht, so beginnt man heute wieder zu der alten Methode, die bei den Bauern am längsten anhielt, zurückzukehren. Was gestern unsinnig schien, gilt aufs neue für Weisheit. Wie vor 60 Jahren gibt es heute wieder unter den Ärzten Lobredner des Aderlasses, sogar bei der Bleichsucht.

Namentlich im badischen Oberlande hielt der Bauer fest an der altherkömmlichen Frühlingskur mit Schröpfen und Aderlassen. Dort haben sich von alters her viele kleine Badekurorte – »Bauernbäder« – erhalten, in die das Landvolk noch heute mit Beginn des Frühjahrs an Sonn- und Feiertagen strömt, der Hofbauer mit der Bäuerin zu Wagen, der kleine Bauer auf Schusters Rappen. In den sechziger Jahren war es noch häufig Brauch bei den Bauern, daß sie zuerst im heißen Bade das Blut nach außen trieben und es dann mit Schröpfen aus der Haut und mit dem Schnäpper aus der Ader holen ließen. Ein reichliches Mahl mit gutem Weine beschloß die Kur und brachte frisches Blut in die leeren Schläuche.

In der Pfalz ging der Bauer, nachdem er den langen Winter hindurch mehr als gut hinter dem Ofen gesessen hatte, wenn die lauen Lüfte wehten und er sich jetzt matt und schwer in den Gliedern fühlte, zum Apotheker. Irgendeine Purganz, besonders das Wiener Tränklein aus Senne und Seignettesalz, verschaffte ihm leichteres Blut und Gemüt; reichte der Trank nicht aus, so mußte der Bader mit dem Schnäpper nachhelfen. – Sein Pfarrer machte es wenig anders. Es gab Pfarrhäuser, wo die Frau Pfarrerin in einem riesigen Topf den Senna-Aufguß bereitete, der die ganze Familie an einem Tag von den aufgehäuften Schlacken des Winters befreite. – Die Gebildeten in den Städten machten Frühlingskuren, gingen einige Wochen lang täglich am frühen Morgen spazieren, tranken dazu lösende Mineralwässer, auch frische Kräutersäfte oder Molken. Gegen[177] Störungen im Blutlauf, Kopfschmerz, Schwindel, Herzklopfen und dergleichen wurden, nach eigenem Ermessen oder auf ärztlichen Rat, nicht selten mit gutem und raschem Erfolge, Blutegel oder Schröpfköpfe angesetzt, häufig auch Blut aus der Ader entnommen.

Die Häufigkeit der verordneten Blutentziehungen erscheint heute unglaublich. – Einer kräftigen Bürgersfrau aus Kandern, die ich persönlich kennenlernte, hatte ihr Hausarzt wegen einer angeblichen Hirnentzündung und daran sich anschließenden Unterleibsentzündung in sechs Wochen siebenmal zur Ader gelassen und 60 Blutegel gesetzt. Sie stand in den Fünfzigern und erreichte ein Alter von 83 Jahren. – Sogar schwächlichen Personen zapfte man oft Blut ab. Ich hörte eine magere Pfarrersfrau in den Vierzigen meinem Vater erzählen, daß man ihr wegen häufig wiederkehrenden Blutspeiens im Laufe der Zeit gegen dreißig Aderlässe gemacht habe. Sie starb an der Schwindsucht im Alter von 52 1/2 Jahren.

In den Heidelberger Kliniken waren Lanzetten und Schnäpper fast täglich in Arbeit. Als Assistenzarzt der Pfeuferschen Klinik mußte ich die Apothekerrechnungen revidieren, sie betrugen für Blutegel jährlich mehr als für die Arzneien, obwohl auch an diesen nicht gespart wurde. Wir Assistenten wurden bald Meister im Aderlassen, heute gibt es Professoren, die nie einen Aderlaß machten oder auch nur machen sahen. – Pfeufer erteilte genaue Vorschriften und lehrte uns mancherlei Kunstgriffe beim Aderlassen; er verwies uns namentlich auf die vorzügliche Schrift von Marshall Hall über Blutentziehungen. Sie enthält auch die Beschreibung der schweren, an hitzige Hirnwassersucht erinnernden Erscheinungen, die namentlich in England infolge unsinniger Blutentziehungen am häufigsten bei Kindern beobachtet wurden.

Der Mißbrauch eines wirksamen Mittels schließt seinen richtigen Gebrauch nicht aus. Man kann sogar mit Brot, Milch, Wasser und andern zum Leben nötigen Dingen, wenn sie zur Unzeit oder unrichtig benützt werden, Kranke umbringen. Vor allen Dingen müßte man die Kaltwasser- und Naturheilanstalten schließen, wenn man die Menschheit vor dem Mißbrauch[178] an sich guter Kurmethoden schützen wollte. Sie schießen unter der Leitung unwissender Pfuscher, die sich hinter dem tönenden Titel von Direktoren verstecken, an allen Ecken und Enden wie Pilze empor und leben von der Leichtgläubigkeit und mangelnden Einsicht des Publikums in biologischen und medizinischen Dingen, gutenteils freilich auch von dem Mißbrauch, den die Ärzte mit dem Rezeptieren treiben. – Hier ist nicht der Ort, darauf einzugehen. Ich will nur zeigen, wie übertrieben die heutige Blutscheu vieler Ärzte und noch mehr der Nichtärzte ist, und deshalb noch einige Erfahrungen aus meinem Leben, zunächst eine aus den Studentenjahren, mitteilen.

Wenn sich bei den Hiebwunden, die es auf der Mensur absetzte, Geschwulst, Schmerz und Fieber einstellten, wie dies vor der antiseptischen Wundbehandlung die Regel war, so nahm Hoffacker, der berühmte Paukdoktor, Blut aus der Armvene. Die Erleichterung war häufig, wie ich an mir selbst erfuhr, auffallend groß und außer Verhältnis zu der vorübergehenden Anwandlung von Schwäche, die der Aderlaß bei einem oder dem andern Studiosus hervorrief. Eine längere Herabsetzung der Körperkraft nach derartigen Blutentziehungen bei Kommilitonen ist nie zu meiner Kenntnis gekommen.

Ich selbst war nicht vollblütig, auch nur von mittlerer Körperkraft und verlor durch einen Aderlaß ein Pfund Blut ohne die geringste unangenehme Wirkung. Eine tiefe Wunde in dem Kleinfingerballen der rechten Hand hatte eine starke Schwellung mit Schmerz und Fieber zur Folge gehabt. Die erste Nacht verlief fast schlaflos, es war mir morgens schlecht zumute, und ich wartete sehnsüchtig auf Hoffacker und seine Lanzette. Er nahm mir zuerst acht, dann auf meine Bitte noch vier, im ganzen zwölf Unzen (ein Pfund alten Medizinalgewichts) Blut aus der Ader. Es wurde mir so leicht im Arm und Kopf, daß ich ihn dringend bat, noch mehr laufen zu lassen, doch ging er nicht darauf ein. Ich verspürte nicht die geringste Schwäche und fuhr vier Tage nachher mit Freuden auf dem Rhein zu einem Kommers nach Bonn hinab.

Einige Jahre darauf, 1847, in Wien, ließ ich mir wegen eines akuten Trachoms mit starker, schmerzhafter Anschwellung der[179] Augenlider wieder ein Pfund Blut nehmen, aber diesmal verspürte ich keine Erleichterung, hatte überhaupt keinen Nutzen davon.

Als die hitzigsten Vorkämpfer der jungen Wiener Schule den Aderlaß aus der Liste der Heilmittel löschten, haben sie das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Er ist allerdings in der Praxis da, wo er früher unbedingt geboten schien, meist entbehrlich, aber unter besonderen Umständen kann seine Unterlassung den Tod eines Kranken verschulden, den kein anderes Mittel so sicher verhütet hätte. Verführt von den Lehren jener Schule, habe ich bei einer Kranken mit äußerst akut auftretender Brightscher Nierenentzündung und rasch anwachsendem Lungenödem meine Zeit mit ableitenden Mitteln auf Darm und Haut verloren, und sie erstickte durch das Wasser, das die Lungen überflutete. In einem ganz gleichartigen Falle bald nachher machte ich, dadurch gewarnt, bei der Sticknot einen kleinen Aderlaß, augenblicklich wurde die Atmung frei, wie durch Zauber, das Eiweiß schwand rasch aus dem Harn, und die Kranke genas in wenigen Tagen. – Ähnliche rasche Erlösung aus Todesgefahr durch drohende Überflutung der Lungen sah ich einige Male bei Personen mit enormer Verengung der rechten Vorhofsmündung und bei Lungenentzündung.

Es braucht meist keine großen Aderlässe, die bei organischen Herzfehlern oder bei geschwächten Personen bedenklich wären, schon kleine von 150–200 g können rettend wirken, es kommt hauptsächlich auf die Raschheit an, womit die Blutmenge gemindert wird. Man muß, wie man uns auf der Hochschule lehrte, die Kranken stets aufrecht setzen, den Schnitt schräg, nicht quer oder der Länge nach, und nicht zu kurz durch die Vene führen, nachdem man die Binde über ihr angelegt hat, auf daß, wenn irgend möglich, das Blut sich im Strahl entleere. Dann kommt es am sichersten zur plötzlichen Verminderung des Blutdrucks und den Erscheinungen, die wir als günstige Zeichen begrüßten: leichte Anwandlung von Ohnmacht, Schweiß und freieres Atmen. Man braucht die beginnende Ohnmacht nicht zu fürchten, sie verliert sich, sobald der Kranke in die Rückenlage gebracht wird.[180]

Quelle:
Kussmaul, Adolf: Jugenderinnerungen eines alten Arztes. München 1960, S. 176-181.
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