Wunderkuren

[170] Unter dem Namen Wunderkuren begreift das Publikum auffallende Heilungen mannigfacher Art.

Bisweilen ist es der Zufall, der Heilungen fertigbringt, die den behandelnden Arzt selbst in Verwunderung setzen und ihm den weder erstrebten noch erwünschten Ruf eines Wunderdoktors einbringen. Eine ergötzliche Geschichte aus der eigenen Praxis hat mir mein Vater erzählt.

Eines Tages kam ein Bote aus einem entfernten Dorfe des Rheintals nach Graben, wo mein Vater damals praktizierte, und verlangte ihn zu einem Bauern, der sich seit einigen Wochen übel fühlte, wenig mehr aß, mager und schwach wurde und das Bett hütete. Die Sache eile nicht, ließ der Kranke sagen, könne mein Vater nicht selbst in den nächsten Tagen kommen, so möge er ihm einstweilen eine Arznei durch den Boten schicken. Mein Vater verschrieb ihm eine Eibischabkochung mit Sirup, die keinesfalls schaden konnte, und machte sich einige Tage nachher auf den Weg zu dem Kranken.

Inzwischen hatte der unschuldige Trank Wunder getan. Der Bauer war außer Bett und ließ sich, als mein Vater bei ihm eintrat, gerade eine gebratene Taube schmecken und trank ein Glas Wein dazu. Er begrüßte meinen Vater vergnügt: »Herr Doktor, das habt Ihr gut gemacht, aber es war eine Roßkur, sie hat mich gründlich ausgefegt und die Krankheit ausgetrieben. Zum zweitenmal brächt ich die Ameisen nicht hinunter, auch blieben noch einige übrig in dem Arzneifläschchen, es steht dort am Fenster.«

Erstaunt betrachtete mein Vater den Rest der Arznei. Sie enthielt große Ameisen. Ihre scharfe Säure oder der Ekel, mit dem sie der Bauer hinabgewürgt, hatte wie ein starkes Brechmittel dem Bauern die Gesundheit wiedergebracht – soviel[170] stand fest. Wie aber waren die Insekten in die Arznei gekommen? Nicht ohne Schwierigkeit gelang es meinem Vater, das Rätsel zu lösen.

Der Bote, der die Arznei geholt hatte, war des Bauern Knecht, der Tag war heiß gewesen, der Knecht müde. Im Schatten eines Föhrenwaldes, den er passieren mußte, ließ er sich nieder, um zu ruhen, nahm die Arzneiflasche aus der Tasche und legte sie zur Seite. Der Schlaf überkam ihn, und als er aufwachte, fand er den Stöpsel ausgetrieben; wie das gekommen, wußte er nicht zu sagen, vielleicht hatte er selbst aus Neugierde ihn herausgenommen und den Trank versucht. Ein kleiner Teil der Arznei war ausgeflossen, aus einem nahen Ameisenhaufen wanderten die Tierchen in langer Prozession zu dem süßen Saft und in die Flasche. Eilig verschloß er die Flasche, steckte sie wieder zu sich und ließ, heimgekehrt, ruhig seinen Herrn, dessen Zorn er fürchtete, die Arznei samt den Ameisen nach Vorschrift stündlich einen Eßlöffel voll genießen.

Auch eine Namensverwechslung kann zur Wunderkur führen, wovon uns Naegele eine lächerliche Geschichte zum besten gab.

An der Heidelberger Hochschule war von 1806 bis 1824 Hofrat Schelver Professor der Botanik. Er befaßte sich neben der Botanik mit magnetischen und Kräuterkuren und stand beim Landvolk im Rufe eines Wunderdoktors. Eines Tages bat ihn eine Bauersfrau um ein Mittel gegen Rheumatismus, ihr Mann habe den »Fluß« im rechten Arm und sei unfähig, ihn zu gebrauchen. Er riet, Hahnenfuß auf den Arm zu binden, und meinte damit den scharfen Wiesenranunkel, aber die gute Frau schlachtete ihren alten Haushahn, schnitt ihm die Beine ab und band sie auf den Arm. Der Fluß heilte, und der Professor erfuhr mit Verwunderung, welche Heilkraft in den Beinen des alten Haushahns gesteckt habe.

Derlei Kuren sind eher wunderliche Kuren als wirkliche Wunderkuren. Das Wunder beginnt erst dann, wenn der Glaube Berge versetzt und scheinbar Unmögliches fertigbringt.

Als Student erlebte ich eine solche Kur in meines Vaters Praxis. Ich ging mit ihm an der Wohnung eines kleinen Handwerkers[171] in Wiesloch vorbei, dessen Frau er an einem unheilbaren Krebsleiden behandelte. Der Mann, ein guter Mensch und meinem Vater aufrichtig zugetan, hatte ihn kommen sehen, lief eilig heraus und lud ihn ein, ins Haus zu treten und sich von der unerwartet erfolgten Heilung seiner Frau zu überzeugen. Es sei ein großes Wunder geschehen. Die Frau habe hinter dem Rücken ihres Mannes einen Wunderdoktor kommen lassen, einen Bauern aus einem entfernten Dorfe, der im Rufe stehe, schon viele in den Augen der Ärzte unheilbare Kranke rasch kuriert zu haben. Der Doktor sei heute dagewesen, habe der Kranken den Leib mit Salbe bestrichen, die Krankheit mit geheimkräftigen Worten besprochen und ihr zuletzt befohlen, im Namen Gottes aufzustehen und zu wandeln. Darauf habe sie das Bett verlassen, was sie seit vielen Jahren nicht mehr gekonnt, und wandle jetzt ohne Stütze durch das Zimmer. Mein Vater ließ mich mit zu der Kranken gehen, das arme Weib, blaß und abgezehrt, stand wirklich frei im Zimmer, blickte verzückt zum Himmel und pries die Gnade Gottes und den Wundertäter, der ihr geholfen habe. – Die Kur half nicht lange. Die ungeheure Aufregung, worin sich die Kranke befand, beschleunigte den tödlichen Ausgang des Leidens, nach wenigen Tagen trug man sie auf den Kirchhof.

Die Psychologie beginnt erst seit kurzem, die Vorgänge im Nervensystem da, wo leibliches und seelisches Geschehen sich verflechten, mit den Strahlen der psychophysischen Untersuchungsmethoden zu beleuchten. Noch immer herrscht hier tiefe Dunkelheit, und es gibt kein Gebiet der Medizin, wo der Aber-und Wunderglaube größere Triumphe feierte als gerade auf diesem. Phantasten und Schwindler treiben hier ihr geschäftiges Wesen, und selbst der ernste Forscher fällt leicht in gefährliche Fallstricke.

Die Rolle, die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts der tierische Magnetismus ausschließlich spielte, muß er heute mit dem Hypnotismus und der Suggestion teilen. Es gelten jedoch auch für diese modernen Kurmethoden die Warnungen, die der welterfahrene Stromeyer im ersten Bande seiner Erinnerungen an die Ärzte richtet. Jedenfalls verstößt die hypnotische Suggestionstherapie[172] gegen einen der obersten Grundsätze in der Behandlung der Nervenkrankheiten: alles zu meiden, was das geschwächte Ich noch mehr schwächt, und nichts zu unterlassen, was es kräftigt und insbesondere den ohnmächtigen Willen aufrichtet. Nur zu leicht macht sie den Kranken zum energielosen Werkzeuge des Hypnotiseurs und zum traurigen moralischen Schwächling. Zu diesem bedenklichen Kurmittel sollte der Arzt nur im äußersten Notfall greifen.

Zu den echten Wunderkuren gehören die meisten Kuren, die als sympathetische bekannt sind. Sie finden noch heute, in dem Zeitalter der großen Entdeckungen auf allen Gebieten der Naturwissenschaft und der Enthüllung so vieler, den Alten unbegreiflichen Geheimnisse, auch unter den Gebildeten häufig Gläubige, ja es scheint, als ob die neu entdeckten und oft verblüffenden scheinbaren Naturwunder gerade unter den Gebildeten der Wundersucht Vorschub leisteten.

Dennoch mag ein und das andere sympathetische Mittel mit demselben Recht eine unbefangene Prüfung verdienen, wie sie die ekelhaften Arzneistoffe des Moschus, Bibergeils, der gepulverten Küchenschabe (Blatta orientalis) gefunden haben und wie sie die heutige, oft überaus kindische Organotherapie findet.

Als ein sympathetisches, der Prüfung nicht unwertes Volksmittel dürfte sich die sog. »Taubenkur« bei den eklamptischen Anfällen der Kinder empfehlen. Das Volk am Ober- und Mittelrhein nennt derlei Krämpfe Gichter, in Bayern Fraisen. Das Verfahren ist einfach. Man preßt den Börzel einer lebenden Taube an den After des gefallenen Kindes; nach kurzer Zeit sollen die Krämpfe aufhören. Ich habe das Mittel einmal in den fünfziger Jahren unter dringenden Umständen, wo mich die Verzweiflung der Eltern in große Verlegenheit brachte, weil verschiedene andere Verfahren völlig versagten, angewendet, und die Krämpfe verschwanden fast augenblicklich. Sie hatten schon einen halben Tag anhaltend fortgedauert, das Schauspiel war äußerst traurig, die Ursache eine tuberkulöse Entzündung der Rückenmarks- und Gehirnhäute, die sich zu einer Karies der Rückenwirbel gesellt hatte. Der Vater war Naturforscher[173] und mir befreundet, ich schlug ihm vor, das unschädliche Mittel zu versuchen. Es waren Tauben zur Hand, man holte ein prächtiges, gut gefüttertes, warmes Tierchen aus dem Taubenschlag und legte es nach Vorschrift an. Nach wenigen Sekunden festen Anpressens, wobei die Taube heftig zitterte, streckte sich der Knabe wie bei Tetanus, und damit hatten die Zuckungen ein Ende, kamen auch bis zum Tode, der nach 24 Stunden eintrat, nicht wieder.

Nicht lange nachher leistete mir eine modifizierte »Taubenkur« eigener Erfindung gute Dienste bei einem alten, von argen »Herzkrämpfen« schon lange heimgesuchten hysterischen Fräulein. Die Dame stammte aus vornehmem Hause und war schon mit 16 Jahren wegen nervöser Leiden nach Heidelberg in die magnetische Behandlung des erwähnten Professors Schelver gebracht worden, doch hatte er wenig ausgerichtet. Die Dame wurde allmählich an den Beinen gelähmt. Sie ließ sich eine kleine Villa in Neuenheim bauen. Als ich zu ihr gebeten wurde, hatte sie ihre Villa seit mehr als 30 Jahren nicht mehr verlassen und seit 16 Jahren nicht mehr das Bett. Nach dem Tode Schelvers war sie homöopathisch behandelt worden, seit einigen Jahren hatte sie keinen Arzt mehr beigezogen. Ein treuer Kreis von Freundinnen scharte sich täglich um die liebenswürdige Kranke, eine von ihnen widmete sich ihr ganz, wohnte bei ihr und besorgte Haus und Küche, nachmittags kamen die andern von Heidelberg herüber. Um drei wurde sie regelmäßig von »Herzkrämpfen« befallen, die Arme litt unsäglich, sie versicherte bestimmt, ihr Herz bleibe oft zehn Minuten lang stehen! Die Freundinnen litten mit ihr, sie umstanden das Bett, die einen jammernd, die andern tröstend, wieder andere hilfreich beispringend mit Kölnischem Wasser, Englischem Riechsalz, zarten Reibetüchern und dergleichen unentbehrlichen Dingen.

Zu dem Kreise dieser barmherzigen Gemeinde fand ein gutmütiger Sachse, ein stud. jur., Zutritt. Die Damen meinten, magnetische Kräfte an ihm zu verspüren, und baten ihn, einen Versuch damit an der kranken Freundin zu unternehmen. Er ließ sich dazu bewegen, es war kein Zweifel, seine Striche[174] wirkten wohltätig auf das gequälte Herz, und von nun an fuhr er jeden Nachmittag mit der Fähre über den Neckar zu der Dulderin, die seinem Fluidum mit Sehnsucht entgegenharrte. Aber er hatte seine Kräfte überschätzt, am Ende des Semesters fühlte der Samariter sich er schöpft und elend, er mußte Heidelberg verlassen und suchte auf Rigi-Kaltbad Erholung.

Bald nachdem der gute Sachse abgereist war, wählte mich eine der Freundinnen zu ihrem Arzte. Sie entdeckte an mir, was ich nicht gewußt, nicht einmal geahnt, magnetische Kräfte und veranlaßte die Kranke, mich zu sich zu bitten. Hier erfuhr ich erst von meinen verborgenen Tugenden und weshalb man mich begehrte. Ich sollte die magnetische Kur, die der Kranken so wohltätig gewesen, aufs neue aufnehmen. Sie flehte mich um Linderung ihres Leidens an und erweckte meine aufrichtige Teilnahme. Ihre edeln und feinen Züge, ihr weiches Silberhaar unter dem weißen Spitzenhäubchen, ihre sanfte Stimme und Duldermiene rührten mich, aber die magnetische Behandlung mußte ich ablehnen. Indem ich erwog, wie ich ihr nützen könne, fiel mir die Taubenkur ein. Ich erzählte ihr von dem Volksglauben, wonach schon die Gegenwart dieser angeblich so sanften Geschöpfe im Krankenzimmer die Nerven beruhige, und was ich kürzlich in der Praxis erlebt hatte. Ich schilderte ihr das Verfahren bei Krämpfen der Kinder, schlug ihr vor, Tauben anzuschaffen und beim Nahen der Herzkrämpfe sie an das Herz, den leidenden Teil, zu pressen. Meine Worte machten sichtlich Eindruck, und ich empfahl mich.

Nach vierzehn Tagen wurde ich wieder gerufen. Als ich die Tür des Krankenzimmers öffnete, gurrte mir ein zärtliches Pärchen Turteltauben entgegen. Die Freundinnen hatten Erkundigungen eingezogen und erfahren, daß von allen Tauben die Turteltauben die meiste beruhigende Kraft besäßen. Die Kranke dankte mir herzlich; mein Rat hatte sich bewährt. Sie hatte dabei eine merkwürdige Beobachtung gemacht. »Ich habe gefunden«, erklärte sie, »daß ein Unterschied zwischen den Tauben besteht, das Männchen übertrifft an wirksamer Kraft das Weibchen merklich.«[175]

Vor kurzem noch erfuhr ich von Verwandten der Dame, die hochbetagt aus dem Leben schied, daß ihr die Taubenkur noch viele Jahre lang Erleichterung gebracht habe.

Quelle:
Kussmaul, Adolf: Jugenderinnerungen eines alten Arztes. München 1960, S. 170-176.
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