Das Salzkammergut

[209] Vom Gaisberg gingen wir an den St. Wolfgangsee herab und nahmen nachmittags in St. Gilgen eine Erfrischung. Jenseits des Sees ragte der Schafberg empor, der Rigi des Salzkammerguts, den wir ersteigen wollten. Er ist 1750 m hoch und bietet eine der schönsten und weitesten Aussichten in den östlichen Alpen. Auf seinem Gipfel stand ein kleines Gasthaus, das später abbrannte und durch ein größeres ersetzt wurde. In St. Gilgen versicherte man uns, das Haus oben sei in diesen Tagen bereits für Gäste geöffnet worden, weshalb wir aufbrachen, obwohl es schon vier Uhr war, in der sicheren Erwartung, dort Unterkunft zu finden. Wir nahmen weder Führer noch Proviant mit.

Nachdem wir über die Hälfte des Wegs zurückgelegt hatten, gingen wir fehl und mußten eine Zeitlang aufs Geratewohl emporsteigen, bis wir bei zwei leerstehenden Sennhütten den richtigen Pfad wiederfanden. Als wir den Gipfel erreichten, war die Sonne am Untergehen, die Aussicht entzückend, das Gasthaus aber verschlossen und noch nicht bezogen.

Unsere Lage war höchst verdrießlich. Nach kurzem Beraten beschlossen wir, sogleich umzukehren, um vor völliger Dunkelheit[209] die Sennhütten, an denen wir beim Aufsteigen vorübergekommen waren, zu erreichen und hier die Nacht zuzubringen. In diesem Augenblick sahen wir einen Arbeiter hinter dem Felsen hervorkommen, einen Mann in den Vierzigern, der als Maurer hier oben zu tun gehabt hatte und sich uns jetzt als Helfer in der Not erwies. Er verfügte über Schwarzbrot, Schmalz und Salz, eine Pfanne, um Suppe darin zu bereiten, und einen Löffel, um sie zu speisen. Wasser war in der Nähe, Becher hatten wir selbst. Bald knisterte ein kleines Herdfeuer zwischen den Steinen, an denen es da oben nicht fehlte, und es währte nicht lange, so konnten wir unsere knurrenden Mägen stillen. Die Nacht war inzwischen hereingebrochen. Unser Wohltäter legte eine Leiter ans Haus, und wir stiegen mit ihm in einen engen Raum unter dem Dach, wo wir in altem Stroh ein Lager fanden. Ein kalter Wind strich durch die Sparren, ich fror, namentlich an den Beinen, trotzdem sank ich in Schlaf.

Als wir uns frühe erhoben, waren meine Knie steif und schmerzhaft, wie im Winter in den ersten Tagen des Rheumatismus. Unter Schmerzen stieg ich mit meinem Freunde nach St. Wolfgang hinab, wo der Maurer wohnte, der uns den Führer machte. Hier mieteten wir ein Fuhrwerk nach Ischl. Ich kam besser davon, als ich erwartete. Nach einer gut durchschlafenen Nacht im warmen Bette fühlte ich mich wohler, nahm noch ein warmes Bad und konnte meinen Freund auf kleinen Spaziergängen begleiten. – Seit dieser Nacht auf dem Schafberg behielt ich viele Jahre eine große Empfindlichkeit in den Knien, sie knarrten und schwollen häufig schmerzhaft an.

Ischl mit seinen berühmten Solbädern war damals der beliebteste Sommeraufenthalt der vornehmen Gesellschaft Wiens. Davon konnte man sich auf Schritt und Tritt leicht überzeugen. An jedem Aussichtspunkt, an jeder Ruhebank, in jedem Pavillon war angemerkt, welche hohe Herrschaften die Stätte ihrer Gegenwart gewürdigt hatten. Irgendeine kaiserliche Hoheit hatte sich über eine schöne Aussicht befriedigt geäußert, eine Durchlaucht auf einer Ruhebank sinnend oder im Lesen verloren gesessen, eine erlauchte Dame den Mokka eines Kaffeepavillons[210] gerühmt, ein hochgeborener Graf in einer Weinschenke sogar zu einem Glase »Heurigen« sich herbeigelassen. Dieser byzantinischen Gesinnung der Ischler entsprang ein kleines Abenteuer, das mich verdroß, meinen Freund dagegen sehr belustigte.

Auf einem unserer kleinen Spaziergänge sahen wir an einer hübsch gelegenen Mühle, mit der ein Gartensaal verbunden war, angeschrieben, daß hier frisches Bier vom Fasse zu haben sei. Wir waren durstig, betraten den Saal und fanden ihn leer; an der Wand leuchtete uns eine Gedenktafel entgegen, worauf geschrieben stand, daß hier ein Erzherzog inkognito ein Glas Bier getrunken habe, aber noch rechtzeitig erkannt worden sei, worauf er geruht habe, die Güte des Bieres gnädigst zu rühmen. Nachdem wir von dieser Begebenheit gebührend Vermerk genommen, läuteten wir, setzten uns an einen bequemen Tisch und legten unsre Hüte auf Stühle neben uns. Mein Klapphut lag so, daß man innen das große Wappen des Pariser Hutmachers mit einer mächtigen goldfarbenen Krone darüber sehen konnte.

Bald erschien eine dienstfertige Alte, es war die Wirtin, und fragte nach unserem Begehren. Wir bestellten Bier. Beim Weggehen verweilte sie einige Augenblicke bei meinem Hute und schaute erstaunt hinein. Als sie mit dem Bier wiederkehrte, kam sie in Begleitung ihres Mannes, der uns mit unterwürfiger Freundlichkeit begrüßte und dann meinem Klapphut, vermutlich auf Mitteilungen seiner Frau hin, eine besondere Aufmerksamkeit schenkte. Das alte Paar erinnerte an Philemon und Baucis; wir forderten die Leute auf, an unserem Tische Platz zu nehmen, und da der Alte seine Augen immer wieder auf meinen Hut richtete, nahm ich diesen in die Hand, erklärte ihm die Mechanik und ließ die Federn springen. Ich glaubte, daß ihn diese Einrichtung neugierig gemacht hätte, es stellte sich aber heraus, daß sie ihn ziemlich kalt ließ, es mußte etwas anderes an dem Hute sein, was ihn interessierte. Er brachte das Gespräch auf die kaiserliche Familie und den Hof, namentlich erkundigte er sich angelegentlich nach einem Erzherzog Este, der erwartet werde. Freund Eduard merkte eher als ich,[211] worauf er abzielte, nahm eine sehr vornehme Haltung an und verneigte sich, so oft ich sprach, ehrfurchtsvoll vor mir. Als ich erklärte, daß mir der Erzherzog und seine Absichten unbekannt seien, gab sich Philemon nicht zufrieden und fragte geradezu, wie lange ich geruhen wolle, in Ischl zu verweilen. Nun begriff ich und wurde böse, weil mein Freund sich aufs neue tief vor mir verneigte, ich erklärte dem Wirt bestimmt, er scheine sich in meiner Person zu irren, ich sei ein Arzt aus dem Reich, komme vom Rhein und reise nach Wien. Auch dies half nicht, er lächelte ungläubig. Bronner zuckte die Achseln und machte Miene, als wollte er sagen: »Glaubt ihm nicht, der hohe Herr wahrt nur sein Inkognito.« Dies bestärkte den Alten in seinem Irrtum. Er fragte: »Wie kommen Sie denn zu dem Krönl im Hut, wenn Sie nicht zum Hofe gehören?« Das war mir zu viel. Ich stand auf, zahlte meine Zeche mit einigen Kreuzern, ließ Bronner die seinige bezahlen, setzte den Klapphut auf und empfahl mich. Jetzt endlich merkten die guten Leute, daß sie keine zweite Gedenktafel in die Wand einzulassen brauchten.

Dies war mein letztes Reiseabenteuer. Es lehrte mich, daß wie die Kleider auch die Hüte Leute machen.

Im späteren Leben habe ich viel weitere und interessantere Reisen gemacht, aber kaum eine so fröhliche wie diese.

Unsere Alpenfahrt ging zu Ende. Wir machten noch einen Ausflug nach dem wildromantischen Hallstadter See, fuhren über den Traunsee nach Gmunden und von da mit der Pferdebahn nach Linz. Im »Roten Krebsen« traf ich einen Bruder meiner Braut, einen Ingenieur. Wir reisten am andern Morgen zusammen auf der Donau nach Wien. Die Hügellande längs des Stroms machten nicht den Eindruck auf mich, den ich erwartet hatte, die Alpen hatten mich gegen ihre Reize abgestumpft. Abends 4 Uhr landete das Dampfschiff in Nußdorf, es war am 20. Juni, ein Omnibus brachte uns in die Kaiserstadt.

Quelle:
Kussmaul, Adolf: Jugenderinnerungen eines alten Arztes. München 1960, S. 209-212.
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