Tirol

[203] In früher Morgenstunde überschritten wir die bayerische Grenze und tranken am Achensee den ersten Tiroler Wein. Beim schönsten Sonnenschein trug uns ein Nachen über den träumerischen See, und wir gingen hinab ins Inntal, wo wir in Jenbach übernachteten.

Der nächste Tag war ein Sonntag. Am Vormittag sahen wir in Schwaz einen malerischen Aufzug von Bergknappen, die ihren Schutzheiligen feierten; nachmittags erfreuten wir uns auf dem Berg Isel bei Innsbruck an dem Treiben der Kaiserjäger und des Tiroler Volks in seinem bunten Sonntagsschmuck.

Den ganzen Montag widmeten wir den Sehenswürdigkeiten der Tiroler Hauptstadt und wanderten am Dienstag, vom Wetter stets begünstigt, durch das Inntal zurück in das Zillertal. Wir waren nicht lange gegangen, so kamen wir an ein Gasthaus mit dem Schilde »Zum Erzherzog Johann« und sahen auf der Steintreppe des Hauses einige junge Tiroler festlich geschmückt mit Federn und wehenden Bändern an den Hüten. Was mochte da los sein? Wir fragten, was für ein Fest man begehe, und erhielten artige Auskunft. Der Wirt hatte zur Feier seiner Hochzeit die Bewohner des Tals geladen, auch wir waren willkommene Gäste, wenn wir an dem Feste teilnehmen wollten; gegen Erlegung eines Guldens konnten wir mitschmausen und mittanzen nach Herzenslust, für saubere Diandln versprachen uns die Burschen zu sorgen.[203]

Dieser verlockenden Aufforderung, eine Tiroler Hochzeit mitzumachen, widerstanden wir nicht; wir zahlten unsern Gulden, und die neuen Freunde hielten Wort. Zunächst knüpften sie an unsere Hüte als Zeichen, daß wir berechtigte Gäste seien, rote Korduanstreifen, die über unsern Nacken lang herabhingen und sich seltsam genug an den hohen Zylindern ausnahmen. Wir trugen auf der Reise, worüber man sich heute wundern dürfte, wie es aber damals häufig Brauch war, solche, von den Studenten Angströhren oder Schlöte genannte Hüte. Bronner hatte den seinigen, einen schwarzen Filzhut, von Paris mitgebracht, ich den meinigen, einen grauen Klapphut oder Chapeau claque, in Heidelberg als Pariser Neuigkeit angeschafft. Nachdem wir so von den Burschen herausstaffiert worden, führten sie jedem von uns eine holde Jungfrau aus den Hütten des Tales zu, sie sollten unsere untrennbaren Partnerinnen sein an den Tafel- und Tanzfreuden des Hochzeitsfestes bis zum nächsten Morgen.

Die Gäste waren bereits zahlreich versammelt, und noch immer strömten neue herbei. Es war bald Mittag, ein guter Bratenduft kam von der Küche, und im Tanzsaal stimmten die Musikanten bereits die Geigen. Man ging paarweise hintereinander zu Tische; auch wir gingen im Zuge, die Diandln am Arm, und nahmen mit ihnen Platz. Mächtige Schüsseln mit dampfender Suppe wurden aufgetragen und aus tiefen Tellern mit ruhigem Behagen geschlürft. Der erste Gang war damit beendet, wir brachen auf, und wieder in geschlossenem Zuge wanderten die Paare zum Tanzsaal. Wir drehten uns rüstig im Walzer, und genau eine Stunde, nachdem wir uns zum ersten Gange gesetzt hatten, saßen wir wieder im Speisesaal beim zweiten. In dieser Ordnung wechselten von Stunde zu Stunde Schmaus und Tanz bis in die tiefe Nacht.

Sicherlich wäre das Fest einförmig geworden, aber Sänger und Tänzerinnen zeigten ihre Künste, wodurch es zu angenehmer Abwechslung kam.

In besonderer Erinnerung ist mir ein Liebeslied, das ein flotter Bursche zum besten gab, ein Spottlied zugleich auf die Pinzgauer Sennen des Salzburger Grenzlandes. Der Zillertäler[204] ahmte einen Pinzgauer nach, der, mit einem dicken Halse behaftet, dem Diandl in Vierzeilern seine heiße Liebe gesteht. Mit jeder Zeile drückt das harte Kröpferl schwerer auf seine Kehle und wird die Stimmritze enger, Liebes-und Atemnot streiten sich in seinen Mienen, bis die Stimme zuletzt in einem langgezogenen, heiseren Geräusch gänzlich erstickt. Erschöpft schaut er kläglich umher, das mitleidlose Publikum lacht, aber er beginnt aufs neue einen Vers des Liedes mit demselben jammervollen Schlusse.

Im Laufe des Nachmittags kam ein schmuckes Ehepaar angefahren, angesehene Wirtsleute aus dem Tal und Meister im Schuhplattler, dem Tanze der Älpler. Die Gesellschaft hieß sie freudig willkommen, bildete im Tanzsaal einen Kreis, in dessen Mitte das Paar die Zuschauer entzückte, er durch geschmeidige Kraft, sie durch gewinnende Anmut.

Nach einigen weiteren Gängen und Tänzen waren wir des Festes satt und müde. Die jungen Tiroler hatten uns natürlich nicht die feinste Blüte des Zillertales zugeführt, die behielten sie lieber für sich. Zwar unsere Diandln waren gute Seelen und flink auf den Beinen, aber ein Schnaderhüpferl paßte auf die lieben Kinder und kam mir nicht aus dem Sinn, es lautete, soviel ich mich noch erinnere:


»Mein Diandl ist sauber,

Mein' Lust und mein' Freud,

Sie melket die Geißen

Und ist nit zu g'scheit.«


Ich verstand zu wenig von der Melkwirtschaft, und unsere Unterhaltung kam deshalb öfters ins Stocken. Meinem Freunde Bronner ging es nicht besser. Wir verständigten uns durch Winke, verabschiedeten uns unter einem glaubwürdigen Vorwand und gingen aus dem Hause, um durch einen Spaziergang das Selchfleisch und die Knödel des letzten Ganges besser zu verdauen.

Der Rest des Abends verstrich im Herrenstübchen in guter Unterhaltung mit den Notabeln des Tals. Darunter befanden sich weitgereiste Leute, die auch unsere Heimat kannten.[205]

Für die Nacht war uns ein ruhiges Zimmer abseits vom Festlärm angewiesen worden. Wir schliefen gut, bis uns vor Tagesanbruch eine greuliche Katzenmusik erweckte. Als sich die Neuvermählten endlich vom Feste auf ihr Zimmer geschlichen hatten, war ihre Abwesenheit bemerkt worden, und die ledige Jugend versuchte, nach altem Brauche des Tals, die zärtliche Unterhaltung des Paares zu stören. Der Lärm trieb uns aus Bett und Haus, wir brachen nüchtern auf, nahmen unser Frühstück erst in dem nahen Zell, dem Hauptort des Tals, und machten uns dann auf die Wanderung über die hohe Gerlos in den Pinzgau.

Quelle:
Kussmaul, Adolf: Jugenderinnerungen eines alten Arztes. München 1960, S. 203-206.
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