Im allgemeinen Krankenhause

[225] Wie groß auch die medizinischen Erwartungen waren, mit denen ich nach Wien ging, sie wurden von der Fülle dessen, was ich für meine ärztliche Ausbildung vorfand, weit übertroffen. In der Alserstadt lagen ungeheure Heil- und Lehranstalten bequem beisammen. Zwei große Reformatoren der Heilkunst, Rokitansky und Skoda, wirkten darin, tüchtige Schüler lehrten in ihrem Sinne, und es sollte mir vergönnt sein, Zeuge einer der segensreichsten Entdeckungen im Gebiete der Heilkunst zu werden: ein bis dahin unbekannter junger Geburtshelfer, Semmelweis, war der Quelle einer der furchtbarsten Seuchen, des Kindbettfiebers, auf die Spur gekommen.

Wien verdankt seine Bedeutung für die Heilkunst der Kaiserin Maria Theresia und ihrem edlen Sohne Joseph II. Die große Regentin berief van Swieten, einen Schüler Boerhaaves, des ersten Arztes seiner Zeit und Hauptbegründers der heutigen klinischen Unterrichtsmethode, als Leibarzt und zugleich als Ordner des medizinischen Unterrichts in Österreich, von Leiden nach Wien. Dazu war van Swieten der rechte Mann. Er sorgte für die Ausstattung der Wiener Universität mit Kliniken, eingerichtet nach dem Muster Boerhaaves, und für die nötigen Lehrkanzeln. So ist er Stifter der älteren Wiener Schule geworden, deren Ruhm bis in den Beginn dieses Jahrhunderts hell erstrahlte und deren bedeutendste Vertreter de Haën, Stoll und Stoerck gewesen sind. Joseph II. errichtete 1784 nach den Plänen Quarins das Allgemeine Krankenhaus, das von keinem andern in Europa an Umfang erreicht wurde, daneben das Gebärhaus, das Irrenhaus, Narrenturm genannt, und das Findelhaus. Außerdem ließ er 1785 auf den Rat Brambillas zur Erziehung von Feldärzten die medizinisch-chirurgische Akademie – das Josephinum – errichten. – Was besagen die Pyramiden der Pharaonen, die Kaiserpaläste Roms[225] oder das Prunkschloß des Sonnenkönigs in Versailles, gemessen an dem Maßstab des Verdienstes um das Menschengeschlecht, gegenüber diesen Bauten Kaiser Josephs II., des Schätzers der Menschheit!

Die Errichtung einer eigenen Lehranstalt für pathologische Anatomie 1817 führte einen erneuten Aufschwung der medizinischen Wissenschaft in Wien herbei. Rokitansky stellte die Pathologie auf ein festes anatomisches Fundament und fand in dem genialen Skoda, seinem Schüler und Freunde, den Pathologen, der mit ihm die »junge Wiener Schule« gründete, wie sie von Wunderlich 1841, zum Unterschiede von der alten van Swietens, in einer kleinen Schrift: »Wien und Paris«, genannt wurde. Die Lehren dieser Meister und ihrer Jünger hatten einen außerordentlichen Einfluß auf die ärztliche Praxis in Deutschland.

Im Allgemeinen Krankenhause waren die klinischen Anstalten der Fakultät für Innere Medizin und Chirurgie, für jede zwei, und die Augenklinik untergebracht. Außer diesen, zu Lehrzwecken dienenden Abteilungen bestanden noch große andre zur ärztlichen Behandlung innerer und äußerer Kranken unter der Leitung von Primarärzten, daneben noch besondere für Brustkranke, Frauenleiden, Hautkranke und Syphilitische. – Mit dem Krankenhause hing das Gebärhaus zusammen, das zwei Abteilungen hatte: die Geburtshilfliche Klinik für Ärzte und die Abteilung für den Unterricht der Hebammen. – Baulich getrennt von dem Krankenhause, jedoch nahe bei ihm, stand die Irrenanstalt. Seit 1844 durfte theoretischer und praktischer Unterricht darin erteilt werden. In der Hauptsache war sie noch immer der gefürchtete »Narrenturm«. – Das Findelhaus befand sich unweit von dem Allgemeinen Krankenhause in der Alserstraße.

Um den Meinigen daheim die Größe dieser Anstalten begreiflich zu machen, schrieb ich ihnen, es verpflege das Allgemeine Krankenhaus ebenso viele Kranke, wie ganz Wiesloch Einwohner habe, über 2000.

In dem kleinen Leichenhause wurden außer den Sektionen aller im Kranken- und Gebärhaus, Narrenturm und Findelhaus[226] Verstorbenen auch noch die gerichtlichen Sektionen der Stadt vorgenommen, diese in einer besonderen Kammer, im ganzen jährlich gegen 1600.

Die Zahl der jährlichen Geburten im Gebärhause betrug ungefähr 3000. – Das Findelhaus nahm nicht bloß die Findlinge aus der Stadt auf, sondern auch Tausende der Neugeborenen des Gebärhauses.

Wir kamen nach Wien, als eben die Ferien begannen, aber es wurden noch Kurse abgehalten und im Leichenhause täglich, Sonn- und Feiertage ausgenommen, vormittags eine Menge Sektionen ausgeführt, zu denen wir freien Zutritt hatten. Wir nützten unsere Zeit möglichst aus. Hebras Kurs über Hautkrankheiten, den wir sofort besuchten, begann schon um 7 Uhr im Sommer und dauerte bis 9 Uhr. Dann gingen wir ins Leichenhaus. Nachmittags besuchten wir mehrere Kurse. Als im Herbste die Kliniken wieder eröffnet wurden, gingen wir häufig zu Skoda und dem Chirurgen Schuh und erhielten die Erlaubnis, einige Wochen lang im Gebärhause zu praktizieren. Eine Zeitlang begleiteten wir im November und Dezember die Chirurgen Dumreicher und Sigmund bei ihrer Morgenvisite, sie begannen den Tag sehr frühe, Sigmund war schon um halb sieben, Dumreicher um 7 Uhr auf der Abteilung.

Der lehrreichste von den zahlreichen Kursen, die wir belegten, war der von Hebra. Er nahm drei Monate in Anspruch und wurde viermal in der Woche, jedesmal in zwei Stunden, abgehalten. In der ersten handelte Hebra die Hautkrankheiten systematisch ab, in der zweiten stellte er Kranke vor und machte mit uns die Visite in seiner Abteilung. Man sah Kranke in Menge, beispielsweise führte er uns zur Veranschaulichung seiner Vorträge 14 Fälle von Lupus vor, 7 von Prurigo usw., auch lernte man die verschiedensten Formen kennen. Sein Vortrag war klar und oft unterhaltend, nicht selten aber überschritten seine kritischen Ausfälle jedes erlaubte Maß.

Im Findelhause nahmen wir einen neuen Kurs über Krankheiten der Neugeborenen, die der Hilfsarzt der Anstalt, Dr. Bednar, erteilte. Man hatte da reiche Gelegenheit, die mannigfachsten und schlimmsten Formen septischer Erkrankungen im[227] ersten Kindesalter kennenzulernen, die ich glücklicherweise in Privathäusern kaum wieder sah. Solange man die Mittel, der Sepsis zu begegnen, nur unzureichend kannte, waren diese in löblicher Absicht gegründeten Anstalten kaum besser als Mördergruben.

Noch ein dritter Kurs sei hervorgehoben, den uns der Sekundararzt Spatzenegger auf der Abteilung für Brustkranke über Perkussion und Auskultation erteilte. Diese Abteilung war 1840 für Skoda geschaffen worden, und Spatzenegger war Assistent bei ihm gewesen. Der gemütliche, in den Dreißigern stehende Herr erzählte uns viel Rühmliches von Skodas einfacher und bedürfnisloser Art zu leben. Er selbst kam später als Professor der Inneren Medizin nach Salzburg, seiner Vaterstadt, und starb dort 1877.

Äußerst anregend war Skodas Klinik. Er gemahnte mich in seiner schlichten Art, sogar in Bewegung und Gestalt, an den bescheidenen Landpfarrer Ganz, von dem ich im Kapitel I. erzählte. Skoda besaß die Kunst des klinischen Unterrichts in seltenem Maße. Erstaunlich war die Sicherheit seiner Diagnosen im Gebiete der Brustkrankheiten. Im Oktober war ich Zeuge eines großen Triumphes, den seine physikalische Untersuchungsmethode feierte, die ärztlichen Kreise Wiens waren voll des Ruhmes seiner Kunst. Er stellte in der Klinik einen jungen Mann vor mit angeborenem Verschluß der Brustaorta, sein Assistent Löbel hatte den Fehler erkannt, und Skoda bestätigte die Diagnose. Der Fall ist in Cannstatts Jahresbericht von 1848, Bd. III, S. 149, ausführlich beschrieben. Hat man Gelegenheit gehabt, ein solches seltenes Vorkommnis zu sehen oder die Beschreibung davon sich gut eingeprägt, so ist es leicht, den Fehler wiederzuerkennen. Ich bin zweimal in der Lage gewesen, diese Diagnose am Lebenden zu machen, das letztemal bei einem bekannten Lothringer Arzte, dem Dr. Raeiß in Pfalzburg. Ein leider frühe verstorbener Assistent von mir, Dr. Paul Maier, Dozent der Straßburger Fakultät, hat sie durch die Obduktion bestätigt.

Auf der Abteilung von Dumreicher wohnte ich im Dezember der ersten Chloroformnarkose bei. Im November hatte sie[228] Simpson in Edinburg an Stelle der Äthernarkose eingeführt, sie kommt rascher zustande als diese, doch ist sie gefährlicher. Die Abteilung Dumreichers besaß keinen eigenen Operationssaal, er mußte inmitten der Kranken operieren oder diese vorher wegbringen lassen. Dumreicher war über diesen unbegreiflichen Mißstand äußerst ungehalten, wie man sich denken kann. Assistent bei ihm war Linhart, der als Professor der Chirurgie in Würzburg 1877 starb. – Bei Sigmund machte ich die flüchtige Bekanntschaft seines Assistenten Dr. Fischhof, der sich später in der Politik einen Namen gemacht hat. – Sehr gut gefiel mir die frische Art des Chirurgen Schuh. – Dagegen sprach mich Rosas, dessen Augenklinik ich einigemal besuchte, wenig an; besser als dessen Grandezza sagte mir die einfache Art seines Spezialkollegen Friedrich Jaeger am Josephinum zu.

Quelle:
Kussmaul, Adolf: Jugenderinnerungen eines alten Arztes. München 1960, S. 225-229.
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