Vierzehntes Kapitel.
Straßenlärm und Gartenfrieden.

[433] Die zwei Arbeitsfelder. Lasse ich den Blick über die mannigfaltigen Inhalte meines Lebens schweifen, so gewahre ich zwei wesentlich verschiedene Arbeitsfelder, in denen ich abwechselnd tätig gewesen bin, und aus denen mir der größte Teil der Freude und des Glückes zugewachsen ist, die mein Leben erhellt haben. Das ältere ist die wissenschaftliche Arbeit. Sie wurde nicht, wie die gewöhnliche Redensart lautet, um ihrer selbst willen getrieben (denn sie hat ja kein Selbst), sondern weil nichts in der Welt mir ein so tiefes, dauerhaftes und ungetrübtes Glück brachte, wie sie.

Das zweite Feld ist die Beeinflussung anderer Menschen zu dem Zweck, sie des gleichen Glückes wenigstens einigermaßen teilhaft zu machen, das mir so reich aus der Wissenschaft zuströmte. Ich darf nicht behaupten, daß diese altruistische Betätigung aus einem Gefühl der Pflicht, etwa im Kantischen Sinne entsprang. Sie geschah vielmehr instinktiv, ebenso wie die wissenschaftliche Arbeit. Während aber diese mir restlos Freude bereitete, denn auch das Niederarbeiten von Schwierigkeiten und Widerständen ist hier ein Genuß, waren die Gefühle, welche die andere Betätigung bei mir auslöste, gemischter Art. Denn neben starken Freuden brachte sie mir Ärger, und als ich mir diesen wegen Benachteiligung meiner Verdauung abgewöhnt[434] hatte, doch häufiges Mißbehagen darüber, daß diese Wesen, welche sich zuweilen so dumm, eng und sogar schlecht betrugen, doch auch Menschen, also gewissermaßen meinesgleichen waren.

Frage ich mich, ob ich eines dieser Felder für bedeutsamer halte, als das andere, so finde ich die Antwort darauf nicht ganz ohne Zögern. Grundsätzlich muß ich unter den Verhältnissen der Gegenwart den Organisator für wichtiger halten, als den Entdecker. Denn die Kulturgeschichte ist voll von Beispielen dafür, daß grundwichtige Entdeckungen viele Jahre hindurch ohne jeden anderen Einfluß geblieben sind, als daß sie dem armen Entdecker Mißachtung, Haß und Verfolgungen aller Art zugezogen haben; der übrigen Menschheit blieben sie verschlossen. Erst nach einer Wiederentdeckung, zuweilen erst nach einigen fand sich der Mann, der nicht nur sich, sondern auch seine Zeitgenossen von dem Wert der Sache überzeugen und ihre Anwendung organisieren konnte. Sonach ist die Entdeckung im Sinne des Kulturfortschrittes nur die halbe Arbeit; es ist außerdem noch erforderlich, sie dem blöden Hödur, der großen Menge, in das träge Gehirn hineinzuhämmern. Und diese Arbeit ist natürlich um so schwieriger, je größer der Fortschritt ist, denn mit dessen Weite wächst der Widerstand im Verhältnis des Quadrats des Abstandes.

Also muß ich insgesamt das Feld des Organisators für wichtiger, weil schwieriger halten, als das des Forschers. Auch an meinem eigenen Leben bestätigt sich dies, denn die organisatorische Arbeit hat deutlich später eingesetzt, als die rein wissenschaftliche. Und ebenso hört sie früher auf. Wenn ich auch meine Forschungen fortzusetzen gedenke, solange das Gehirn noch etwas hergibt: unter die organisatorische Arbeit mache ich eben einen kräftigen Strich.

Denn der Organisator baut an der Straße, der Forscher pflegt seinen Garten. Jener muß unter Menschen, weil er sie beeinflussen will, und ist daher gezwungen, all die[435] Unbequemlichkeiten auf sich zu nehmen, welche mit Ansammlungen von Menschen verbunden sind. Unvermeidlich muß er diejenigen stören, welche bisher diese Menschenmengen in ihrem Sinne beeinflußt hatten, und wird von ihnen daher immer als Gegner, oft als Feind behandelt. Und wer am Wege baut, hat viele Meister, die ihn be- und verurteilen. Meist wegen Sachen, die er weder gesagt noch getan hat; wenn er dies aber zu erklären versucht, so gibt es einen neuen Grund, ihn zu tadeln, daß er nicht das gesagt und getan hat, was seine Gegner von ihm behaupten. Kurz, er muß sich all den Lärm, Staub und üblen Geruch gefallen lassen, der sich von der Straße nicht trennen läßt. Solange man überschüssige Energie hat, setzt man sich leicht und gern darüber hinweg; vermindert sie sich, so ist es vernünftiger, sich in den stillen Garten der reinen Forschung zurückzuziehen, wo man die Arbeit auf das Maß der noch vorhandenen Leistungsfähigkeit einstellen kann.

Ein Organisator in der Wissenschaft kann aber nur einer sein, der auch Entdecker war, da er sonst keinen Maßstab für das besitzt, was er organisieren will. Das Umgekehrte ist nicht nötig, denn einem großen Teil der Entdecker fehlt die organisatorische Fähigkeit. Hierzu gehören insbesondere viele Klassiker, wenn auch keineswegs alle. Stets pflegt bei diesen die organisatorische Seite sich mehr im Hintergrunde zu halten.

Man findet sehr häufig die Meinung vertreten, daß die reine Entdeckerarbeit etwas Höheres, Feineres, Besseres sei, als die organisatorische. Dabei ist so viel richtig, daß es dort viel leichter ist, gleichsam Hände und Kleider reinlich zu halten, während die Menschenbeeinflussung oft genug grobe, staubige, ja schmutzige Arbeit notwendig macht, je nach dem Menschenmaterial, das bearbeitet werden muß. Aber da die Kultur ein ausgeprägt soziales Gebilde ist, wird die wissenschaftliche Entdeckung erst dann ein wirklicher und wirksamer Bestandteil der Kultur, nachdem sie in[436] das große geistige Gesamtkapital der Menschheit einorganisiert ist.

Die Ursache des reinen Glücks des Forschers liegt nicht darin, daß der Forscher dabei nicht auch mit Trägheit und Unverstand zu tun hätte, denn diese liefert er persönlich mehr oder weniger reichlich dazu. Aber gegen eigene Dummheiten ist man aus naheliegenden Gründen milder gestimmt, als gegen die Anderer. Ich weiß nicht, wie es in dieser Beziehung meinen Kollegen im Forscherberufe ergangen ist oder ergeht; persönlich kann ich berichten, daß ich unter der Arbeit nicht ganz selten mit inniger Überzeugung ausgerufen habe: o du Esel! auch wenn kein anderer zugegen war.

Die Aufnahme der Farbenlehre. Zunächst habe ich noch von der Arbeit an der Straße zu erzählen. Wie erwähnt, hatte ich mich mit dem Deutschen Werkbund verständigt, um ihm die bisher vergeblich angestrebte Ordnung der Farbenwelt zu schaffen. In den nächsten Jahren teilte ich auf den Versammlungen die Stufen meiner Fortschritte mit; auf die Benutzung der für diesen Zweck ausgeworfenen Beträge von einigen tausend Mark hatte ich verzichtet. Meine Berichte wurden zuerst mit Dank aufgenommen, aber wenig verstanden. Als ich mein Meßverfahren darlegte, durch welches man ganz unabhängig wurde von dem Aufbewahren von Mustern oder Typen, wurde mir von angesehener Seite unentwegt entgegengehalten, daß ich vor allen Dingen unveränderliche Muster oder Typen schaffen sollte, etwa in Porzellanfarben.

Im Jahre 1919 fand in Stuttgart wieder eine Jahresversammlung statt, die erste nach dem Kriege. Ich war so weit gekommen, daß Messung, Ordnung und Normung erledigt war und ich die Ergebnisse in Gestalt von Hauptschnitten (II, 409) vorlegen konnte. Aus dem Anblick der Hauptschnitte hatten sich mir die Gesetze der Farbharmonie ergeben. So zerfiel der Vortrag naturgemäß[437] in zwei Teile, einen größeren, der die Ordnungsfrage behandelte und einen kleineren für die der Harmonie.

Das Datum des Vortrages konnte ich meinem Gedächtnis leicht einprägen. Es war der 9. September 1919, also in abgekürzter Schreibweise 9. 9. 1919. Die Versammlung war sehr gut besucht; ich war von der Sache begeistert und konnte auch die Mehrzahl meiner Hörer begeistern, wie sich aus ihrem Beifall ergab. Aber ein gewisser Teil der Hörer stellte sich sofort auf schärfste Gegnerschaft ein. Es waren die anwesenden Kunstgelehrten und auch ein guter Teil der Künstler. Die Hauptfrage, nämlich die Farbordnung wurde theoretisch anerkannt; hier wagte sich kein Kritiker vor, weil sie nichts davon verstanden, und dies auch wußten. Von dem anderen Teil verstand auch niemand etwas, denn es handelte sich ja um etwas ganz Neues. Hier aber glaubten sie, nicht nur etwas, sondern sehr viel von der Sache zu wissen. Da dies in vollem Gegensatz stand nicht sowohl zu dem Inhalt meiner Harmoniegesetze, als zu dem Gedanken, daß es überhaupt solche Gesetze gibt, wurde sofort ein geschlossener Angriff zur Verteidigung der heiligsten Güter, nämlich der Unwissenheit eröffnet. Als »Zerstörer der Farbenunschuld« wurde ich später aus diesem Kreise der Öffentlichkeit zum abscheulichen Exempel vorgewiesen.

Die Angst vor dem drohenden Einbruch der Wissenschaft in die geheiligten Gebiete des mystischen Glaubens wurde so groß, daß unmittelbar nach der Stuttgarter Tagung eine Art Schutzverein dagegen entstand. Die Gefahr wurde in lebhaften wenn auch fehlerhaften Farben beschrieben und es wurden Unterschriften gesammelt, um an alle deutschen Unterrichtsministerien eine dringende Warnung zur Vermeidung des bevorstehenden Unglücks zu schicken. Dies ist denn auch geschehen (III, 393) und soviel ich erkennen kann nicht ohne den angestrebten Erfolg. Denn etwas später ist von dem Preußischen Unterrichtsminister[438] ein Erlaß ergangen, der, wenn auch nicht ganz geradlinig, doch tatsächlich auf ein Verbot der neuen Farbenlehre in den Schulen hinaus lief.


Ebenso wurden die Zeichenlehrer mobil gemacht. Bekanntlich spielt der Zeichenunterricht in den Gymnasien und anderen mittleren Schulen eine Aschenbrödelrolle, da seine Ergebnisse weder für die Versetzungen noch für die Abschlußprüfung irgendwie ins Gewicht fallen. Vergeblich wies ich darauf hin, daß dies an der völlig unsachgemäßen Einstellung dieses Unterrichts auf die Erzielung künstlerischer Leistungen liegt, die immer nur von ganz wenigen erreicht werden können. Wäre das Zeichnen ein wissenschaftliches Fach, so würde es ebenso ins Gewicht fallen, wie Rechnen oder Geographie. Nun ist durch die neue Farben- und Formenlehre endlich die Möglichkeit entstanden, das Zeichnen wissenschaftlich zu betreiben und dem Fach die Würde der anderen zu erringen.


Mit ganz wenigen Ausnahmen, unter denen in erster Linie R. Dorias in Chemnitz zu nennen ist, der diesen Gedanken selbstschöpferisch aufgenommen hat, haben sich die Zeichenlehrer wie ein Mann dagegen erhoben, daß ein Außenseiter es wagte, in ihre Angelegenheiten hineinreden zu wollen. Und ich hätte es auch nicht getan, wenn es ihre Angelegenheit allein gewesen wäre. Aber es ist in erster Linie eine Angelegenheit der Deutschen Jugend, und dieser gegenüber scheinen mir die Standesinteressen der organisierten Zeichenlehrerschaft von geringer Bedeutung.


Ich verzichte auf die Schilderung einer ganzen Anzahl anderer Widerstände, welche die Farbenlehre auf ähnlichen Gebieten erfuhr. Tatsächlich ist mir bei keinem meiner Fortschritte ein derart ausgedehnter und einmütiger Widerstand entgegengetreten, wie in diesem Falle. Ich kann darin nur eine Bestätigung dafür sehen, daß es sich wirklich um einen ungewöhnlich großen Fortschritt handelt.

[439] Die chemische Industrie. Endlich muß ich noch von einem Widerstande von ganz anderer Seite erzählen, der noch unerwarteter und vielleicht auch wirksamer war. Bekanntlich bestand und besteht bei uns ein sehr nahes Verhältnis zwischen Wissenschaft und Industrie, insbesondere in der Chemie. Der gewaltige Aufstieg der Deutschen Teerfarbstoffindustrie beruht in erster Linie darauf, daß deren Schöpfer den Mut hatten, die auf kleine Mengen eingerichtete Technik des wissenschaftlichen Laboratoriums ins Große zu übersetzen und schwierige chemische Synthesen zentnerweise durchzuführen. Während meiner Professorenzeit erhielten die Laboratorien der Universitäten und Hochschulen regelmäßige Besuche seitens der großen chemischen Fabriken, die nachfragten und nachschauten, welche wissenschaftlichen Fortschritte eben im Gange waren, um sie gegebenenfalls umgehend für ihre Zwecke anzuwenden. Und die Professoren hatten ihrerseits der Industrie oft zu danken für unentgeltliche Hilfe, die ihnen für ihre Forschungen von dort geleistet wurde. So waren mir auch auf meine Bitte Farbstoffe geliefert worden, soviel ich für meine Farbforschungen gebraucht hatte.

Als aber die neue Farbenlehre als ein abgerundetes Stück Wissenschaft an die Öffentlichkeit trat, wendete sich das Blatt. Die neuen Ergebnisse fanden nicht nur keine Teilnahme seitens der Industrie, sondern wurden systematisch bekämpft. Mir sind in jener Zeit (um 1922) Rundschreiben von unseren größten Fabriken vorgelegt worden, in denen die Fabrikleitungen ihre Vertreter in den verschiedenen Städten beauftragten, den Kunden die neue Lehre als unrichtig, unwichtig oder sonst bedenklich hinzustellen und hervorzuheben, daß die Teerfarbstoffindustrie jedenfalls nichts mit ihr zu tun habe und haben wolle. Später ist der unmittelbare Kampf durch einen mehr mittelbaren abgelöst worden; von einer Bereitwilligkeit, diesen größten Fortschritt, den die Farbenlehre seit Newton[440] und Lambert gemacht hat, als solchen anzuerkennen und ihn offenkundig zu benutzen, ist noch jetzt (1927) nicht die Rede. Stillschweigend hat er allerdings schon an manchen Stellen seinen Einzug gehalten.

Ich sehe mich außerstande, die Ursache dieses sonderbaren Verhaltens anzugeben, das in so auffallendem Widerspruch steht zu der Bereitwilligkeit, ja Eile, mit der sich sonst gerade diese Industrie die wissenschaftlichen Fortschritte zugute macht. Ein Mißtrauen in den wissenschaftlichen Wert der Sache kann schwerlich die Ursache sein, da sie von demselben Forscher herrührt, welcher der Industrie die Katalyse und die Bindung des Stickstoffs geschenkt hat. Einstweilen sammle ich das zugehörige Material; vielleicht wird es mir später einmal möglich sein, die Lösung des Rätsels mitzuteilen. Das gilt auch für die anderen mannigfaltigen Schicksale der Farbenlehre in der Öffentlichkeit, von der manches Wunderliche, ja Erstaunliche zu erzählen wäre.

Einstweilen ziehe ich vor, meine Leser und mich nicht länger diesen Unbehaglichkeiten auszusetzen. Aus meinen Studien zur chemischen Kinetik weiß ich, daß ein energetisch notwendiger Vorgang keinenfalls verhindert, sondern nur beschleunigt oder verzögert werden kann. Darum kann ich mit Ruhe die notwendige Durchdringung der zugehörigen Wissenschaften und Industrien mit den neuen Gedanken vor sich gehen lassen. Denn die Frage, wie bald dies geschieht, ist für jene viel wichtiger, als für mich.

Im übrigen soll nicht übersehen werden, daß zu den persönlichen Widerständen sich noch allgemeine gesellt haben, welche von der Zeit bedingt sind, in welche sie gefallen sind. Denn diese Zeit ist für den vorliegenden Fortschritt besonders ungünstig gewesen.

Eine geistige Epidemie. Durch nichts erweist es sich so deutlich, daß der Krieg ein völlig unzeitgemäßer Überrest aus barbarischer Vergangenheit ist, als durch den[441] Rückfall der betroffenen Völker in niedrigere geistige Zustände, die man während der Friedenszeit vorher schon als überwunden angesehen hatte. So war bei uns als geistige Epidemie nach den Napoleonischen Kriegen vor hundert und einigen Jahren in der Literatur der romantische Mystizismus, in der Wissenschaft die phrasenhafte Naturphilosophie ausgebrochen und wir haben fast ein halbes Jahrhundert gebraucht, um sie zu überwinden. Daß der Krieg von 1870/71 keine so erkennbare Nachwirkung hinterließ, lag an seiner kurzen Dauer, und daran, daß wir Deutsche zufolge unserer kulturellen Höhe als Sieger alles taten, um nach Erledigung des Kampfes seine Folgen zu beseitigen und friedliche Beziehungen zu dem Gegner herzustellen. War es doch eine der ersten Sorgen des neuen Deutschen Reiches, die kurz vor dem Kriege eingeleiteten Verhandlungen zur Gründung des internationalen Amts für Maße und Gewichte wieder aufzunehmen und den Sitz dieser wichtigen Anstalt nach Paris zu verlegen.

Da umgekehrt nach Beendigung der Kriegshandlungen im Jahre 1918 der sog. Friedensvertrag von Versailles ganz und gar den Zweck verfolgte, den Krieg gegen Deutschland unter vielen anderen Formen festzusetzen – er dauert noch heute, 1927, an – so sind die dadurch bewirkten geistigen Schädigungen unverhältnismäßig viel stärker. In Deutschland leiden wir jetzt wieder an einer wuchernden Mystik, die sich wie damals gegen die Wissenschaft und den Verstand als gegen ihren gefährlichsten Feind wendet.

Nun gibt es immer eine sehr große Anzahl Menschen, welche unterbewußt die Empfindung haben (wenn sie es auch niemals zugestehen), daß sie bei der Austeilung des Verstandes zu kurz gekommen oder in der Qualität benachteiligt sind. Allen diesen ist es äußerst willkommen, wenn dieses Gut in der öffentlichen Wertung recht niedrig steht, und bei ihnen findet eine solche Geistesrichtung[442] bereitwillige, ja leidenschaftliche Unterstützung. Daneben soll nicht vergessen werden, daß es auch eine große Anzahl ehrlicher Gemüter gibt, welche selbst empfinden, daß ihnen die Freuden erfolgreicher Verstandestätigkeit versagt sind, und die auch nicht die Willenskraft aufbringen, die unzureichende Kraft mittels sachgemäßer und geduldiger Übung (durch das Studium der Anfangsgründe irgendeiner exakten Wissenschaft) zu steigern. Auch solchen ist die Möglichkeit starker seelischer Genüsse auf dem Wege mystischer Gefühlserregung hoch willkommen, zumal diese sich ohne besondere geistige Anstrengung erreichen lassen. Denn außer dem Glück, sich führend zu betätigen, gibt es auch ein Glück, sich widerstandslos, hingebungsvoll führen zu lassen, ohne selbst die Augen aufmachen zu müssen. Und ein solches Glück wird in Zeiten wie die gegenwärtigen mit besonderer Begierde angestrebt.

Endlich soll eine noch sehr einflußreiche Denkweise nicht unerwähnt bleiben, welche die gleiche Richtung fördert. Sie entsteht aus dem Umstande, daß die Kulturwissenschaften zwar die wichtigsten insofern sind, als sie sich unmittelbar mit dem Leben der Völker wie der Einzelnen befassen, daß sie aber als die höchsten in der Pyramide der Wissenschaften notwendig die unentwickeltsten sind. Wo aber das Wissen fehlt, tritt der Glaube an seine Stelle. Und während es eine Grundforderung der Wissenschaft ist, stets willig zur Kritik und wenn nötig zur Verbesserung jedes einzelnen ihrer Sätze zu sein, ist es umgekehrt eine Grundforderung des Glaubens, jede Kritik und jeden Versuch einer Abänderung als moralisch verwerfliche Handlung unbedingt abzuweisen. Dies bewirkt, daß die Vertreter solcher unentwickelter Gebiete, in denen künftig die Wissenschaft herrschen wird, die aber zurzeit vom Glauben erfüllt sind, es als ihre zweifellose Pflicht ansehen, der exakten Wissenschaft mit allen Mitteln den Zugang zu den geheiligten Gefilden des Glaubens zu verwehren. Sie[443] begrüßen daher jede Wendung mit Freuden, welche das Ansehen der Wissenschaft zu mindern verspricht.

Nachruhm. Alle diese Umstände wirkten mit unüberwindlich aussehender Stärke zusammen, um sich meinen hier geschilderten Bestrebungen zu widersetzen, und die Zeit (1927) mit ihrer Belastung durch die Kriegsfolgen wirkt in gleichem Sinne. So gebe ich mich, wie erwähnt, dieser Arbeit hin mit dem Bewußtsein, daß sie zunächst keine oder nur sehr dürftige äußere Frucht bringen kann, und daß die Erntezeit dieser Gedankensaat voraussichtlich erst nach meinem Tode anbrechen wird. Aber ich habe schon gesagt, daß diese Verhältnisse die Freude an meiner Arbeit nicht wesentlich mindern. Denn ich weiß ja, warum ich nun mich damit begnügen muß, die Saat auszustreuen und sie den Mächten der Zeit zu überlassen.

Die nachstehende Geschichte von dem Wiener Komiker Nestroy hat einen starken Eindruck auf mich gemacht. Nestroy war ein vorzüglicher Charakterdarsteller, und einer seiner Freunde ermahnte ihn deshalb einmal, nicht seine Begabung an Possen zu verzetteln, sondern ernste Kunst zu üben. Weshalb? fragte Nestroy. Ja, du mußt es doch für die Nachwelt tun! sagte der Freund. So? Was hat denn die Nachwelt für mich getan? fragte Nestroy. Er erhielt keine Antwort, und ich wüßte auch keine zu geben.

Die Griechen hatten einen sehr schwerwiegenden Grund, für ihren Nachruhm zu sorgen, denn sie lebten im Glauben, daß ihr künftiges Dasein in der Unterwelt um so persönlicher und erträglicher oder gar erfreulicher sein würde, je kräftiger die Erinnerung an sie und ihre Taten unter den Lebenden sich betätigte. In dichterischer Verklärung bildet dieser Gedanke den Inhalt von Goethes wunderschöner Elegie Euphrosyne. Heute haben wir einen solchen Glauben nicht, wohl aber handeln viele unserer Besten instinktmäßig so, als hätten sie ihn.[444]

Ich habe mich geprüft, ob ich selbst von diesem Atavismus getrieben werde, wenn ich solche Zukunftsarbeit mache, oft bis der schmerzende Rücken mich zu einer Pause zwingt. Ich habe nichts derartiges entdecken können. Wohl aber besteht bei mir ein sehr starkes Bedürfnis, alle Gegenstände meines geistigen Haushaltes wissenschaftlich in Ordnung zu bringen. Ich kann diesen Trieb nur mit dem Instinkt des Reinemachens bei den guten Hausfrauen vergleichen, wenn ich auch nicht mit Sicherheit angeben kann, aus welchen Erbstücken sich dieser geistige Ordnungsinstinkt bei mir entwickelt haben mag. Vielleicht ist er ein Erzeugnis der bei mir eingetretenen Mutation (II, 380). Daß er stets irgendwo unbefriedigt bleibt wie z.B. bei der eben aufgeworfenen Frage, hat natürlich nur die Folge ihn stets lebendig zu erhalten. Welche Ursache dieser Trieb aber auch haben mag, er hat stets dahin gewirkt, mein Leben inhaltreich und froh bei jedem kleinen Fortschritt zu gestalten.

Von der Straße in den Garten. Aus dem Lärm der Straße in die Stille des Gartens zu flüchten, war von jeher für mich ein Bedürfnis gewesen, wenn der Lärm zu lange gedauert hatte oder zu arg gewesen war. Ich habe (II, 189) ausführlich beschrieben, wie ich die ersehnte Gartenruhe gefunden habe, wenn ich mich mit Zeichenstift und Pinsel in die Aufnahme und Wiedergabe der Natur versenkte. In stark vergrößertem Maßstabe sehe ich nun den gleichen Vorgang vor mir, da ich mein ganzes Leben auf den Gartenfrieden einzulenken beschäftigt bin und das Werk an der Straße zu verlassen gedenke. Natürlich geschieht ein solcher Übergang nicht von heute auf morgen. Jene Ferienerholungen hatten ja den künftigen Zustand schon für kurze Zeiträume vorausgenommen, und ich darf mich der Erkenntnis nicht verschließen, daß ich auch künftig dann und wann werde auf die Straße gehen müssen, auf die Gefahr hin, den Verkehrsschutzmann nicht mehr recht zu verstehen.[445]

So soll dieser Übergang noch ein wenig eingehender beschrieben werden, wie er sich seit meiner Befreiung gestaltet hat.

Teneriffa. Zufolge der sehr starken Beanspruchungen durch Weltsprache, Brücke, Monistenbund usw. fand ich 1913 meinen Energiedruckmesser so niedrig stehend, daß ich mir eine vollständige Ausspannung verordnete. Ich schrieb ein halbes Dutzend monistische Sonntagspredigten in Vorrat und reiste mit meiner älteren Tochter im Spätherbst nach der Insel Teneriffa, um dort zu baden und zu malen. Die Schiffreise dahin und zurück war, schon allein gemäß früheren Erfahrungen eine erhebliche Erfrischung und die vielfach begeisterten Schilderungen der landschaftlichen Schönheiten, die uns dort erwarteten, versprachen eine reiche Ausbeute an gemalten und fotografierten Bildern. Tatsächlich haben sich diese Erwartungen reichlich erfüllt und ich denke mit Freuden an die sechs sonnigen Wochen zurück, die wir dort verlebt haben.

Auf der Hinreise fanden wir uns in Gesellschaft einer Truppensendung nach einer westafrikanischen Kolonie. Trotz meines Pazifismus kam ich in gesellschaftliche Berührung mit dem Oberst, der die Abteilung führte. Ich lernte in ihm einen sehr angenehmen Reisegenossen kennen, der nichts von der Enge des Gesichtskreises erkennen ließ, die man unseren Militärs nachsagte.

Eine andere lustige Überraschung wurde mir durch einen Tischgenossen, mit dem ich flüchtig bekannt geworden war. Ich sah ihn eines Vormittags auf seinem Deckstuhl tief eingeschlafen mit einem offenen Buche auf dem Schoß, das auf den Boden zu gleiten drohte. Es sah mir auffallend bekannt aus, und ich hob es auf, als es tatsächlich heruntergeglitten war. Es erwies sich als das bekannte Buch: Große Männer, von Wilhelm Ostwald.

Zu gegebener Zeit landeten wir in Santa Cruz, wo wir einige Tage blieben, um die neue Welt kennen zu lernen,[446] in die wir eingetreten waren. Als wir in Hamburg abreisten, war leidlich gutes, sonniges Herbstwetter gewesen, das aber doch schon den kommenden Winter anzeigte. Unterwegs waren die Tage immer wärmer und auch länger geworden, und auf Teneriffa war es trotz der erfrischenden Weltmeerluft heiß wie bei uns im Juli. Die Gestalten der Felsen wichen von allem ab, was mir bekannt war, denn die Insel ist rein vulkanisch und besteht aus Laven, die der Pic von Teneriffa ausgeworfen hat. Es fehlt daher ganz die wagerechte Schichtung, die mehr oder weniger, deutlich dem Felsgrüst der mir geläufig gewesenen Landschaft die Grundgestalt gibt. Die Farbe ist ein rostiges Schwarz.

Ebenso abweichend erwies sich die Pflanzenwelt. Kaktus, Agaven und Euphorbien in riesigen Abmessungen schienen die ursprünglichen Gewächse zu sein. Im Anschluß an die Ansiedlungen fanden sich Palmen, Ölbäume, Zypressen und andere südliche Pflanzen. Wo es gelungen war, eine Erdschicht auf den Lavabrocken anzusammeln, welche den größten Teil der Fläche deckten, waren weite Bananenfelder angelegt, welche den Hauptreichtum der Insel bilden.

Das schönste aber war das Meer. In rein eisblauer Farbe und ungetrübt durch organische oder unorganische Kolloide wanderten die Wogen, die sich über tausende von Kilometern ungestört entwickeln konnten, in riesigen Dünungen daher, die so breit waren, daß man die Wellenform kaum erkennen konnte, zum steinigen Strande, wo sie unter donnerndem Getöse sich überschlugen und das Ufer, wo es flach war, weithin mit Schaum bedeckten. An solchen Stellen, wo sie sich zwischen Klippen verfingen, erzeugten sie eine Brandung, wie ich sie großartiger nirgend gesehen hatte.

In seiner vollen Schönheit sahen wir das Meer allerdings erst in Port Orotava, auf der anderen Seite der Insel,[447] wohin wir uns alsdann begaben. Der Weg führt über einen ziemlich hohen Landrücken und dann in ein Gebiet von großer landschaftlicher Schönheit; Alexander von Humboldt rechnet es unter die schönsten, die er gesehen hat. Die Wirkung beruht darauf, daß das Ufer durch eine Anzahl weiter Buchten geteilt ist, zwischen denen die schöngeformten Rücken alter Lavaströme blaue Kulissen bilden. Auch ist diese Seite der Insel reich mit mannigfaltigem Grün ausgestattet.

In einem recht guten Gasthaus, das früher der Wohnpalast eines reichen Mannes gewesen war, fanden wir befriedigende Unterkunft. Wir waren gegen Abend angekommen und strebten nach dem Essen dem Meere zu, das wir trotz der ruhigen Luft unaufhörlich donnern hörten. Es wurde wie immer in den Tropen plötzlich dunkel, doch trat ein fast voller Mond bald leuchtend hinter Wolken hervor und zeigte uns eine ungeheure Brandung silberglänzend zwischen tiefschwarzen hohen Felsen. Es war ein unvergeßlicher Anblick, den ich hernach wiederholt vergeblich im Bilde wiederzugeben versucht habe.

Damit begannen sehr behagliche Wochen, die ohne die gewohnte Arbeit auszufüllen mir nicht die geringste Schwierigkeit machte. Denn jede Wanderung bot unaufhörlich neue, malenswerte Bilder und die Bewältigung der grotesken Formen, welche die Lavafelsen in unabsehbarer Mannigfaltigkeit aufwiesen, stellte mir neue, recht schwierige Aufgaben. Denn an geschichteten Gesteinen läßt sich die Gesetzlichkeit des Aufbaues gut erkennen und darstellen, selbst wenn Gletscher, Wassermassen und Verwitterung die Formen vermannigfaltigt haben. Lava aber kommt mit der Erstarrung der Oberfläche nicht zur Ruhe, sondern diese wird in ungestalte Blöcke zersprengt und von dem langsamen Strome fortgewälzt, bis die Temperatur hinreichend gesunken ist, um ein weiteres Wandern zu verhindern. Dazwischen hat das Regenwasser, das in plötzlichen[448] Massen herabstürzt, tief eingeschnittene Schluchten ausgearbeitet, welche gewöhnlich trocken sind und nur bei neuen Wolkenbrüchen Wasser und Felsbrocken in wildem Gemenge zum Meer führen. Vielleicht haben diese Erfahrungen eine Rolle bei der langsamen Gestaltung meiner Erkenntnis gespielt, daß die Schönheit nur in der Gesetzlichkeit gefunden werden kann. Denn die Willkür in der Form der Lavafelsen erwies sich als ein entschiedenes Hindernis bei ihrer künstlerischen Verwertung und veranlaßte mich, weite Fernblicke zu bevorzugen, bei denen die zufälligen Einzelheiten verschwanden und nur die großen Formen zurückblieben.

Eine sehr angenehme Überraschung ward uns, als der sehr hervorragende Münchener Biologe Richard Hertwig mit Frau und junger Tochter wenige Tage nach uns eintraf. Er hatte eine besonders angestrengte Zeit als Rektor hinter sich und war weise genug, dem drohenden Zusammenbruch durch eine Ruhepause zuvorzukommen. Wir hatten uns vorher nicht gekannt, doch war mir sein Name von den ausgezeichneten Arbeiten her geläufig, die er meist mit seinem Bruder Oskar (II, 406) zusammen ausgeführt hatte. Auch zwischen den beiderseitigen Damen entwickelte sich ein heiteres Verhältnis, so daß auch von dieser Seite die Reise sich als sehr wohl gelungen erwies.

Wiederholt besuchten wir den botanischen Garten bei Orotava, den ich heute mit viel größerem Gewinn betrachten würde, entsprechend meinem näheren Verhältnis zur Pflanzenwelt. Zufällig blühte gerade die Strelitzia, eine der wunderlichsten Blütenformen, die ich gesehen habe. Mein Versuch, sie zu malen, zeigte mir, wieviel ich nach dieser Richtung noch zu lernen hatte. Erst in den letzten Jahren, seit 1926 habe ich begonnen, dieser Mahnung nachzukommen.

Die Hinreise hatten wir auf einem Dampfer der Wöhrmann-Linie gemacht, auf dem wir von dem Obersteward als nicht besonders beachtenswerte Leute eingeschätzt[449] worden waren; wir hatten beide nichts dagegen einzuwenden. Zur Rückreise war um die Zeit ein Schiff der Hamburg-Amerika-Linie fällig, auf dem wir ganz anders aufgenommen wurden. Der Kapitän wies uns die Plätze zu den Mahlzeiten neben sich an und gab sich alle Mühe, uns die Fahrt so angenehm wie möglich zu machen. Dies gelang ihm auch bestens, da er sich als ein liebenswürdiger und nachdenklicher Mann erwies, mit dem ich manches fesselnde Gespräch geführt habe. Ich habe ihn später während des Krieges in Hamburg oder Kiel wiedergesehen. Er kommandierte einen Minensucher und sagte mir, was für ein wunderliches Gefühl das tägliche Bewußtsein bewirkt, daß man jeden Augenblick auf eine Mine geraten und in die Luft gesprengt werden kann. Auch den netten Oberst von der Herreise trafen wir wieder an; er hatte seinen Trupp abgeliefert und kehrte zum Dienst nach Deutschland zurück.

Sehr empfindlich war uns aber der Wechsel des Wetters aus dem sonnigen Süden in den dunklen und nebeligen Dezember der Heimat. Mit jedem Tage wurde es um ein Beträchtliches kälter und trüber. So verließen wir das Schiff schon in Antwerpen, da wir von dort etwa zwei Tage früher mit der Eisenbahn nach Hause gelangen konnten, als über Hamburg. Es war noch Zeit, im Museum die berühmten Rubens-Bilder zu betrachten. Sie machten einen sehr theatralischen Eindruck auf mich. Technisch fielen mir die Flecken von reinem Zinnober auf, die er in die tiefsten Schatten des Fleisches seiner Gestalten gesetzt hatte, und die unverkennbar eine gute Wirkung machten. Erst meine späteren Farbforschungen lehrten mich, daß sie der Ausdruck wohlbeachteter »Binnenfarben« waren.

Salzburg. Als Garteninseln muß ich auch die zweimal acht Tage bezeichnen, welche ich an der Salzburger Sommeruniversität zugebracht habe. Es waren dies freie Zusammenkünfte, zu denen Gelehrte als Professoren eingeladen wurden, die etwas Neuartiges zu sagen hatten.[450] Die Vorträge jedes einzelnen dauerten längstens eine Woche; die Zusammenkunft dauerte zwei, so daß nach einer Woche ein vollständiger Personenwechsel stattfand. Die äußere Ordnung war eine lustige Nachahmung akademischer Verhältnisse; so wurde für jede Woche ein neuer Rektor gewählt. Auch mir wurde die Würde zuteil; es ist das einzige Rektorat, das ich bekleidet habe.

Da für diese Zusammenkünfte vorwiegend Leute lebendigen Geistes eingeladen wurden, so hatte man Gelegenheit genug, angenehme Bekanntschaften zu machen, zumal sehr mannigfaltige Fächer vertreten waren. Auch die Zuhörer waren festlich gestimmt und daher besonders empfänglich. Obwohl die Teilnahme an den Zusammenkünften für mich mit Vortragarbeit verbunden war, habe ich diese Tage doch durchaus als Festtage in meiner Erinnerung, und es wäre gut, ähnliches wieder einzurichten.

Karlsbad. Eine ganze Perlenschnur von Garteninseln habe ich erlebt, seitdem ich alljährlich nach Karlsbad pilgere. Denn dort finde ich jedesmal den nächsten Freund meiner alten Tage vor, dessen erwärmende Nähe entscheidend zu der Erfrischung beiträgt, die ich von dort heimbringe.

Im Jahre 1911 hatte der geniale Organisator des gewerblich-technischen Bildungs- und Versuchswesens in Österreich, Wilhelm Exner, die Einladung zum Museumsvortrag in München angenommen. Ich hatte ihn schon einige Male, in Wien wie auf den Museumsversammlungen in München gesehen und wir waren flüchtig bekannt geworden. Aufmerksam auf ihn hatten mich Berichte über eine seiner schöpferischen organisatorischen Arbeiten gemacht und ich gedachte die Gelegenheit in München zu benutzen, um mit ihm näher bekannt zu werden. Zufällig hatten wir beide im Rheinischen Hof Wohnung bestellt. Als ich das Haus betreten wollte, kam er gerade heraus, ein Heft in der Hand. Er erkannte mich und sagte mir, das Heft vorweisend: da steht Ihr Name darin. Ich machte[451] ein Fragezeichen im Gesicht und er erläuterte: mein Vortrag betrifft die internationalen Organisationen, und da habe ich natürlich Ihrer Arbeiten auf diesem Gebiete gedenken müssen.

Dies war der Anfang einer Freundschaft, die mich seitdem mit diesem großen und guten Manne eng verbunden hat. Obwohl er 14 Jahre älter ist als ich und eben (Frühling 1927) sich anschickt, das 87. Lebensjahr zu vollenden, erfüllt er noch täglich die anspruchsvollen Pflichten eines Leiters und Organisators der Österreichischen technischen Versuchsanstalten und Museen und fügt alljährlich dem reichen Komplex dieser Gebilde das eine und andere neue Glied hinzu, das er mit dem ihm eigenen Leben zu erfüllen weiß.

Wien und Groß-Bothen sind so weit entfernt, daß auch diese Beziehung, so wertvoll sie mir war und ist, wegen Mangels an persönlichem Zusammensein einer langsamen Verflüchtigung in den Nebel der Erinnerung verfallen wäre, wenn wir uns nicht alljährlich anfangs einmal, jetzt zweimal einige Wochen lang in Karlsbad sehen würden.

Ich hatte etwa um mein 60. Lebensjahr an Gallenkoliken zu leiden begonnen, welche sich anfangs nach einigen Stunden zu beruhigen pflegten, sich aber dann häufiger zu schmerzhaften Anfällen entwickelten. Bei einer zufälligen Erwähnung gab mir Exner den dringenden Rat, dagegen eine Karlsbader Trinkkur zu brauchen. Er selbst schrieb seine Frische und Leistungsfähigkeit, die mich wie Alle in Erstaunen setzte, dem Umstande zu, daß er an dreißig Jahre unausgesetzt regelmäßig in Karlsbad gewesen war und es so auch fernerhin zu halten gedenke. Es bedurfte keiner großen Überredung, um mich zu veranlassen, mit ihm im bevorstehenden Herbst in Karlsbad zusammenzutreffen. Rechtzeitig war ich dort, und damit begann eine ununterbrochene Reihe von Begegnungen in der schönen Sprudelstadt, die sich als eine wahre Labung für Geist[452] und Körper erwiesen. Zwar endete der erste Kuraufenthalt bei mir mit einem ziemlich schmerzhaften Anfall des Leidens. Aber ich erfuhr, daß dies eine sehr häufige Erscheinung, bedingt durch den Abgang der vorhandenen Gallensteine war, und tatsächlich haben die Störungen sich, unterbrochen durch einige Rückfälle, vermindert und scheinen nun ganz ausbleiben zu wollen.

In Exners Gesellschaft fand ich in den ersten Jahren den Werkwalt Wilhelm Doderer, einen Miterbauer des Nordostseekanals. Wir drei Wilhelme pflegten die Tage mit Brunnentrinken, Wandern und Essen gemeinsam zu verbringen, wobei Exner unbestritten die Führung hatte. Er zwang uns, täglich eine Wanderung von mindestens 20000 Schritten zu erledigen, die er gewissenhaft an einem Schrittzähler kontrolierte, den er nebst unzähligen anderen Geräten stets mit sich führte und brachte in unser Feriendasein einen strengen Rhythmus, der den Tag wohltätig erfüllte und uns gar kein Bedürfnis nach den üblichen Zerstreuungen empfinden ließ.

Exners Kreis von Freunden und Bekannten war sehr groß, so daß ich durch ihn häufig mit hervorragenden Zeitgenossen, vorwiegend natürlich Österreichern bekannt gemacht wurde. Ich nenne sie nicht einzeln, weil sich keine dauernden Beziehungen daraus ergeben hatten.

Ein Experiment zur Kunstlehre. Die Zeit von zwei bis drei Wochen, die ich in Karlsbad zuzubringen pflege, wird nicht vollständig mit kurgemäßem Nichtstun ausgefüllt. Der Zufall hat es meist gefügt, daß inzwischen die eine oder andere Einladung an mich gelangte, einen Aufsatz für irgendeine Zeitung oder Zeitschrift zu schreiben, der ich fast immer nach gekommen bin. Für solche Arbeiten ist die Abwesenheit der häuslichen Umgebung und der lang ausgedehnte Aufenthalt im Freien besonders förderlich, da man unwillkürlich andere Vergleiche und Bilder anwendet, als sie am gewohnten Schreibtisch kommen. Auch habe ich[453] oft diese Zeiten benutzt, um auf stundenlangen Einzelwanderungen Gedankenreihen durchzuführen, die sich bis dahin mir nur in ihren Anfängen und ungefähren Verhältnissen gezeigt hatten.

So überlegte ich mir einmal die Mittel, deren ich mich etwa noch bedienen könnte, um die Menschen schneller mit meinen Farben- und Harmoniegedanken vertraut zu machen. Ich bedachte dabei die starken und dauerhaften Wirkungen der poetischen Form. Spielen doch Reim und Rhythmus beispielsweise für die kaufmännische Reklame eine durchgreifende Rolle.

Nun hatte ich zwar in meinen ganz jungen Jahren gelegentlich Knittelverse gemacht; zu einem lyrischen Gedicht hatten aber meine Gefühlserregungen niemals ausgereicht. Und in späteren Jahren ist der einzige Vers, den ich gemacht habe, der energetische Imperativ gewesen: vergeude keine Energie, verwerte und veredle sie, der übrigens meist in abgekürzter Form mit nur einem Zeitwort ausgesprochen wurde. Auch behaupteten die Gegner der Energetik, der Vers sei schlecht, was ich meinerseits nicht finden kann.

Da ich durch meine ausgedehnte Schriftstellerei meine guten Anlagen zur Sprachgestaltung mannigfaltig ausgebildet hatte, so sah ich keinen Grund, weshalb ich nicht auch mehr als zweizeilige Gedichte sollte machen können. Von Goethe hatte ich durch die Freude an seinen Dichtungen eine reiche Anschauung der technischen Mittel gewonnen, und da ich mir im Zusammenhang mit den Farben- und Formenforschungen auch eine genügende Klarheit über das Wesen des Kunstwerkes verschafft hatte, so waren meines Erachtens für mich alle Voraussetzungen zur Erzeugung von Poesien gegeben.

Ich begann zunächst ein Lehrgedicht über die Farben anzufertigen, um Erfahrungen darüber zu sammeln, wie sich die allgemeine oder wissenschaftliche Erkenntnis in die Praxis übersetzen läßt. Es ergab sich bald eine Technik[454] ganz ähnlich wie bei der Gestaltung eines Bildes. Nachdem man sich über den Inhalt klar geworden ist, stellt man eine Skizze her, durch welche das Versmaß und die wichtigsten Reime festgelegt werden, zunächst ohne Rücksicht auf die Feingestaltung, welche die spätere Aufgabe ist. Dann wird Zeile auf Zeile in Ordnung gebracht, wobei man sich nicht scheuen darf, auch gut gelungene Zeilen zu verwerfen, wenn sie mit den anderen nicht zusammengehen wollen. Der Zwang der Reime führt oft zu neuen Gedanken und Bildern. Dabei muß man allerdings sorgfältig vermeiden, den Eindruck zu erwecken, als seien diese nur des Reims wegen gebracht worden. Denn die organische Verbindung von Form und Inhalt ist die Hauptarbeit; je besser sie gelingt, um so besser wird das Kunstwerk.

Als ich mir dies klar gemacht hatte, war ich auch klar darüber geworden, daß die großen Kunstperioden weitgehend dadurch gekennzeichnet werden, daß entweder die Form oder der Inhalt in den Vordergrund tritt. Für diesen Gedanken suchte ich dann nach einer poetischen Gestalt und erdachte folgendes Gedicht:


Inhalt! Form! So tobt der Krieg.

Kaum daß Form zur Not gesiegt hat,

Ruft der Inhalt: mein der Sieg!

Prahlt, daß er sie tot gekriegt hat.


Krieg verfliegt, doch Liebe siegt.

Nur wenn Herz zu Herz gesellt

Form sich an den Inhalt schmiegt,

Kommt ein Kunstwerk auf die Welt.


Wer mit der Technik der Dichtung bekannt ist, wird bemerken, daß hier eine ganze Anzahl von Hilfsmitteln höherer Ordnung über Versmaß und Reim hinaus verwendet[455] worden sind, um die Wirkung zu steigern. So ist denn ein wohlklingendes und eindrucksvolles Gedicht zustande gekommen.

Um den Zufall auszuschließen, habe ich mir dann folgende Aufgabe gestellt. Zufällig war mir ein Aufsatz von A. Holz im Gedächtnis geblieben, in welchem der Reim beschuldigt wurde, die Poesie durch den Zwang zu schädigen, den er dem Dichter auferlegt. Mir war bei meinen Experimenten der Reimzwang mehrfach nützlich gewesen, den Inhalt lebendiger zu gestalten und ich hatte es meist ausführbar gefunden, einen klangvollen Reim, den ich anbringen wollte, durch einen glücklichen Gedanken zu rechtfertigen. Nun bemerkte ich, daß die Anzahl der Worte, die sich auf Reim reimen, auffallend klein ist; ich fand nur Keim, Schleim, Honigseim, Heim, Leim. So stellte ich mir die Aufgabe, alle diese Reime zu einem Gedicht zu verbinden. Hierzu war offenbar nötig, einen interessanten Gedankengang zu finden, an dem sich diese sehr verschiedenartigen Begriffe aufreihen ließen. Die Sache sah anfangs sehr verzweifelt aus, als ich um 11 Uhr vormittags zu einer einsamen Denkwanderung längs dem »Faulenzerweg« aufbrach und zunächst nichts im Sinne hatte, als den Satz: Reim ist Schicksal. Ehe ich um 1 Uhr an den Mittagstisch kam, hatte ich indessen schon zwei Drittel der Aufgabe gelöst; nur Leim und Schleim waren nachgeblieben, die ich nicht hatte bewältigen können. Aber ich gab die Hoffnung nicht auf; hatte doch Goethe es fertig gebracht, in seinem ersten Sonett reimen und leimen zu reimen. Nämlich:


So möcht' ich selbst in künstlichen Sonetten,

In sprachgewandter Meister kühnem Stolze

Das beste, was Gefühl mir gäbe, reimen;

Nur weiß ich hier mich nicht bequem zu betten,

Ich schneide sonst so gern aus ganzem Holze,

Und müßte nun doch auch mitunter leimen.
[456]

Also ging ich nach dem Mittagsschläfchen mit frischen Kräften ans Werk und führte es in zwei weiteren Stunden glücklich durch. Nämlich:


»Reim ist Schicksal. Einzuschränken

Zwingt er der Gedanken Lauf.«

Reim ist Keim: zu frischem Denken

Tut er neue Pfade auf.


Reim ist Honigseim den Ohren,

Gibt dem Rhythmus Melodie.

Reim das Heim, drin hat geboren

Neue Schönheit Poesie.


Reim ist Leim: er klebt ergötzlich,

Was sich sonst nicht leicht gesellt.

Reim ist Schleim, auf welchem plötzlich,

Wer nicht achtgibt, rutscht und fällt!


Es war im Herbst 1925 bald nach Beendigung des ersten Bandes der »Lebenslinien«, als ich diese und manche andere ähnliche Experimente ausführte. Sie genügten mir, um mich zu überzeugen, daß meine Kunstlehre richtig war. Doch stand mein Sinn nicht danach, die Lorbeeren eines Dichters zu gewinnen und ich habe seitdem keine Gedichte mehr gemacht. Vielmehr wendete ich mich mit verstärkter Hingabe den Problemen zu, die es in dem neu erschlossenen Gebiete der Lichtkunst zu lösen gab.

Die neue Richtung. Frage ich mich, in welchem Sinne ich mein Lebensschifflein während des Restes meiner Jahre steuern soll, so spricht alles dafür, das stürmische Meer solcher Tätigkeiten zu verlassen, bei denen der Erfolg von der unmittelbaren Beeinflussung anderer Menschen abhängt, und eine Lebensform zu wählen, welche wesentlich auf das Glück der Hütte, die widerstandsfreie Betätigung[457] der Restenergien eingestellt ist. Zunächst habe ich die Erscheinungen des Alterns bei mir zu einem Gegenstande wissenschaftlicher Beobachtungen gemacht, der aus naheliegenden Gründen mein Interesse immer wieder neu anregt, und habe dadurch einen sehr großen Gewinn erzielt. Den meisten Menschen sind sie eine Ursache des Kummers und sie verschärfen die unwillkommenen Seiten dieser naturnotwendigen Erscheinung oft noch, indem sie sie zu verbergen trachten und sich dadurch mancherlei unnötige Belästigung und Schädigung zufügen, weil sie sich dort Anstrengungen zumuten, wo Schonung eine physiologische Notwendigkeit wäre. Ganz anders wirkt die wissenschaftliche Einstellung. Über naturgegebene Verhältnisse regt man sich um so weniger auf, je tiefer man sich durch wissenschaftliche Denkgewöhnung mit dem Weltenrhythmus der Naturgesetzlichkeit durchdrungen hat. Dann findet man sogar in dem Gefühl des eigenen Mitschwingens in diesem universellen Rhythmus eine starke Erhebung und ist ganz einverstanden, sich von der großen Welle seinerzeit auch unter die Schwelle des Bewußtseins tragen zu lassen.

Aber derartige Gedanken und Stimmungen füllen den Tag nicht aus und die lebenslängliche Gewöhnung heischt eine praktische Tätigkeit, die irgendwie gute und erfreuliche Folgen hat. Hier finde ich nun, daß die mannigfaltigen Linien meines Lebens sich so natürlich zu einem Band verflechten, als wäre das ganze Gewebe vorbewußt darauf angelegt worden.

Noch heute habe ich große Mühe, die mehr oder weniger zufällige Beschäftigung des Tages nicht als eine Aufgabe anzusehen, deren Vernachlässigung Schuldgefühle bei mir hervorruft. Ich habe mit anderen Worten bisher das Leben als Pflicht betrieben und die Tatsache, daß deren Erfüllung mich glücklich machte, mehr als einen erfreulichen Nebenerfolg denn als einen Lebenszweck[458] angesehen. Praktisch war es einerlei, wie ich mich dazu stellte; das Glücksgefühl war mir ein Zeichen dafür, daß meine Arbeit mit bestem Güteverhältnis, also gemäß dem energetischen Imperativ vor sich ging. So lag Pflicht und Glück am gleichen Ort.


Nun aber, wo die tägliche Menge wohlgenutzter Energie immer kleiner wurde, besann ich mich darauf, daß das Glück den unmittelbaren Lebenswert und -zweck ausmacht, und die Pflicht nur den mittelbaren, nämlich den Weg dazu. Vermöge eines ganz allgemeinen seelischen Vorganges gestaltet sich immer wieder für das Gefühl das Mittel zum Zweck, und es verbinden sich mit Dingen, die eigentlich nur Mittel zum Glück sind, unmittelbare Glücksgefühle. So ist es insbesondere mit der Arbeit, der ich so viel Glück zu verdanken hatte. Diese muß nun in den Hintergrund treten und ich stehe vor der Frage: welche unmittelbaren Glücksquellen sind mir noch zugänglich?


Der bekannteste und vielleicht auch beste Weg, nämlich möglichst viel einzelne Menschen meiner nächsten Umgebung durch seelische und sachliche Teilnahme glücklicher zu machen, oder ihr Unglück zu lindern, stand mir nicht offen, da mir die Fähigkeit dazu abgeht, und ich mir nicht zutraue, den Mangel jetzt noch ersetzen zu können. Die Menschen sind mir meist nur als Menge wichtig und interessant gewesen, und jeder einzelne fast nur als Vertreter seiner Gattung.


Dagegen gibt es einen anderen Weg, der sich mir eben aufgetan hatte, nämlich die Kunst. Kunst ist die Kunst, auf künstlichem Wege willkommene Gefühle hervorzurufen. Die Entdeckung der Harmoniegesetze für Farben und Formen, aus der sich weittragende Aufklärungen über die Kunst im allgemeinen ergeben hatten, öffnete mir ein Feld, oder besser gesagt einen Garten,[459] in welchem ich Schönheit, also Glück züchten konnte, wie der Gärtner Blumen züchtet. Denn die praktische Anwendung dieser Gesetze zur Herstellung schöner Gebilde war ja noch ganz unbekannt. Sie mußte methodisch nach den Regeln der Ordnungslehre erforscht werden; jede einzelne Anwendung ergab nicht nur wissenschaftliche Aufklärung, sondern unmittelbaren Genuß. Und dieser Genuß war nicht auf mich beschränkt, denn ich konnte ja die Bilder, die ich herstellte, der Öffentlichkeit zugänglich machen. Dabei konnte ich mich ganz außerhalb des Einflusses von Lob und Tadel fühlen, da diese mich gar nicht als Künstler trafen. Denn ich hatte die Harmonien ja nicht als persönliche Leistung erzeugt, sondern als von der Wissenschaft geforderte Veranschaulichungen sachlicher Naturgesetze. Lob und Tadel bezeichneten vielmehr nur das Maß des Verständnisses, das diese Gesetze bei dem Beschauer gefunden hatten.

Künstler und Forscher. Dies ist eine sehr nachdenkliche Sache. Jeder, der mit wirklichen Künstlern persönlich bekannt ist oder war, weiß, daß diese sich fast andauernd in einem Zustande des Katzenjammers befinden, der nur zuweilen von erhebenden Stunden voller Leistungsfähigkeit unterbrochen wird. Diese vermitteln allerdings so starke Glückserlebnisse, daß der Künstler bei seinem Beruf bleiben will.

Die Ursache dieser Zustände ist, daß der Künstler unterbewußt schafft und schaffen muß. Denn wenn die Bedingungen des Schaffens bewußt sind, handelt es sich nicht mehr um Kunst, sondern um Wissenschaft. Nur wenn die vielen inneren (und auch äußeren) Voraussetzungen erfüllt sind, welche dem Künstler freie Verfügung über sein unterbewußtes Können gewähren, kommt eine Leistung zustande. Zwischen diesen glücklichen Momenten liegen aber lange Niederungen verminderter Energie, die ertragen werden müssen, bis wieder[460] einmal die glückliche Stunde schlägt. Dies trifft namentlich beim jungen Künstler zu. Der alte hat, wenn er wirklich ein Könner ist, so viel von jenen Voraussetzungen in das Gebiet des Geläufigen, wenn auch meist noch nicht klar Bewußten heraufgehoben, daß ihm vieles auch in der Zwischenzeit gelingt und er nicht so sehr von den Niederungen zu leiden hat.

Ist nun aber das Werk hergestellt, so muß sich der Künstler (ich denke in erster Linie an den Maler) sagen, daß es weit entfernt geblieben ist von dem Ideal, das ihm die innere Anschauung gezeigt hatte. Er möchte bessern, aber manche schlimme Erfahrung hat ihn gelehrt, daß der Versuch dazu sein Werk oft nicht besser, sondern schlechter gemacht hat, und daß dann die Wiederherstellung des früheren Zustandes sehr schwierig, ja meist unmöglich ist. Also läßt er es lieber, wie es ist, und hat wieder eine dauernde Ursache zur Unzufriedenheit. Der Dichter und Toner ist hier besser daran, denn er kann sein Werk ändern, ohne den früheren Zustand zu verlieren, und unter mehreren Lösungen die beste aussuchen und beibehalten.

Alles dies fällt bei der wissenschaftlichen Erzeugung eines harmonischen, also schönen Werkes fort. Die Herstellung selbst ist eine dauernde Freude: man sieht die Schönheit immer klarer und eindringlicher aus dem Gerüst zutage treten und erfreut sich um so mehr des reinen, fertigen Werkes. Dessen Schönheit aber übertrifft meist die Vorstellung, die man sich vorher gemacht hat. Die Fantasie des Künstlers kann nur (wenn auch gesteigert) wiederholen, was er erlebt hat. Dem Forscher aber tun sich völlig unbekannte Welten auf, wenn er die an einzelnen Fällen erkannten Gesetze auf alle neuen Fälle anwendet, welche ihm die Ordnungswissenschaft darbietet. Und was er so erzeugt, ist in seiner Art vollkommen und kann nicht übertroffen werden, ebensowenig wie z.B. ein wissenschaftlich[461] genau eingestellter reiner Dreiklang übertroffen werden kann.


Oft genug habe ich harmonische Bilder abends bei Lampenlicht mit Hilfe meiner Farborgel hergestellt und die entstandenen Harmonien nicht besonders schön gefunden. Denn sie waren durch das vorherrschende Rot und Gelb des Lampenlichts verstimmt und deshalb unwirksam. Wenn ich sie dann am nächsten Morgen besah, war ich erstaunt und entzückt über ihre Schönheit. Hat man aber eine Harmonie genauer kennen gelernt, so empfindet man sie auch am Abend trotz der Verstimmung als Harmonie, ganz ebenso, wie man Dreiklänge auf dem Klavier oder Harmonium als solche empfindet, obwohl sie durch die gleichschwebende Temperatur merklich verstimmt sind.


Ein grundsätzlicher Kulturfortschritt. Betrachtet man die eben beschriebenen Verhältnisse vom Standpunkt der allgemeinen Kulturwissenschaft, so zeigt sich folgendes Bild.


Alle Wissenschaften haben als Künste angefangen, d.h. als unterbewußte Fertigkeiten. So hat es eine Schmiedekunst und eine Mühlenbaukunst gegeben, eine Kunst des Schreibens und Rechnens und unzählige andere, die inzwischen Wissenschaften geworden sind. Dies gilt zunächst durchaus für die unteren Stufen in der Pyramide der Wissenschaft. Je höher man aufsteigt, um so unvollständiger ist die Wissenschaft entwickelt und um so größer ist der künstlerische, d.h. unterbewußte Anteil im Können ihrer hervorragendsten Vertreter. So besteht in der Medizin namentlich wegen unzulänglicher Verwissenschaftlichung ihres psychologischen Anteils neben der wissenschaftlichen Grundlage der ärztlichen Tätigkeit ein sehr bedeutender künstlerischer Anteil beim praktischen Arzt. Auch wer einen hervorragenden Chirurgen operieren[462] sieht, kann sich dem Eindruck der künstlerischen Leistung nicht entziehen.

Nun ist das, was man Kunst im engeren Sinne nennt, die willkürliche Erzeugung willkommener Gefühle im Empfänger, ebenso ein Stück angewandter Wissenschaft, wie die Heilkunst. Nur gehört sie nicht in erster Linie zur Physiologie, wie die Medizin, sondern sie ist eine psychologische Technik. Daher steht ihre wissenschaftliche Entwicklung auf viel niedrigerer Stufe, als die der Medizin, und zwar auf einer so niedrigen, daß sie noch durchaus als »Kunst«, d.h. als unterbewußtes Können ausgeübt und angesehen wird.

Es kann aber gar kein Zweifel bestehen, daß früher oder später auch hier der Aufstieg von der Kunst zur Wissenschaft sich vollziehen muß und wird und daß alsdann ein Kunstwerk d.h. ein schönes Gebilde ebenso wissenschaftlich erzeugt werden wird, wie man heute einen an Diphterie erkrankten Menschen durch Einspritzen des Serums heilt. Da ein solcher Vorgang nur langsam und stufenweise erfolgen kann, so wird der künstlerisch-unterbewußte Anteil bei der Erzeugung von Schönheitswerten noch lange stark vorwiegen. Aber es liegt in der Natur der Sache, daß der andere Anteil sich zunehmend steigern muß.

An der Erstentwicklung dieser neuen Kulturepoche in der Kunst als Entdecker und Forscher mitarbeiten zu können, ist das besondere persönliche Glück, das ich meiner lebenslänglichen Hingabe an die Wissenschaft verdanke. In diesem Glück werde ich nicht gestört sondern bestärkt durch den einstimmigen Widerspruch der Kunstschreiber aller Art, vom Tagschreiber bis zum Professor. Denn gerade die Einhelligkeit des Widerspruches zeigt mir, wie groß und wie umgestaltend der Schritt ist im Verhältnis zum ganzen bisherigen Kunstbetrieb, dem theoretischen wie dem praktischen. Und[463] da niemand mich hindern kann, meine harmonischen Werke unter entsprechenden Glücksempfindungen zu erzeugen, so hat ihr Widerspruch keinen anderen Erfolg, als daß er unzähligen Mitmenschen, die ihnen nie Übles getan haben, eine unerschöpfliche Quelle reinsten Glückes zudeckt und trübt. Lukas 11,52 heißt es: Wehe euch, ihr Schriftgelehrten, denn ihr habt den Schlüssel der Erkenntnis versteckt. Ihr kommt nicht hinein und wehret denen, die hinein wollen.

Die nächsten Aufgaben. Anfangs untersuchte ich die farbigen Harmonien, indem ich mit Hilfe meiner Erkenntnisse über die Harmonie der Formen einfache geometrische Muster herstellte und sie mit Farbe ausfüllte. Dies wurde mir bald langweilig, auch als ich verwickeltere Muster wählte. Bei den Japanern (die es von den Chinesen haben) konnte ich sehen, wie man auch naturalistische Anregungen in gesetzlicher Formgestaltung verwerten kann, wobei die Teilnahme des Beschauers nicht nur durch die Erinnerung an die Naturform, sondern auch durch die Freude an ihrer formgesetzlichen Gestaltung erfolgreich belebt wird.

Als nächstliegendes und ausgiebigstes Material hierfür bieten sich die Blumen an, weiter Pflanzen im allgemeinen, und Tiere, insbesondere die niederen. Ich konnte hier einen großen Schritt über die Japaner hinaus tun, indem ich die Farbgebung streng nach den Harmoniegesetzen wählte. Auch die Japaner haben in ihren bunten Holzschnitten manche gute Farbwirkung, die erfahrungsmäßig gefunden und durch Tradition festgehalten worden ist. Aber dazwischen kommen doch auch arge Fehler vor, namentlich seitdem durch die neuen Farbstoffe Wirkungen entstanden, für die es keine Sicherung durch Tradition gab.

Ich habe deshalb eine große Anzahl Blumenbilder gemalt, indem ich die natürliche Erscheinung nur als[464] Anregung nahm und sie sowohl nach Form wie nach Farbe gesetzlich gestaltete. Mir haben die Erzeugnisse sehr wohl gefallen und ebenso vielen, die sie gesehen haben. Häßlich hat sie keiner gefunden, nicht einmal gleichgültig. Daher mußten die Gegner, an denen es nicht fehlte, einen anderen Angriffspunkt suchen. Es kam etwa folgende Kritik heraus: Er will die ganze Malerei revolutionieren und malt Blümchen!

Vor einigen Jahren sah ich ein modernes Gemälde, eine etwa metergroße dunkelgrau grundierte Leinwand. Darauf waren mit grellen, sehr unschönen Farben wolkige, strahlige und rundliche Gebilde von unverständlicher Beschaffenheit gemalt. Im Katalog stand dazu: Kosmisches Geschehen. Das war allerdings unvergleichlich viel großartiger, als meine Blümchen, aber ich glaube nicht, daß es irgendeinem Menschen Freude gemacht hat. Auch seinem Schöpfer nicht.

Außer jenen einfacheren Naturerzeugnissen habe ich begonnen, auch aus größeren Gebilden, nämlich eigenartigen Landschaftbildungen die gesetzlichen Formen- und Farbenharmonien herauszuarbeiten, die, wenn auch in unvollkommener Ausprägung die Ursache unseres Gefallens an ihnen sind. Ich finde diese Aufgaben ganz ähnlich denen bei der Herstellung eines Gedichts (III, 455) und sehe hier Schaffensmöglichkeiten vor mir, die weit über die Jahre reichen, die ich noch auszufüllen habe.

Aber schon meine Blumenbildchen hatten weitere, freundliche Folgen. Zunächst benutzte ich als Vorlagen, was mir Garten und Wiese boten, doch war das nach einiger Zeit erschöpft. Den Garten der »Energie« hatte ich während der Kriegszeit verwildern lassen und hernach hatte ich kein Geld, um ihn wieder in Stand zu setzen. Gelegentliche Besichtigungen anderer Gärten und wiederholte Besuche der Dresdener Gartenbauausstellung 1926 zeigten mir den Reichtum neuer Formen und Farben,[465] welche die hoch entwickelte Gartenkunst unserer Tage erzeugt hat und fortlaufend erzeugt. So begann ich, ein immer stärkeres Interesse an der gärtnerischen Entwicklung des ausgedehnten Geländes zu nehmen, welches zur Energie gehört. Von der Betrachtung des Gartens als einer Vorratstelle für malerische Anregungen fühle ich mich mehr und mehr zu der Aufgabe hingezogen, den Garten selbst als Kunstwerk zu entwickeln, um in der Teilnahme am Gedeihen meiner Blumen einen unmittelbaren Lebensinhalt zu finden.

Auf solche Weise wachsen meine Arbeiten in und außer dem Hause in eins zusammen und gewähren mir doppelte Freuden. Ich brauche nicht die Vergänglichkeit der Blumenschönheit zu betrauern, denn ich kann einen wesentlichen Teil davon, zu reinen Harmonien erhoben, in meinen Bildern festhalten. Und da ich die Gewohnheit habe, die Farbzeichen der im Bilde verwendeten Farben aufzuschreiben, so hinterbleibt von jedem meiner Bilder die Partitur. Sie ermöglicht es, auch wenn die Zeit das Bild verändert hat, die ursprüngliche Harmonie wieder hervorzurufen und sichert dadurch diesen harmlosen aber hübschen Erstlingen eines neuen Kapitels in der Geschichte der Malerei eine gleichsam ewige Dauer. Denn sie sind nun ebenso unvergänglich, wie die größten Kunstwerke der Ton- und Dichtkunst, während die größten Kunstwerke der bisherigen Malerei wegen der Veränderlichkeit des Materials rettungslos dem Untergange ausgeliefert sind.

So fühle ich mich in den Tagen meines Abschieds vom Flügel der Ewigkeit berührt.[466]

Quelle:
Ostwald, Wilhelm: Lebenslinien. Eine Selbstbiographie. Berlin 1926/1927, S. 433-467.
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