Zehntes Kapitel.
Der energetische Imperativ.

[310] Der kategorische Imperativ. Kant verdankt seinen Ruhm und Einfluß in erster Linie seiner »Kritik der praktischen Vernunft«, einem Büchlein von 169 Seiten in der Ausgabe von Hartenstein, mittels dessen er die Lehre von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit auf äußerst künstliche und scharfsinnige Weise aus der Flut der reinen Vernunft rettete, in der sie sonst rettungslos untergehen mußte. Er tat dies, indem er neben dem Gebiet der reinen Vernunft ein davon unabhängiges der praktischen Vernunft einführte, in welchem jene Dinge unterkommen konnten. Dadurch gewann er neben den Wenigen, die seine logisch-psychologischen Forschungen in jenem Gebiet bewunderten, die Unzähligen, deren »metaphysisches Bedürfnis« er durch diese befriedigte.

Das Grundgesetz der praktischen Vernunft durfte nach seiner Lehre keine sachlichen Gedanken enthalten, sondern nur formale. In solchem Sinne gestaltete er seinen Satz, der unter dem Namen des kategorischen Imperativ so berühmt geworden ist:

Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.

Auf den ersten Blick sieht wirklich dieser Satz rein formal aus, da die Forderung der Allgemeingültigkeit[311] eine rein logische zu sein scheint und auch von Kant so dargestellt wird. Sieht man aber näher zu, so bedeutet hier die Allgemeingültigkeit nicht die logische, sondern die soziale: das Gesetz soll praktisch die menschlichen Verhältnisse regeln und keineswegs mit begrifflicher Allgemeinheit abgetan sein.

Damit aber tritt auch an dieser Stelle, wo man es am wenigsten erwartet, die soziale Natur der Ethik zutage. Dieser versteckte soziale Anteil bedingt dann auch die Fruchtbarkeit des kategorischen Imperativs.

Da ich mich natürlich mit Kants Lehre von der angeborenen Beschaffenheit des inneren moralischen Gesetzes nicht zufrieden geben konnte, fragte ich mich nach der Quelle der ethischen oder sozialen Gesinnung und Betätigung. Hier traf ich einen viel älteren Gedanken an. Ich hatte schon früh, nachdem ich die Bedeutung des zweiten Hauptsatzes für alles Geschehen, also auch das menschliche Handeln, erkannt hatte, den von der theologischen Ethik entwickelten Begriff der Sünde wider den heiligen Geist mit diesem in Zusammenhang gebracht. Sie ist bekanntlich die einzige Sünde, welche nicht vergeben werden kann (obwohl wir nach Lessing so recht nicht wissen, worin sie eigentlich besteht) und hat in solcher Beziehung Ähnlichkeit mit den Vorgängen der Energiezerstreuung, deren Folge, die Energieentwertung, auf keine Weise gut gemacht werden kann. Diese halb spielerische Gedankenreihe wurde aber ernsthaft, als ich einsah, daß alle Kultur darauf hinausgeht, die in der Natur beständig vor sich gehende Energiezerstreuung aufzuhalten, um die freie Energie für menschliche Zwecke anzuwenden. Ungeregelte Energiezerstreuung ist Energievergeudung, und so stellte sich fast selbsttätig dem kategorischen Imperativ der energetische gegenüber: Vergeude keine Energie, verwerte sie.[312]

Die Gedankenreihe, die hier in aller Kürze zusammengefaßt ist, hat in Wirklichkeit 10 bis 15 Jahre zu ihrer Entwicklung gebraucht.

Sie zeigt das Verhältnis des kategorischen Imperativ zum energetischen klar auf. Der kategorische soll seine Quelle in dem angeblich angeborenen Gewissen haben und daher absolut sein. Der energetische hat seine Quelle in unausweichbaren natürlichen Gegebenheiten, in welche der Mensch hineingeboren ist und kennzeichnet sein Verhältnis zur Umwelt und die Stufe der von ihm erreichten Kultur. Die Kultur aber ist ein Erzeugnis der Vergesellschaftung und Kants Imperativ weist sich als eine Antwort auf die Frage aus: welche Bedingung stellt der zweite Hauptsatz für das Gedeihen der Gesellschaft? Die Antwort ist: Gerechtigkeit, weil jede Ungerechtigkeit Widerstand und damit Energievergeudung bewirkt. Und damit stellt sich der kategorische Imperativ als ein Sonderfall des energetischen heraus. Nachfolgend finden diese allzu kurzen Andeutungen ausführlichere Darlegung.

Die Pyramide der Wissenschaften. Der Weg von der physikalischen Chemie zur Kulturwissenschaft (weniger zweckmäßig Soziologie genannt) ging also für mich naturgemäß durch die Energetik. Schon bei der ersten Ordnung der Denkgebiete für meine Vorlesungen über Naturphilosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich die natürliche Ordnung der Wissenschaften herausgestellt, durch welche sich die spezifisch menschlichen Probleme als die letzten, daher schwierigsten, aber unmittelbar wichtigsten von allen ergaben. Dann lernte ich Comtes Wissenschaftsordnung kennen, welche diesen Forscher zwangläufig auf den Begriff einer obersten Wissenschaft geführt hatte, die es seinerzeit noch nicht gab und die er unter dem Namen der Soziologie forderte.[313]

Einen erheblichen Fortschritt für mein Denken bedeutet dann die Einsicht, daß jede einfachere oder allgemeinere Wissenschaft als Voraussetzung für alle nachfolgenden spezielleren und höheren Wissenschaften dient, nicht aber umgekehrt. So ist die Chemie eine unentbehrliche Hilfswissenschaft der Physiologie, aber zur Kenntnis der Chemie ist Physiologie durchaus nicht erforderlich. Ich hatte früher gern die Gesamtheit der Wissenschaften mit einem Netz verglichen, wo von jedem Knoten zu jedem anderen Verbindungsfäden nachweisbar sind. Jetzt erkannte ich, daß dieses Bild unzulänglich ist, weil es jenes grundwichtige einseitige Verhältnis nicht veranschaulicht.

Vielmehr erschien mir nun die Wissenschaft wie eine Pyramide, in welcher jede untere Schicht alle oberen trägt, aber nicht umgekehrt. So einfach diese Einsicht aussieht, so folgenreich hat sie sich erwiesen. Denn sie brachte mit einem Male eine bis in die Einzelheiten gehende Übersicht über das Gesamtgebiet des menschlichen Wissens. Ich werde hernach mehrfach Gelegenheit haben, auf einzelne Anwendungen hinzuweisen.

Zum ersten Male kam mir der Gedanke 1903 während meiner ersten Reise nach Amerika (II, 320), als ich auf dem Dampfer die Festrede für J. Loebs neues Laboratorium niederschrieb. Da ich als Chemiker über Biologie etwas sagen sollte, mußte ich mir zunächst das Verhältnis beider Wissenschaften klar machen. Und um hier keine einseitigen Irrtümer zu begehen, brauchte ich Klarheit über das Verhältnis aller Wissenschaften zueinander. So baute ich zum ersten Male die Pyramide der Wissenschaften auf. Gegenüber Comte konnte ich alsbald einen wichtigen Fortschritt machen, indem ich als allgemeinste Wissenschaft nicht die Mathematik, sondern die Ordnungslehre (Mannigfaltigkeitslehre nannte ich sie damals) erkannte. Doch gelangte ich nach oben[314] angesichts des Sonderzweckes meines Vortrages nur bis zur Psychologie.

Die Anwendung des Energiebegriffes auf die Psychologie hatte ich schon vor einigen Jahren in den Vorlesungen über Naturphilosophie durchgeführt, indem ich alle geistigen Vorgänge als energetische, genauer als Umwandlungsergebnisse der in Gehirn und Nerven verfügbaren chemischen Energie auffaßte. Wie sehr dieser Gedanke von dem damals Gewohnten entfernt war, geht u.a. aus dem Schreiben hervor, mit dem der Psychologe W. James ihn und mich begrüßte (II, 303). Mir war er wichtig dadurch, daß er das berüchtigte, von Dubois-Reymond aufgestellte »Welträtsel« beseitigte, nämlich die Frage, wie aus mechanischen Bewegungen der Gehirnatome der Gedanke entstehen könne. Schon Leibniz hatte auf diese Unmöglichkeit hingewiesen. Statt aber den Schluß zu ziehen, daß daher die Vorgänge im Gehirn nicht als mechanische Bewegungen von Atomen angesehen werden dürfen – ein Gedanke, den der dogmatische Mechanist Dubois-Reymond zu denken ganz unfähig war – verwechselte er die begrenzten Fähigkeiten seines eigenen Gehirns mit den unbegrenzten Möglichkeiten menschlichen Denkens und verklärte seinen Denkfehler zu einem ewigen Welträtsel.

Für die energetische Auffassung der geistigen Vorgänge lag dagegen kein Rätsel vor, denn sie ordneten sich in das Urphänomen der Energiewandlung ein. Besondere Hypothesen über die Einzelheiten dieser Vorgänge zu machen, war noch lange nicht an der Zeit, denn schon unsere Kenntnis der einen Seite, der chemischen Dynamik des Gehirns, ist so wenig entwickelt, daß wir noch nicht einmal in der Lage sind, eine derartige Hypothese experimentell zu prüfen.

Die Einbeziehung der Soziologie in die Pyramide der Wissenschaften geschah erst 1904 bei meinem Vortrage[315] in St. Louis (II, 415). Inzwischen hatte ich Comte kennen gelernt, als ich mich um die früheren Bearbeitungen des Problems der Ordnung aller Wissenschaften zu kümmern hatte. Als höchste Wissenschaft (sie umfaßt u.a. alle sogenannten Geisteswissenschaften) hat sie alle anderen zu Hilfswissenschaften und zerfällt diesen gemäß in eine ordnungswissenschaftliche, eine energetische und eine physiologisch-psychologische Gruppe mit den Untergruppen, welche durch die Abteilungen jener Wissenschaft gegeben sind. Von besonderem Interesse war mir natürlich die energetische Soziologie.

Soziologie. Diese war zunächst nur ein leerer Rahmen, der für mich noch kein anschauliches Bild enthielt. Von einem solchen zeigten sich die ersten Züge auf der Fahrt nach St. Louis, wo ich von dem Soziologen F. Tönnies (II, 399) fördernde Anregungen erhielt. So bildete sich langsam eine zusammenhängende Gruppe von Gedanken aus, namentlich nachdem ich die Leipziger Professur aufgegeben und eine unbeschränkte Freiheit für meine Arbeiten gewonnen hatte.

Eine solche Arbeit ergab sich aus dem Antrag des Verlages J.A. Barth, für ein Sammelwerk »Wissen und Können« den ersten Band zu schreiben. Ich sagte zu unter der Voraussetzung, daß der Titel »Die Energie« sein sollte, was gern angenommen wurde. So entstand eine kurze, gemeinverständliche Darlegung von Inhalt und Bedeutung des Energiebegriffes. Sie unterschied sich von allen früheren dadurch, daß sie erstens den Energiegedanken vollkommen frei hielt von den kinetischen Hypothesen, welche man früher von ihm nicht zu trennen pflegte, und daß zweitens die grundlegende und unabsehbar weitreichende Bedeutung des zweiten Hauptsatzes (II, 174) in sachgemäßer Weise hervorgehoben wurde. Das Werkchen wurde viel gelesen, so daß es neu aufgelegt werden mußte; auch ist es in andere[316] Sprachen übersetzt worden. Es hat merklich dazu beigetragen, auch den durchschnittlichen Leser mit der Gedankenwelt der Energetik bekannt zu machen.

Als letztes Kapitel der Schrift findet sich ein Abschnitt: soziologische Energetik, in welchem ich versuchte, die Grundlinien dieses unabsehbar mannigfaltigen neuen Gebietes zu ziehen.

Juristische Energetik. Unter den neuen Arbeitsfeldern, die nun der Bearbeitung harrten, hatte ich eines schon betreten, nämlich das der Rechtswissenschaft. In den letzten Jahren meiner Leipziger Tätigkeit war die Rückständigkeit der juristischen Begriffsbildung dadurch zutage getreten, daß man für folgenden Tatbestand keinen Grund zur Bestrafung ermitteln konnte. Der Angeklagte hatte heimlich eine fremde elektrische Leitung durch einen Nebenschluß angezapft und mit dem Strom eine Lampe für seinen eigenen Gebrauch betrieben. Diesen offenbaren Diebstahl so zu nennen, weigerte sich der Richter, weil das Corpus juris und nach ihm alle Rechtsbücher den Diebstahl als die widerrechtliche Aneignung einer fremden beweglichen Sache definieren. Hier war »Elektrizität« gestohlen worden, aber da diese nicht faßbar und wägbar ist, so kann sie nicht als Sache bezeichnet werden. Noch schlimmer wurde die Verwirrung dadurch, daß nicht einmal die Elektrizität (im physikalischen Sinne der Elektrizitätsmenge) gestohlen worden war, denn diese war ja unvermindert in den Hauptstromkreis zurückgegangen. Was war also eigentlich gestohlen worden? Denn daß die Benutzung des Stromes zum Betreiben von Lampen, Motoren usw. ohne Erlaubnis des Erzeugers nicht zu den allgemeinen Menschenrechten gehört, konnte auch der scharfsinnigste Jurist nicht in Abrede stellen.

Mir war der Vorfall sehr willkommen. Denn was hier gestohlen war, ist die elektrische Energie, der[317] eigentliche Wertgegenstand, der im Elektrizitätswerk unter Aufwand von Kohle durch Maschinen erzeugt und den Abnehmern gegen Bezahlung abgegeben wird. Hier erwies sich die Energie, der man nur abstrakte Bedeutung hatte zuschreiben wollen, als so real, daß sie als Ware erzeugt und verkauft und somit auch gestohlen werden konnte.

Ich schrieb für die Deutsche Juristenzeitung einen aufklärenden Aufsatz, der aber in den Augen der Fachleute wenig Gnade fand. Die Erörterungen gingen die wunderlichsten Wege, wobei die Mängel der juristischen Ausbildungsweise gelegentlich kraß zutage traten. Das Ergebnis war schließlich ein neues Gesetz, welches auch die widerrechtliche Enteignung von Energie unter Strafe stellte.

Bei den Besprechungen hierüber mit meinen Leipziger Kollegen von der Juristenfakultät, von denen ich eigentlich nur den feinsinnigen Binding genießbar, ja erfreulich gefunden hatte, hob ich den folgenden Gesichtspunkt besonders hervor. Das Erwachen der Wissenschaften beim Ausgang des Mittelalters ist dadurch gekennzeichnet, daß eine nach der anderen sich aus dem Banne des Vorurteils befreit, als sei das Höchste schon von den Griechen und Römern geleistet worden. So beginnt die moderne Physik mit Galileis Kampf gegen die Aristotelischen Vorurteile in der Mechanik, die Astronomie mit der Verwerfung des antiken Vorurteils, daß die Erde den Mittelpunkt der Welt bilde, usf. Jede moderne Wissenschaft hat dergestalt nicht eine Renaissance, eine Wiedergeburt, sondern eine Neugeburt erleben müssen und hat sich erst entfalten können, nachdem das antike Vorurteil bewußt überwunden war. Dies läßt sich im Einzelnen für jede Wissenschaft nachweisen, mit einziger Ausnahme der Jurisprudenz. Wie die mittelalterlichen Ärzte auf Hippokrates und Galenus, die mittelalterlichen[318] Mathematiker auf Euklid schwuren und es als einen Frevel ansahen, über ihn hinauszugehen, so schwören noch die Juristen auf das Corpus juris als Inbegriff aller juristischen Weisheit, trotz offenbarer Mißerfolge. Hatte doch der als höchste Verkörperung solcher Weisheit bewunderte Senior der Leipziger Juristen, Windscheid, durch sein energisches Hineinarbeiten jener juristischen Bibel in den ersten Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich diesen so völlig unbrauchbar gemacht, daß er ganz und gar umgearbeitet werden mußte.

Es ist vielleicht gut, hier zu betonen, daß vorstehend die Verhältnisse beschrieben worden sind, wie sie vor rund 25 Jahren bestanden. Es ist mir wohlbekannt, daß seitdem jener lebensnotwendige Vorgang der Befreiung vom antiken Vorurteil begonnen hat und fortgeschritten ist. Wie weit, wage ich nicht zu beurteilen.

Ich habe diese Dinge erzählt, weil sie die Folge hatten, daß ich mich dauernd mit diesen Fragen beschäftigte und insbesondere sie als einen Bestandteil der Soziologie erkannte, die mir zunehmend in den Vordergrund trat. Ich wurde Mitglied eines Vereins für Rechtsphilosophie, der von dem Berliner Juristen Josef Kohler gegründet war, von dem ich in der Tagespresse, die er gern und reichlich bediente, mancherlei fortschrittliche Auffassungen kennen gelernt hatte. Auch habe ich in dieser Gesellschaft 1910 auf Einladung jenen Vortrag über Zweck und Wert mit Beziehung auf die Rechtsphilosophie gehalten, der mich zur ersten Aussprache des energetischen Imperativs (s.w.u.) veranlaßt hatte. Doch stieß ich, wie immer in solchen Fällen, alsbald auf den sehr bestimmten Widerspruch der Fachleute. Auch Kohler war nicht geneigt, auf eine Gedankenreihe einzugehen, an der er keinen persönlichen Anteil hatte. Da mir zunehmend der Verein als ein Privatunternehmen[319] seines Stifters zu dem Zweck erschien, ihm Einfluß und Ansehen zu sichern, so gab ich bald diese Beziehung ganz auf, zumal vielfältige andere Dinge mich in Anspruch nahmen.

Wohl aber richtete sich meine Aufmerksamkeit zunehmend auf die kulturelle Bedeutung des zweiten Hauptsatzes. In jener ersten kurzen Skizze der energetischen Soziologie, mit der ich das Energiebüchlein (III, 316) geschlossen hatte, war ich bereits so weit gekommen, daß ich als allgemeine Aufgabe der gesamten Kultur erkannt hatte, das Güteverhältnis bei der Umwandlung der niederen Energien in höhere so günstig wie möglich zu gestalten. Hiermit war ein Satz gefunden, der nicht nur eine weite Übersicht ermöglichte, sondern sich auf jede einzelne Aufgabe und Arbeit ganz unmittelbar anwenden ließ.

Ein solcher Satz kann je nach der Seite, von der aus man ihn betrachtet, auf sehr verschiedene Weise ausgesprochen werden. Unwillkürlich suchte ich nach einer möglichst kurzen und ausdrucksvollen Fassung und Fand sie in dem energetischen Imperativ.

Der energetische Imperativ. Die Entstehung der energetischen Denkweise bei mir habe ich (II, 149) geschildert. Durch die Zusammenfassung des ersten und zweiten Hauptsatzes der Energetik für den Zweck der praktischen Betätigung wurde ich auf die Formel geführt: Vergeude keine Energie, verwerte sie, die unter dem Namen des energetischen Imperativs oder auch ohne ihn allmählich ein Stück vom täglichen Gedankengut jedes denkenden Arbeiters bis zum höchsten hinauf geworden ist.

Ich habe mich zu besinnen versucht, wann ich den Namen zuerst gebraucht habe, doch nur mit unvollständigem Erfolg. Er zuerst jedenfalls in Gesprächen[320] entstanden, die ich seit 1908 über die soziale Bedeutung des zweiten Hauptsatzes geführt habe, die mich damals sehr beschäftigte. Die Ergebnisse meines Nachdenkens habe ich in dem 1909 erschienenen Büchlein: Die energetischen Grundlagen der Kulturwissenschaft niedergelegt, dessen Vorrede April 1909 datiert ist. Doch kommt weder dort noch in dem zwei Jahre später erschienenen Brückenbuch von Bührer und Saager, in welchem entsprechende Äußerungen von mir angeführt sind, der Name und Ausspruch des energetischen Imperativs vor.

Andererseits erinnere ich mich mit Sicherheit, daß ich gelegentlich der Aussprache nach einem Vortrage, den ich 1910 in dem Verein für Rechtsphilosophie über Zweck und Wert gehalten habe, den energetischen Imperativ als die Summe meiner Gedanken bezeichnet und ausgesprochen habe. Zu dieser Zeit hat er also das Licht der Öffentlichkeit, zunächst einer beschränkten, erblickt.

Goethe bemerkt einmal über den geistvollen Physiker Lichtenberg, der eine ausgedehnte schriftstellerische Tätigkeit von volkstümlicher Art betrieb: wo er einen Spaß macht, ist ein Problem verborgen. Ähnliches ist mir nicht selten geschehen: wo ich eine neuartige Gedankenverbindung zunächst nur aussprach, weil sie so putzig neu aussah, fand ich später fruchtbare Zusammenhänge. So habe ich anfangs, um meinen Gegenüber die große Bedeutung des energetischen Handelns anschaulich zu machen, es mit Kants berühmten kategorischen Imperativ auf gleichen Fuß gestellt und vom energetischen Imperativ gesprochen, und habe erst später, beim nachträglichen Überdenken dieser Wendung erkannt, daß er der Kantischen nicht nur gleich steht, sondern ihm überlegen ist. Denn der Kantische Imperativ bezieht sich nur auf die soziale Betätigung des Menschen, der[321] energetische dagegen auch auf die persönliche, also auf alle und jede Betätigung überhaupt.

Die erste Stelle, die ich finden kann, in der vor einer unbegrenzten Öffentlichkeit der Name des energetischen Imperativs erschienen ist, findet sich in einem Aufsatz, den ich im folgenden Jahr 1911 im Berliner Tageblatt veröffentlicht habe. Im gleichen Jahre erschien ein anderer Aufsatz unter dem ausdrücklichen Titel »Der energetische Imperativ«, in welchem dessen Inhalt und Umfang methodisch dargelegt wurde. Das Wort wurde alsbald populär, so daß ich 1912 eine wohlgeordnete Sammlung verschiedenartiger Aufsätze, die meist in der Tagespresse erschienen waren, unter dem Titel Der energetische Imperativ herausgegeben habe. Es hatte sich nämlich herausgestellt, daß diese rund 50 Aufsätze verschiedensten Sonderinhalts sich ohne Zwang unter diesen Gesichtspunkt bringen ließen. Seitdem darf man die Bezeichnung ohne Anführungszeichen schreiben.

Ernest Solvay. Eine neue Quelle sozialenergetischen Denkens tat sich mir auf, als mir 1907 die Schriften von Ernest Solvay und die des von ihm gegründeten Instituts für Soziologie zugeschickt wurden. Sie ergaben, daß dieser sehr bemerkenswerte Mann schon seit vielen Jahren sich zum energetischen Denken durchgearbeitet und in solcher Richtung höchst selbständige und folgenreiche Gedanken entwickelt hatte. Ich berichtete sehr erfreut darüber in den »Annalen« und das gab den Anlaß zu der Entwicklung persönlicher Beziehungen, die unter den vielen wertvollen und fesselnden Erlebnissen, die mir gegönnt waren, zu den hervorragendsten gehören.

Vor allen Dingen beschäftigte ihn die Anwendung der Energetik auf soziale Fragen, die er in großzügiger Weise durchdacht hatte. Wie meist bei genialen Autodidakten waren seine Ergebnisse ein Gemisch von weitreichenden[322] richtigen Gedanken und einzelnen primitiven Fehlern. Da bei oberflächlicher Kenntnisnahme die zweiten bei weitem am auffälligsten in den Vordergrund traten, hatte er fast nur höfliche Ablehnung bei seinen Versuchen gefunden, andere Forscher für sie zu interessieren. Um ihnen eine Stätte zu bereiten, wo sie sich in Zukunft entwickeln konnten, hatte er eine eigene Anstalt für sie errichtet und aus den vielen Millionen, die er besaß, reichlich ausgestattet. Und in der für ihn kennzeichnenden Erwägung, daß er nicht nur seine persönlichen Liebhabereien derart pflegen dürfe, hatte er gleichzeitig zwei andere Anstalten unter gleichen Bedingungen gestiftet eine für Physiologie und eine für kaufmännisches Bildungswesen. Jede dieser Stiftungen erhielt ein ausgedehntes Haus mit angemessener, ja prächtiger Einrichtung und einen Stab von wissenschaftlichen Beamten. Die Leiter aller drei Anstalten wurden wirtschaftlich so gestellt, daß sie keinerlei Lohnarbeit daneben nötig hatten, um mit ihren Familien behaglich zu leben. Auch war ihnen vertragsmäßig volle wissenschaftliche Unabhängigkeit gewährleistet, so daß ihr Amt nicht davon abhing, welche Stellung sie zu den Ansichten des Stifters einnahmen.

Neben diesen Stiftungen hatte Solvay eine stets offene Hand für andere Unternehmungen von allgemeinem Wert. In solchem Zusammenhange war er einmal nach Berlin gekommen, um gegebenenfalls ein dort geplantes Institut für Soziologie zu unterstützen. Auch ich war zu dieser Besprechung eingeladen worden. Die Anregung war von einem originalen aber beschränkten Denker namens Pollack ausgegangen, der ein Buch über Organisation unter dem Titel Methodenpolitik geschrieben hatte. Es war der Schriftleitung der »Annalen« zur Berichterstattung eingesandt worden; ich hatte es durchgelesen und vorwiegend günstig beurteilt.[323]

Jene Erörterungen führten nicht zum Ziel. Denn was die anwesenden Vertreter der Soziologie an organisatorischen Gedanken vorbrachten, lief in der Hauptsache darauf hinaus, daß das Institut ihnen die Vorarbeiten für die Einzeluntersuchungen liefern sollte, mit denen sie gerade beschäftigt waren oder sich zu beschäftigen beabsichtigten. Solvay fand diesen Gesichtspunkt offenbar zu beschränkt und zeigte keine Neigung, solche Pläne zu unterstützen. Als die Versammlung sich auflöste, wandte er sich an mich und lud mich ein, mit ihm zu Abend zu essen, damit wir uns über die Fragen der sozialen Energetik aussprechen konnten. Obwohl mein Französich sehr eingerostet war (Solvay verstand gar kein Deutsch), verbrachten wir einen angeregten Abend; beim Essen erwies er sich als ganz ungewöhnlich mäßig. Tabak und Alkohol lehnte er ab.

Dies war der Anfang einer nahen sachlichen wie persönlichen Beziehung; sie näherte sich einer herzlichen, auf gegenseitigem Vertrauen beruhenden Freundschaft. Denn wir waren beide Idealisten und erkannten uns gegenseitig bald in dieser Eigenschaft.

Persönliches. Als ich Ernest Solvay kennen lernte, war er siebzig und einige Jahre alt. Er war etwas unter Mittelgröße, von magerer aber sehniger Gestalt mit graublondem kurzem aber reichlichem Bart und Haar und blauen Augen. Die Stirn trug tiefe Längsfalten vom angestrengten Denken. Seine Jahre sah man ihm nicht an, denn er bewegte sich lebhaft und bestimmt. Dies war das Ergebnis ausgiebiger körperlicher Betätigung, die er trieb, um sich gegenüber den überaus mannigfaltigen geschäftlichen Beanspruchungen seiner weitausgedehnten Unternehmungen im Gleichgewicht zu erhalten. Wie er mir später bei einem meiner Besuche in seinem schönen Landhause bei Brüssel erzählte, war seine beste Erholung, die etwa 15 km bis zu seiner[324] Stadtwohnung zu Fuß zurückzulegen. »Das sind die einzigen Stunden, sagte er, in denen ich meinen wissenschaftlichen Gedanken nachgehen kann, da ich nur dann sicher bin, nicht jeden Augenblick gestört zu werden.« Und etwas später schickte er mir eine Anzahl photographischer Aufnahmen, die ihn mit seinen Führern bei der Besteigung eines schwierigen Schneegipfels in der Schweiz zeigten. Ich schrieb ihm damals zurück, daß ich bei diesem Anblick Neid empfunden haben würde, wenn ich nicht dieses niederträchtige Gefühl früher bei mir so vollständig wie möglich ausgerottet hätte.

So hat er hernach auch den Weltkrieg überstehen können, der ihn durch die Besetzung Brüssels seitens der Deutschen besonders schwer betroffen hat und ist erst 1922 im Alter von 84 Jahren gestorben.

Da ich gelegentlich der Weltorganisation der Chemiker, von der weiter oben berichtet worden ist, mit ihm in lebhaften Verkehr trat, bin ich wiederholt sowohl in seinem Brüsseler Hause wie auf seinem Landsitz mit ihm tagelang zusammen gewesen. Obwohl beide Wohnungen palastartig erbaut und prächtig eingerichtet waren, hielt er sich persönlich in seinem Wesen und seiner Kleidung völlig schlicht; von Geldprotzerei war er vollkommen frei. Auch er gehörte zu den erfreulicherweise nicht seltenen Reichen, die ihren Besitz vom Standpunkt der Pflicht und nicht von dem des Vergnügens betrachten und handhaben.

Kennzeichnend hierfür war die 1913 abgehaltene Feier seines 75. Geburtstages, seiner goldenen Hochzeit und des 50. Geburtstags seines Sodaverfahrens. Die zahlreichen Solvay-Sodawerke in Belgien, Deutschland, Österreich, Frankreich, England usw. waren durch ihre leitenden Männer vertreten und Solvay hatte sie ersucht, unbedingt von allen persönlichen Geschenken an ihn abzusehen. Vielmehr wünschte er, daß alles für solche[325] Zwecke bestimmte Geld für Stiftungen zum Besten der Arbeiter in den Solvaywerken verwendet werden sollte. Er hatte die hohe Freude, daß ihm für diese Verwendung mehr als drei Millionen Franken überwiesen wurden.

Die Feier war im übrigen eine große Staatsaktion, der sich Solvay wohl oder übel unterziehen mußte. Ich war seiner Einladung dazu gern gefolgt, da es mich freute, einen Idealisten in dieser Lage zu sehen. Sie bestand wie üblich in Redeakten, Festessen u. dgl. und endete mit einer theatralischen Vorführung, für welche um teures Geld ein halbes Dutzend Mitglieder der Pariser Comédie Française nach Brüssel engagiert waren. Mir war liebenswürdigerweise ein Sitz in erster Reihe angewiesen worden, so daß ich die Aufführung aus nächster Nähe betrachten konnte.

Ich muß bekennen, daß ich etwas so Kindisches kaum je in meinem Leben gesehen habe. Vielleicht in Rücksicht auf die damals herrschenden Ultramontanen oder auf die Gattin des Jubilars (was vielleicht dasselbe war) waren die vorgeführten Einakter von einer Harmlosigkeit, die an Albernheit grenzte und die schematische Weise, in der die Verse gesprochen wurden, verstärkte diesen Eindruck. Es war wie die Aufführung in einem frommen Mädchenpensionat zur Feier der Entlassung.

Ein Plauderviertelstündchen mit dem Jubilar (die Anzahl der Gäste hatte sich, vielleicht in Kenntnis des Dargebotenen, stark vermindert) entschädigte mich indessen reichlich und ich reiste am nächsten Tage mit dem zufriedenen Gefühl heim, daß hier einmal äußerer Erfolg und innerer Wert bei demselben Manne in gleicher Höhe zusammengetroffen waren.

Energetische Kulturwissenschaft. Es hatte sich allmählich so viel neues Gedankengut angesammelt, daß ich es in der gewohnten Gestalt eines Buches ordnen und aus meinem Gehirn nach außen schaffen mußte. Dies[326] geschah 1908, und im folgenden Frühling erschienen die »Energetischen Grundlagen der Kulturwissenschaft«. Sie waren Ernest Solvay gewidmet, als dem Begründer der sozialen Energetik.

Der Inhalt des kleinen Buches (184 Seiten) ist durch die Kapitelüberschriften hinreichend gekennzeichnet: die Arbeit; das Güteverhältnis; die rohen Energien; die Lebewesen; der Mensch; die Beherrschung fremder Energien; Überwindung von Raum und Zeit; Vergesellschaftung; die Sprache; Recht und Strafe; Wert und Tausch; der Staat und seine Gewalt; die Wissenschaft.

Wie ich es schon gewohnt war, fanden die neuen Gedanken seitens der Fachgelehrten einen unfreundlichen Empfang. Einige »vernichtende« Kritiken namhafter Soziologen überzeugten mich völlig von der Notwendigkeit meiner Arbeit, so unfähig erwiesen sich die Kritiker, deren Voraussetzungen und Inhalt zu verstehen. Ob das in der inzwischen vergangenen langen Zeit anders und besser geworden ist, vermag ich nicht zu beurteilen, da ich die neue Literatur der Soziologie nicht kenne. In der gegenwärtigen Praxis findet man überall zahlreiche Anwendungen der energetischen Gesichtspunkte, wobei nicht angenommen zu werden braucht, daß die Anregungen dazu unmittelbar oder mittelbar aus meinem Buche stammen. Denn das Richtige bleibt schließlich naturgemäß im Kampf ums Dasein übrig, ob es vorher theoretisch ermittelt war oder nicht.

Sehr bald konnte ich indessen die Wirksamkeit meiner Gedanken auf eine gute Probe setzen. Im Sommer 1909 fand in Bern ein internationaler Soziologenkongreß statt, zu dem ich auf Veranlassung des Professors der Philosophie an der dortigen Universität Ludwig Stein eingeladen war. Da sich dies gut mit einer Reise nach den nahen Genf verbinden ließ, wo ich eine Ehrenpromotion entgegen zu nehmen hatte, ging ich gern hin.

[327] Stein hatte einen sehr ausgedehnten Schülerkreis in Bern, den er, obwohl ursprünglich von der Geschichte der Philosophie ausgegangen, mit den jüngsten Entwicklungen seiner Wissenschaft bekannt zu machen trachtete. So hatte er auch als Erster unter seinen Kollegen, den Professoren der Philosophie, die Energetik wiederholt im Seminar und in Dissertationen bearbeiten lassen. Sein Augenmerk war stets darauf gerichtet, die Verbindungslinien zu verfolgen, die von den ältesten Gedankenbildungen sich stetig bis zu den gegenwärtigen hinziehen und freute es ihn, bei Aristoteles die ersten Keime dieser neuzeitlichen Lehre aufzudecken.

Er hatte mir für die Versammlungstage Gastfreundschaft angeboten, die ich dankbar annahm. Mit großem Privatvermögen ausgestattet, hatte er sich in Bern ein prachtvolles Haus in schöner Lage gekauft, in dem ich glänzende Unterkunft fand. Trotzdem er als Organisator des Kongresses sehr stark in Anspruch genommen war, fand er die Zeit zu eingehenden Aussprachen mit mir, aus denen sich gemeinnützige soziale Unternehmungen weitreichender Natur gestalten sollten. Aus Temperament und wissenschaftlicher Überzeugung Optimist wie ich, vielleicht in noch höherem Grade, gedachte er durch seine großen Mittel und einflußreichen Verbindungen eine energetisch-soziale Kulturbewegung zu organisieren, deren Grundlinien wir gemeinsam ausarbeiteten. Leider wurden diese Pläne zunächst verzögert durch eine längere Arbeitspause, welche ihm die Ärzte wegen Überarbeitung auferlegten, und dann vernichtet durch den Weltkrieg.

Auf dem Kongreß konnte ich mich überzeugen, wie unsicher die Soziologen sich hinsichtlich der Einordnung ihrer Wissenschaft in den Gesamtorganismus fühlten. Daraus erkläre ich mir die große Bereitwilligkeit, mit welcher sie meine Darlegungen über die Pyramide der Wissenschaften und die Einteilung der Soziologie gemäß[328] den unteren Wissenschaften entgegennahmen. Man ernannte mich zum Mitglied des in Paris beheimateten internationalen Instituts für Soziologie und ich habe wohl auch hernach einige Aufsätze für dessen Veröffentlichungen geschrieben.


Eine große Anzahl interessanter und selbständiger Denker und Forscher lernte ich bei dieser Gelegenheit kennen und schätzen. Da sich indessen daraus kein dauerndes Verhältnis ergeben hat, brauchen die Namen nicht genannt zu werden. Nur mit Ludwig Stein bin ich bis heute in dauernder freundschaftlicher Beziehung geblieben, zumal seine Übersiedlung nach Berlin (1910) uns nachbarlich nahe gebracht hat, und ich danke seiner unermüdlichen Hilfsbereitschaft manche sachliche und persönliche Förderung.


Friedensbewegung. Durch den energetischen Imperativ war ich in den Besitz eines allseitig verwendbaren Maßstabes gelangt, der mir ein Urteil über den Kulturwert der verschiedenen Bewegungen ermöglichte, die sich von Zeit zu Zeit an mich mit der Bitte um tätige Mitwirkung wandten. Beispielsweise konnte ich nicht erkennen, welcher Energievergeudung der Deutsche Sprachverein Einhalt tun wollte und fand deshalb dort kein Betätigungsfeld, obwohl es mir durch mein ganzes Leben eine wichtige Angelegenheit war, die sprachliche Gestaltung meiner Reden und Schriften so deutsch und ausdrucksvoll wie möglich zu bewirken. Auch habe ich unsere Sprache um eine Anzahl neuer Bildungen bereichert, die ohne merklichen Widerspruch in Gebrauch genommen worden sind, weil ich sie ohne Vor- oder Nachrede kurzerhand anwandte, wo sich Gelegenheit dazu gab.


Als eine Energievergeudung allerschwerster Art mußte ich dagegen den Krieg beurteilen, und so versagte ich mich nicht der Aufforderung, an dem öffentlichen Widerstande[329] gegen ihn teilzunehmen. Als Vermittler diente mir hierbei die ehrwürdige Gestalt Wilhelm Försters.

Ich hatte ihn 1907 in Paris kennen gelernt, wo ich in der Weltsprache-Angelegenheit weilte. Zufällig tagte um dieselbe Zeit der Vorstand des internationalen Amts für Maße und Gewichte, in welchem Förster Deutschland vertrat, und dieser hatte in demselben Gasthof Wohnung genommen, in welchem ich mich befand, so daß ich mit ihm und einigen anderen Delegierten häufig zusammentraf. Er interessierte sich lebhaft für unsere Arbeiten in der Weltsprachsache, erwies sich aber als stark einseitig von einigen Esperantisten beeinflußt.

Wilhelm Förster war ein frischer Greis von kleiner Gestalt ohne Körperfülle, mit vollem weißen Haar und Bart und blauen Augen, aus denen Herzensgüte leuchtete. Er war damals schon 75 Jahre alt, erschien aber von seinen Jahren keineswegs gedrückt und machte durch sein zutraulich offenes Wesen einen herzgewinnenden Eindruck.

Besonders zog mich zu ihm hin die Tatsache, daß er lange vor mir sein Leben in ganz ähnlicher Weise umgestaltet hatte, wie ich es später, ohne von ihm zu wissen, tat. Er hatte eine sehr angesehene wissenschaftliche Stellung als Professor der Astronomie und Leiter der Sternwarte an der Berliner Universität bekleidet und sie dann freiwillig aufgegeben, um sein Leben ganz in den Dienst des praktischen Idealismus zu stellen. Ich habe wiederholt seine Erlaubnis benutzt, ihn in Berlin später zu besuchen und schied von ihm immer mit dem Gefühl, wieder einmal Höhenluft geatmet zu haben, aber keine kalte und strenge, sondern sonnig-heitere.

Der Weg, welche mich zu unmittelbarer Mitarbeit führte, ging bemerkenswerterweise über die Technik. Ich hatte im Winter 1909 in der Neuen Freien Presse, Wien, einen Aufsatz veröffentlicht, in welchem ich darlegte,[330] daß durch die damals beginnende Eroberung der Luft für den menschlichen Verkehr die dritte Dimension des Raumes wirksam wird, die nicht in Frage kam, solange sich der Mensch auf der zweidimensionalen Erdoberfläche bewegen mußte. Für diese genügten lineare Grenzen, welche die Länder schieden, und diese ließen sich meist (wenn auch nicht immer) bewachen und schließen. Nachdem sich aber der Mensch durch die Luft bewegen kann, müßten die Grenzen flächenhaft werden, etwa in Gestalt von Zäunen oder Gittern, die sich so hoch erheben, daß sie nicht überflogen werden können. Das ist natürlich technisch unmöglich, und so muß diese Entwicklung letzten Endes dahin führen, daß auf den Begriff der politischen und wirtschaftlichen Grenzen (die auch eine große Energievergeudung verursachen) ganz verzichtet wird.

Der Aufsatz wurde von der Baronin Berta von Suttner gelesen, die mir alsbald brieflich ihren Wunsch ausdrückte, daß ich solche und ähnliche Gedanken der Österreichischen Friedensgesellschaft vortragen möchte, die damals unter ihrem Einflusse eine sehr rege Tätigkeit entfaltete. Ich sagte gern zu, da mich ohnedies nicht selten andere Arbeiten nach Wien führten, und lernte sie dabei persönlich kennen. Der restlose Idealismus, welcher sie erfüllte, machte den Verkehr mit ihr sehr angenehm und ich habe in der Folge nie versäumt, in dem alten Hause in der Zedlitzgasse vorzusprechen, wenn ich wieder nach Wien kam.

Frau von Suttner war damals schon fast 70 Jahre alt, aber bei mäßiger Körperfülle und mittelgroßer Gestalt lebhaft liebenswürdig in ihrem Wesen. Die Wohnung war mit schönem altem Hausrat gefüllt. In der Mitte des Empfangszimmers stand ein Tisch, auf dem unter einer geschliffenen Glasplatte die Urkunde des Nobelpreises lag, den sie für ihre Verdienste um die Sache[331] des Friedens erhalten hatte und auf den sie mit Recht stolz war.

Um dieselbe Zeit hatte ich eine lange Unterredung mit dem Japanischen Botschafter in Wien (seinen Namen weiß ich nicht mehr), der sich eingehende Auskunft über die Frage der Weltsprache erbeten hatte und mich stundenlang ausfragte. Zum Dank lud er mich auf den Abend ein, wo außer mir noch Frau von Suttner und einige andere Wiener Internationalisten anwesend waren. Später kam noch der Japanische Botschafter für Petersburg hinzu, der sich auf der Durchreise befand, nebst seiner Gattin. Sie war eine zierliche, noch jung aussehende Japanerin, leider aber in Europäischer Tracht, die ich zu Tisch führen durfte. Als Verkehrssprache mußte Französisch dienen, auf welches die Asiatischen Diplomaten am besten eingestellt waren und das Frau von Suttner geläufig sprach, während wir anderen es mehr oder weniger radebrechten. Trotzdem verlief der Abend in heiterer und angeregter Unterhaltung.

Insbesondere hatte ich die Japaner gefragt, ob die beispiellos schnelle Aufnahme der ganz fremdartigen Europäischen Kultur durch das Japanische Volk nicht zu schweren Reaktionserscheinungen, gleichsam Verdauungsbeschwerden führen würde, die sonst in anderen derartigen Fällen nie ausgeblieben waren. Sie meinten, daß ihr Volk schon mehrfach solche Vorgänge gut vollzogen habe, z.B. seinerzeit die Aufnahme der Chinesischen Kultur und rechneten auch dieses Mal auf eine glatte Assimilation. Die bisherigen Tatsachen scheinen ihnen Recht zu geben.

Eine andere Stadt, in welcher die Friedensbewegung guten Boden gefunden hatte, war Frankfurt a.M. Dort hatte die Friedensgesellschaft schon ein Vierteljahrhundert bestanden, als ich 1911 eingeladen wurde, zu dem entsprechenden Fest, das mit einer allgemeinen Versammlung[332] verbunden war, einen Vortrag zu halten. Ich habe bei dieser Gelegenheit eine Anzahl wertvoller und angenehmer Beziehungen mit den Frankfurter Friedensfreunden und darüber hinaus anknüpfen können, die mir diese tatkräftige Stadt lieb gemacht haben.

Sehr lebendige Erinnerungen sind mir an den internationalen Friedenskongreß geblieben, der 1910 in Stockholm stattfand. Dort lernte ich die internationalen Führer der Bewegung kennen, von denen mir der dänische Nobelpreisträger Bajer, ein zweiter Wilhelm Förster in seinem Wesen, in lieber Erinnerung geblieben ist. Mit Gaston Moch erneuerte ich die in Paris (III, 163) geschlossene Bekanntschaft. Auch hier hatte ich einen Vortrag zu halten, über Kultur und Krieg, der reichlichen Beifall auslöste. Mit besonderer Freundlichkeit kam mir hernach die Schwedische Kulturphilosophin Ellen Key entgegen.

Im übrigen habe ich nie eine buntere Versammlung erlebt, was die Beschaffenheit der Teilnehmer betrifft. Hier fielen einige Pariserinnen durch Kleiderluxus und Schminke auf, dort sah man bäuerliche Gestalten mit langen Haaren, dazwischen Gesichter, deren Ausdruck von verbissenem Fanatismus bis zu engelhafter Güte abgestuft war.

Die Stadt Stockholm hatte den Teilnehmern ein Festessen gestiftet, unter der Bedingung, daß keine alkoholischen Getränke dabei gereicht wurden. Dies wurde bereitwillig angenommen und ausgeführt. Ich habe nie ein Festmahl mitgemacht, bei welchem so viel geredet wurde, und zwar zuweilen ganz vorzüglich. Als wir mit dem Essen und der Fruchtlimonade fertig waren, waren wir es mit den Reden noch lange nicht. Im Garten fand sich eine Art natürlicher Kanzel auf einem Fels und von dort wurden noch einige Stunden lang die Reden fortgesetzt, bis sich schließlich die Zuhörer verloren. Zu mir[333] hatte sich ein Chinese gesellt, der recht gut Deutsch sprach, und den ich von der Notwendigkeit zu überzeugen suchte, daß sein Volk zum Zweck des Anschlusses an die Weltkultur die Weltsprache lernen müsse.


Bei diesen mancherlei Veranstaltungen hatte ich peinlich empfunden, daß ich mich nicht imstande sah, den bekannten Begründungen für die Notwendigkeit und Möglichkeit des Weltfriedens außer der Bezugnahme auf den energetischen Imperativ wesentlich Neues hinzuzufügen. Ich ergriff daher mit besonderer Freude eine unerwartete Gelegenheit dazu.


Die Französische Monatsschrift »Grande Revue« hatte mich um einen Beitrag ersucht und mir die Wahl des Gegenstandes freigestellt. Ich schrieb zurück, daß ich gern einen Aufsatz schicken würde, aber erwarten müsse, ihn umgehend unter Protest zurückzuerhalten. Die Bitte wurde wiederholt und ich schrieb einen Aufsatz: Der große Schritt, in welchem ich folgende Gedanken entwickelte.


Die geschichtliche Aufgabe Frankreichs im Europäschen Kontinent ist gewesen, neue politische Formen am eigenen Leibe zu gestalten und zu erproben, wie beispielsweise die königliche Zentralgewalt vor einem halben Jahrtausend und die Volksrevolution vor einem Jahrhundert. Das Französische Volk sei zurzeit in der Lage, die denkbar größte Leistung in solchem Sinne zu vollbringen, nämlich den Weltfrieden herbeizurufen. Dazu sei erforderlich, daß es freiwillig abrüste. Von keinem seiner Nachbarn hätte es einen Angriff zu befürchten, insbesondere wünsche in Deutschland niemand einen Krieg, da für einen solchen nirgendwo ein Ziel erkennbar ist, für welches das ganze, arbeitstätige Volk in den Kampf ziehen könnte. Zum Beweis diente, daß es 1905 das in Revolutionskrämpfen liegende wehrlose Rußland nicht[334] angegriffen hatte, etwa um die Ostseeprovinzen mit ihrer Deutschen Kulturbevölkerung sich einzuverleiben.

Der Aufsatz wurde wirklich gut übersetzt und gedruckt. Er erregte ein starkes Für und Wider, und eine Anzahl Zuschriften aus beiden Lagern wurden in den folgenden Heften mitgeteilt. Wenn damals die Mahnung auf guten Boden gefallen wäre, welch ungeheures Elend hätte das Französiche Volk sich und der Welt erspart!

Quelle:
Ostwald, Wilhelm: Lebenslinien. Eine Selbstbiographie. Berlin 1926/1927, S. 310-335.
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