Fünfzehntes Kapitel.
Abschied von der Chemie.

[364] Ein Befreiungsversuch. Ende 1900 hatte ich, erschöpft durch die immer schwieriger werdende Unterrichtsarbeit im Laboratorium an das Unterrichtsministerium ein Schreiben des Inhaltes gerichtet, daß ich mich außerstande fühlte, die mir obliegenden Pflichten fernerhin in ihrem ganzen Umfange zu erfüllen. Ich beantragte daher, meine Professur anderweit zu besetzen und mich als Honorarprofessor ohne bestimmten Lehrauftrag, doch mit Verfügung über einige Räume und Hilfsmittel für experimentelle Arbeiten an der Universität zu belassen.

Die Antwort war, daß von einem solchen Schritt nicht die Rede sein könne. Ich möge überlegen, welche Erleichterungen eintreten müßten, um mein ferneres Verbleiben als Direktor des Instituts möglich zu machen. Was irgend ausführbar sei, würde geschehen.

Schon einige Jahre früher hatte der Minister von Seydewitz gelegentlich der Institutseinweihung mich auf die Seite genommen und mich dringend ersucht, meine Arbeiten soweit einzuschränken, daß ich sie ohne Erschöpfung, ja ohne Anstrengung dauernd durchführen konnte. Ich durfte nichts bestimmtes versprechen, da der Drang zur Arbeit, wenn sich neue Probleme auftaten, unüberwindlich war. In den vorangegangenen Kapiteln[365] ist erzählt worden, welche Flut von neuen Aufgaben gerade damals sich über mich ergossen hat.

Auch diesmal kam er mir in jeder Beziehung entgegen. Zur Entlastung wurde mir ein Subdirektor beigegeben, der die geschäftliche Verwaltung des Instituts übernahm. Außerdem wurde mir auf meinen Hinweis, daß die Fortsetzung meiner Tätigkeit trotz der Erleichterung mit einem vollständigen Zusammenbruch enden könne, das Recht zugestanden, mich in den Ruhestand versetzen zu lassen, wenn ich mich später einmal doch außerstande sehen würde, das Institut weiter zu leiten. Um der Regierung für die gebrachten Opfer ein Äquivalent zu sichern, verpflichtete ich mich, das Entlassungsgesuch keinesfalls vor einem gewissen Zeitpunkt einzureichen; außerdem wuchs das Ruhegehalt mit der Dauer meines Bleibens bis zu einer mäßigen Grenze.

Auf diese Bedingungen ging ich ein, da es mir ein Bedürfnis war, den Wünschen des Ministers tunlichst entgegen zu kommen. Doch verhehlte ich weder mir noch ihm, daß ich kein Vertrauen in die Möglichkeit setzte, das Amt auf die Dauer auch unter diesen günstigen Verhältnissen zu halten.

Das Doktorjubiläum. Zunächst ging alles gut. Ich konnte mich überzeugen, daß auch ohne mein unmittelbares Eingreifen die Arbeiten in meinem Sinne und doch hinreichend selbständig weitergeführt wurden, wobei die Beteiligten alle das glückbringende Gefühl eigener schöpferischer Tätigkeit hatten. Das ergab die angenehmen und förderlichen Verhältnisse, welche früher (II, 271) geschildert worden sind.

Dann kam im Herbst 1903 die Reise nach Kalifornien, die mir eine solche Summe von Freude und Ehre, und zwar für meine bisherigen Leistungen in der Chemie gebracht hatte, daß ich unwillkürlich wieder mit freundlicherem[366] Auge auf die alten Arbeitsgebiete blickte, an denen doch soviel unmittelbares Glück gehangen hatte.

Gleichsam als sollte mir das Paradies, das ich so eigensinnig verlassen wollte, noch einmal von allen Seiten vor Augen und an das Herz gelegt werden, vereinigten sich Ende 1903 Schüler und Freunde, um eine 25-jährige Jubelfeier meiner Doktorpromotion zu veranstalten. Nach schöner Deutscher Gelehrtensitte wurde ein »Jubelband« von Arbeiten zusammengestellt und gedruckt, die von früheren Schülern beigesteuert waren. Er enthielt auf 877 Seiten 34 Abhandlungen, deren Mannigfaltigkeit mir den Umfang der Aufgaben veranschaulichte, die im Laufe der 16 Jahre meiner Leipziger Lehrtätigkeit bearbeitet worden waren. Selbst aus der Rigaer Zeit hatte sich mein damaliger Assistent H. Trey eingestellt.

Die Anzahl der Schüler, die es zu selbständigen wissenschaftlichen Leistungen gebracht hatten, wurde dabei auf 147 ermittelt; unter ihnen waren 34 als Professoren angestellt.

Eingeleitet war der Band durch einen Aufsatz von van't Hoff, der mit liebevoller Hand die Summe des ersten Vierteljahrhunderts meines wissenschaftlichen Daseins zog. Er schied die Tätigkeit als Forscher von der als Organisator. In der ersten fand er einen Aufstieg von der Lösung experimenteller Einzelaufgaben bis zur Bildung einer eigenen Weltanschauung, der energetischen. In der organisatorischen Arbeit unterschied er die Gebiete der literarischen Arbeit und des Unterrichts, also der allgemeinen und der persönlichen Beeinflussung. Zu meiner kritischen Tätigkeit bemerkt er, daß sie mir insbesondere anfangs viel Feinde verschafft haben mochte, »doch hat unzweifelhaft Ostwald durchweg das Richtige, getroffen«. Ein Urteil, das mir, wenn auch spät, eine große Beruhigung brachte, ebenso die Anerkennung, daß ich als Träger und Vorkämpfer neuer Auffassungen mit gleicher[367] Begeisterung für Andere wie für eigene Errungenschaften eintrat.

Für diese organisatorische Tätigkeit nimmt van't Hoff, vielleicht unter einem Blick auf sein eigenes Naturell, eine ursprüngliche Veranlagung an. »Ostwald wird nicht befriedigt durch das Erringen einer eigenen Ansicht; vielleicht sogar ist es ihm Hauptbedürfnis, den eigenen Gedanken anderen zu übertragen, und zweifelsohne hat wesentlich dadurch die physikalische Chemie die Stelle eingenommen, die sie tatsächlich besitzt.«

Noch viel tiefer hatte sich bei gleicher Gelegenheit mein Landsmann und Mitarbeiter Paul Walden (I, 244) in meine persönliche Tätigkeit versenkt. Frühzeitig hatte er sich von meiner Frau Einzelheiten über mein bisheriges Leben, insbesondere die Jugendjahre erbeten und daraus ein liebenswürdiges Schriftchen gebildet, welches meine Person, allerdings in der rosigen Beleuchtung eines liebevoll-freundschaftlichen Gemüts weiten Kreisen nahe gebracht hat. Von den mancherlei Gaben des Tages war diese sowohl die persönlich wohltuendste für die Gegenwart wie die dauerhaft wirksamste für die Zukunft.

Die Mappe mit dem von meiner Frau gesammelten Material, welche van't Hoff in Verwahrung genommen hatte, ist damals auf rätselhafte Weise aus seinem Zimmer im Gasthof verschwunden und niemals wieder aufgefunden worden.

Der Abend brachte nebst dem üblichen Festessen noch einen lustigen Nachklang in Gestalt einer dramatischen Vorführung, bei welcher persönliche Ereignisse aus dem Leben des Festkindes und seiner Frau in heiterer symbolischer Form dargestellt wurden. Der Plan war von einem Mitgliede des Laboratoriums entworfen, der ihn in dem ihm geläufigen Stil der Bierzeitung ausführte. Dagegen protestierten die Darsteller, und vor allen die Darstellerinnen. Ein anderes »Hauskind«, eine ältere[368] Medizinerin warf sich ins Mittel und übernahm die Ausführung des gleichen Plans in poetischen Reimen. Hierzu hatte ihr meine Frau ihr eigenes Stübchen eingeräumt, und da sie vom Dichten einen heißen Kopf und kalte Füße bekam, so wurde sie unten in einen großen pelzgefütterten Reisesack gesteckt, während sie oben ihre Verse schmiedete. Es bedurfte aber der ganzen versöhnenden Diplomatie meiner Frau, um den beraubten Dichter mit der Stiefdichterin auszusöhnen.

Als ich am anderen Tage in Ruhe die Skizze van't Hoffs nochmals durchlas, empfand ich zum Schluß einen Stich bei einem Satz, der besonders freundlich gemeint war. Er lautet: »Das erstaunliche bei dieser in immer weitere Kreise sich ausdehnenden Tätigkeit ist aber, daß weder das Interesse für das frühere Arbeitsgebiet noch dessen Beherrschung verloren geht.«

Das mochte nach Außen so aussehen, innerlich war das Gegenteil richtig. Sowohl das Interesse wie die Beherrschung gingen mir täglich mehr verloren. Und ich empfand diesen Vorgang wie ein unaufhaltsames Naturgeschehen, wie eine gewaltige Strömung, die mich in neue Weiten führte. Gegen sie das Boot zu lenken, lag außerhalb alles Wollens; was geschehen konnte, beschränkte sich auf ein achtsames Steuern. Und das Entscheidende war: nur in diesem neuen Strom konnte ich mich glücklich fühlen: das war die Erkenntnis, der ich mich nicht verschließen konnte.

Die Faraday-Vorlesung. Solche Erkenntnisse wirken sich aber nicht von heute auf morgen als umgestaltende Entschlüsse aus. Noch hatte ich Vielerlei aus dem alten Arbeitsgebiet in den Händen, was ich nicht ohne weiteres fallen lassen konnte und wollte. Dazu kamen neue Ereignisse, die sich gleichfalls aus den früheren Arbeiten entwickelten und mich an ihnen festhielten. Denn die Kalifornischen Überschwenglichkeiten waren das Vorspiel[369] ernsterer (wenn auch nicht so heiterer) Ehrungen, für die ich inzwischen anscheinend reif geworden war.

Eine der erheblichsten unter ihnen war die Einladung, im Frühling 1904 in London die Faraday-Vorlesung zu halten. Die Einladungen gehen von der Gesellschaft der Wissenschaften (Royal Society) aus und gelten als besonders hohe Bewertung wissenschaftlicher Leistungen. Sie werden an In- wie Ausländer gerichtet, doch haben natürlich die ersten den Vorzug. Unter meinen festländischen Vorgängern finden sich die Namen J. B. Dumas, der Französische Zeitgenosse und Konkurrent J. Liebigs, dieser, der größte Deutsche Chemiker, und H. Helmholtz, der größte Deutsche Physiker. Helmholtz hatte in seiner Faraday-Vorlesung die ersten Mitteilungen über die atomistische Auffassung der Elektrizität gemacht; dort wurde der Begriff des Elektrons (wenn auch nicht der Name) gebildet, dessen Bedeutung erst zwanzig Jahre später erfaßt zu werden begann. Heute ist er auch dem Laien geläufig.

Mein Ehrgeiz war mächtig angeregt, auch meinerseits etwas Belangreiches zu bringen und ich verfolgte deshalb eifrig eine eigenartige Gedankenreihe, die ich schon mehrfach durchzuführen versucht hatte, aber bisher vergeblich. Auf mich hatte schon vor langer Zeit der Gedanke des Schöpfers der chemischen Meßkunde, J.B. Richter vom Ende des 18. Jahrhunderts den größten Eindruck gemacht, daß das Gesetz der beständigen Mengenverhältnisse oder Verbindungsgewichte bei der Verbindung von Säuren und Basen zu Salzen schon daraus mit Notwendigkeit folgt, daß die Neutralsalze bei ihrer Vermischung neutral bleiben, ob Wechselzersetzung erfolgt oder nicht. Es scheint so selbstverständlich, daß neutrale Lösungen beim Vermischen nicht etwa sauer oder basisch werden, daß man zunächst nicht begreifen kann, wie aus dieser »Binsenwahrheit« (auch ein Wort[370] J.B. Richters) ein so bestimmtes Gesetz soll abgeleitet werden können. Und wenn man sich überzeugt hat, daß es wirklich so ist, so beginnt erst die Unruhe. Es liegt hier offenbar ein besonders wirksames Schlußverfahren vor, das sich muß verallgemeinern lassen, z.B. auf das Vorhandensein der chemischen Verbindungsgewichte überhaupt. Welches ist die allgemeine chemische Tatsache, welche diesen Schluß gestattet, ähnlich wie das Neutralbleiben der Salze jenen engeren Schluß ermöglicht hatte?

Schon das Erarbeiten dieser Fragestellung kostete eine gewaltige Anstrengung, denn es erforderte eine ähnliche Umkremplung des Denkens, wie ich sie bei der Energetik erlebt hatte. Damals war sie freiwillig eingetreten; diesmal mußte ich sie erzwingen, weil ich die Gedanken für jene Vorlesung notwendig brauchte.

Und nachdem diese erste Klärung erreicht war, hatte ich wieder eine Unmenge alter Gedankenrückstände fortzuräumen, bis die klare Antwort gefunden war.

Ein Mitarbeiter. Hierbei war mir behilflich, daß ich einen anderen Alleingänger auf ähnlichen Gebieten in seinen Bemühungen durch die Aufnahme seiner Arbeiten in die »Zeitschrift« und hernach in die »Annalen« tunlichst gefördert hatte. Er hieß Franz Wald und war Chemiker der Eisenwerke Kladno in Mähren. Seine Gedanken waren so fremdartig, daß mir Emil Fischer einmals sagte, nachdem ich seine ersten Schriften aufgenommen hatte: »Wenn Sie noch weiter solches Zeug drucken lassen, werde ich die Zeitschrift für physikalische Chemie abbestellen.« Ich antwortete: »Der Nachteil wird ganz auf Ihrer Seite sein«, und setzte den Abdruck fort.

Wald hatte sich mit ähnlichen Grundfragen der Chemie beschäftigt, insbesondere mit dem Begriff des reinen Stoffes und näherte sich von seiner Seite aus dem gleichen Ziel, ohne es erreichen zu können. Und als es[371] erreicht war, stellte sich heraus, wie erstaunlich einfach die Sache ist.

Es mag hier gleich zugefügt werden, daß ich Walds Namen in meiner Vorlesung in London unter starker Hervorhebung seiner Verdienste nannte. Zufällig war der österreichische Gesandte anwesend und berichtete seiner Regierung von dieser Auszeichnung eines Landesangehörigen. Bei meiner nächsten Anwesenheit in Wien wurde ich in das Kultusministerium gebeten, um genaueres über den Unbekannten zu sagen. Ich gab wiederholt meine Wertschätzung zu erkennen und sprach auf Befragen wegen einer akademischen Stellung für ihn meine Meinung aus, daß er voraussichtlich als Dozent nur einen kleinen Kreis fesseln würde, daß es aber durchaus angemessen sein würde, ihn zum Professor zu machen, damit er seine Forschungen unbehindert fortsetzen könne. Daß er leidenschaftlicher tschechischer Nationalist war, wußte und erwähnte ich, doch wurde dies nicht als Hindernis angesehen und er erhielt bald eine Berufung an die tschechische technische Hochschule in Prag.

Der Festtag. Zu gegebener Zeit war meine Abhandlung fertig und ich reiste in Begleitung meiner beiden Töchter nach London, wo W. Ramsay uns in seinem Hause gastliche Herberge gewährte; seine zwei Kinder waren in gleichem Alter, wie meine. Ich hatte meine Rede so gut ich konnte ins Englische übersetzt; er hatte sie dann sprachlich in Ordnung gebracht und nun las ich sie ihm vor, um mir von ihm die Fehler der Aussprache berichtigen zu lassen, was er mit liebenswürdiger Geduld tat.

Nicht ohne Herzklopfen nahm ich an dem großen Abend meinen Rednerplatz hinter dem Experimentiertisch in der runden Halle der »Royal Institution« ein. Vor mir sah ich die ersten wissenschaftlichen Männer Englands versammelt, daneben zahlreiche Bestandteile der vornehmen Welt, denn der Vorsitzende führte den[372] geschichtlich denkwürdigen Namen Lord Rayleigh und war selbst ein weitberühmter Physiker. Und die Stelle, von der ich sprach, war dieselbe, von welcher eines meiner höchsten wissenschaftlichen Vorbilder, Michael Faraday, während eines Menschenalters seine bahnbrechenden Entdeckungen mitgeteilt hatte; sein Vorgänger an gleicher Stelle war Humphry Davy, der Erfinder der Sicherheitslampe für Bergleute gewesen, die Unzähligen das Leben erhalten hat.

Der Gegenstand des Vortrages war der Nachweis, daß eine Ableitung der Gesetze über die Gewichtsverhältnisse der Elemente bei chemischen Verbindungen ohne Zuhilfenahme der Atomtheorie aus dem experimentellen Begriff des reinen Stoffes möglich ist. Meine wissenschaftlichen Zuhörer waren sämtlich überzeugte Atomisten, wenn auch damals von den inzwischen entdeckten experimentellen Nachweisen der Atomstruktur der Stoffe noch fast nichts bekannt war. Zudem war die Atomistik eine nationale Angelegenheit, da sie durch John Dalton von Manchester vor hundert Jahren begründet wurde, und vor kurzem die Jahrhundertfeier des Gedankens in seiner Geburtsstadt feierlich begangen war. Trotzdem wurde mein Vortrag freundlich, ja herzlich aufgenommen und ich sah mich genötigt, auf die Glückwünsche des Vorsitzenden bei Überreichung der Faraday-Denkmünze mit einer Stegreifrede dankend zu antworten.

Der Abend schloß mit einer geselligen Zusammenkunft bei Faradays Nachfolger im dritten oder vierten Gliede, James Dewar, der damals die Professur an der Royal Institution bekleidete. Sein Name ist mit vielen und glänzenden Experimenten mit flüssiger Luft verbunden. Er zwang mich, echten alten schottischen Whisky, auf dessen Besitz er stolz war, zu versuchen, was bei mir einen lebenslänglichen Abscheu vor diesem Gift bewirkt hat.

[373] Der Ehrendoktor. Die Faraday-Vorlesung und -Denkmünze war nicht die einzige Auszeichnung, die mir bei diesem Englandbesuch zuteil wurde. Etwa eine Woche später war ich nach der Universität Cambridge eingeladen worden, um dort zum Ehrendoktor ernannt zu werden.

Es war dies nicht die erste derartige Einladung. Etwa zwei Jahre früher war eine ähnliche von der Amerikanischen Universität Princeton gekommen, deren Präsident Wilson war, später Präsident der Republik unrühmlichen Andenkens. Die Ernennung konnte aber nur erfolgen, wenn man sich persönlich einfand, um die Promotion an sich vollziehen zu lassen. Da die ernennende Universität keinen besonders hohen Rang unter den vielen ähnlichen Anstalten der Vereinigten Staaten einnahm und auch die mit der Einladung verbundenen Personen keine hinlänglich starke Anziehungskraft auf mich ausübten, fand ich den Preis des Verlustes eines Monats meiner kostbaren Arbeitszeit, den ich auf die Hin- und Rückreise hätte verwenden müssen, zu hoch und verzichtete. Gleichzeitig mit mir war ein philologischer Kollege von der Leipziger Universität eingeladen worden und war hingereist. Ich sah ihn nach seiner Rückkehr wie der und der erschöpfte Zustand, in dem ich ihn antraf – er machte auch geistig einen ganz verstrobelten Eindruck – rechtfertigte meine Zurückhaltung.

Diesmal waren die Verhältnisse wesentlich anders. In Cambridge war noch immer M.M. Pattison Muir tätig, dem ich als meinem Entdecker (I, 151) dankbar war, und die Einladung war auf Anregung eines deutschen Landsmanns, Professor Ruhemann, erfolgt, der dort Chemie lehrte. Obwohl sein Fach die organische Chemie war, hatte er, wie er mir auf Befragen sagte, durch meine Schriften so viele wissenschaftliche Förderung erfahren, daß es ihm eine Freude war, sich dergestalt dankbar zu erweisen. Er nahm uns, meine Töchter und mich, gastlich[374] auf und wir konnten uns nach soviel Englischen Erfahrungen dankbar an dem Deutschen Heim erfreuen, das seine liebenswürdige Gattin, gleichfalls eine Deutsche, lebendig zu erhalten wußte. Im Hause hingen zahlreiche Gemälde, die sich auf Befragen als Jugendwerke Max Liebermanns erwiesen, der dem Hause Ruhemann nahe verwandt war. Sie sahen ganz anders aus, als seine späteren Bilder, denn sie waren altmeisterlich fein und genau gemalt.

Die Promotion fand an einem Vormittag in feierlichster Form statt, wobei die Tradition der Klerikerschule, aus der die alten Universitäten entstanden waren, überall aufrecht erhalten war. Jeder stak in einer faltigen Kutte (gown); über die Schultern trugen die Doktoren ein merkwürdiges, mit lebhaft buntfarbiger Seide gefüttertes Gebilde, eine Art Kapuze, die in zwei lange, bandartige Lappen auslief, hood genannt. Von geschichtskundiger Seite wurde mir erklärt, daß dies die symbolische Umgestaltung des mönchischen Bettelsacks sei. Der Prinzipal der Universität vollzog vor einem großen Halbkreise von Professoren und anderen Würdenträgern die heilige Handlung, indem er meine zusammengelegten Hände zwischen die seinen nahm und dazu einen Spruch murmelte. Vorher war die Promotionsakte verlesen worden. Sie war lateinisch abgefaßt und wurde mit englischer Aussprache vorgetragen. Ich verstand schon längst kein Latein mehr, so daß die Aussprache weiter kein Hindernis war. Später wurde mir die englische Übersetzung eingehändigt, deren höchst anerkennender Inhalt mich dankbar lächeln ließ. Den stärksten Eindruck in solchem Sinne machte mir das Lob, daß ich in meinen Reden und Schriften Deutschen Tiefsinn mit Französischer Klarheit verbinde.

Als zehn Jahre später während des Weltkrieges die Barbarei unserer Gegner sich unter Französischer Führung[375] dahin verstieg, den Kampf auch in die reinen Gefilde der Wissenschaft zu zerren (was früher niemals geschehen war), wurden bekanntlich von den meisten wissenschaftlichen Gesellschaften Frankreichs, Englands und Amerikas die Deutschen auswärtigen und Ehrenmitglieder gestrichen. So geschah es auch in zahlreichen Fällen mit mir. Aber in bezug auf das halbe Dutzend Ehrendoktoren, die mir im Laufe der Zeit (hauptsächlich von englischen Universitäten) verliehen worden waren, habe ich niemals ähnliche Nachrichten erhalten. Beim Erinnern an die Promotionsfeierlichkeiten, die ich ganz ähnlich auch an den anderen Stellen erlebte, wurde mir die Ursache klar. Die Doktorpromotion ist eine sakrale Handlung, ähnlich der Priesterweihe und hat gleich dieser den Charakter der Unzerstörbarkeit. Bekanntlich verliert nach katholischem Recht der geweihte Priester auch durch die ärgsten Verbrechen nicht die einmal erhaltene Weihe; so haftet auch der Doktor, nachdem er durch Handauflegung übertragen ist, unabtrennbar an dem Empfänger und erlischt erst mit dessen Tode.

Ein Jubiläum. Zwischen London und Cambridge lag eine Pause von etwa einer Woche, die ich der Erholung widmete. Wir gingen, obwohl es eigentlich zu früh im Jahre war, nach dem kleinen Badeort Penmaenmawr in Wales; den Malkasten hatte ich mitgenommen und konnte ihn dort ausgiebig in Gebrauch setzen.

Während dieser Zeit fand in Manchester eine Feier für Sir Henry Roscoe statt, der als Leiter der dortigen Universität ihr einen ungewöhnlichen Aufschwung gegeben hatte. Roscoe war als Student in Heidelberg Bunsens Schüler gewesen und war von ihm zu den überaus schwierigen Arbeiten seiner photochemischen Untersuchungen herangezogen worden, die Bunsen alsdann unter beider Namen veröffentlichte. Ich hatte diese Arbeiten als ein unerreichtes Vorbild physikochemischer[376] Forschung in den »Klassikern« abdrucken lassen und ihre Bedeutung sachgemäß hervorgehoben. Obwohl ich dabei in erster Linie Bunsen gemeint hatte, war doch seinem Mitarbeiter natürlich ein Anteil an dem Lorbeer zugefallen. Er war mir sehr dankbar für die Auszeichnung und hatte diese Gesinnung bei unseren Begegnungen gelegentlich der Zusammenkünfte der Britischen Vereinigung, die er immer mitmachte, lebhaft ausgedrückt. So benutzte ich gern die Gelegenheit, um ihm persönlich neben meinen Glückwünschen die der Bunsen-Gesellschaft zu überbringen, mit denen ich mich hatte beauftragen lassen.

Die Feier verlief wieder typisch Englisch. Es hatten zahlreiche Anstalten, Korporationen und Einzelpersonen Glückwünsche in Gestalt schöngeschriebener Adressen abgestattet, die nach sorgfältig ausgerechneter Reihenfolge verlesen und überreicht wurden. Ihr Inhalt war längere Zeit vorher dem Jubilar mitgeteilt worden. Dieser traute sich nicht zu, die erforderlichen Dankesworte jeweils aus dem Stegreif zu sagen und hatte deshalb die Antworten schriftlich entworfen und in großer Maschinenschrift in einem Folioheft zusammenstellen lassen. Mit würdigem Ernst las er nach dem Vortrag jeder Adresse die zugehörige Antwort aus seinem Heft ab, nicht ohne gelegentliches Versprechen und Verbessern, und teilte mit, wie überrascht er durch diese gänzlich unerwarteten Ehrenbezeugungen sei und was man sonst bei solcher Gelegenheit sagt. Niemand unter den Teilnehmern schien den Humor davon zu empfinden.

Die Wendung. Nach diesen Englischen Auszeichnungen erwartete mich im gleichen Jahre 1904 eine Amerikanische: ich hatte die Einladung als einer der Redner auf einem internationalen Kongreß der Künste und Wissenschaften in St. Louis angenommen, der im Herbst stattfinden sollte. Aber als ein Symbol des Umschwunges,[377] der sich in meiner wissenschaftlichen Arbeit vollzog, konnte ich es auffassen, daß es diesmal sich nicht mehr um die alte, abgetane Arbeit handelte, sondern um die neue, kaum begonnene. Nicht als Vertreter der physikalischen Chemie sollte ich sprechen, sondern als Vertreter der Philosophie hatte ich über die Ordnung der Wissenschaften eben erhaltene Ergebnisse mitzuteilen.

Man kann sich denken, wie ich mich hierdurch in der neuen Richtung bestärkt fühlte.

Meine Erlebnisse bei dieser Versammlung sollen im folgenden Kapitel mitgeteilt werden. Zum Abschluß des gegenwärtigen ist noch mancherlei aus dem alten Gebiet zu erzählen, von dem zahlreiche Zweige noch weit in die nächste Periode hinein reichten.

Mutation. Von allen Gehirngebieten, die ich im ersten Jahrzehnt meiner Leipziger Tätigkeit so unbedacht in Betrieb genommen hatte, war das, welches die schöpferische Schreibarbeit betätigt, am rücksichtslosesten ausgenutzt worden. Hatte doch Freund Walden in seiner Gedenkschrift ausgerechnet, daß im Jahre 1903 der Umfang meines Schreibwerkes etwa 16 Bänden des Konversationslexikons gleichgekommen war. Trotzdem fühlte ich gerade hier am wenigsten eine Erschöpfung, und nach meiner Wiederherstellung ergab sich zu meiner freudigen Verwunderung, daß keinerlei ungünstige Veränderung gegen den früheren Zustand zu bemerken war. Ich brauchte mich selbst nicht an den Schreibtisch zu zwingen, und die Arbeit daran war wie früher mit angenehmen Gefühlen verbunden.

Und wenn ich heute in meinem Alter beobachten muß, wie eine Fähigkeit nach der anderen sich vermindert, um sich zu verabschieden, so darf ich – hoffentlich unter Zustimmung des Lesers – feststellen, daß die Fähigkeit, einen klaren Gedankengang lebendig und anschaulich darzustellen, noch immer vorhanden ist.[378] Die Verminderung macht sich hauptsächlich in dem Betrag der täglichen Leistung geltend, der stark abgenommen hat, und in der Notwendigkeit, je nach dem Druck, welchen mein Energie-Manometer anzeigt, von Zeit zu Zeit Unterbrechungen eintreten zu lassen, bis sich wieder genug Dampf für einen ordentlichen Betrieb gesammelt hat. Dies ist aber eine allgemeine Erscheinung, die den ganzen Körper erfaßt; die Schreibefähigkeit und -lust kommt dabei verhältnismäßig günstig weg.

Ich muß bekennen, daß es mir noch nicht recht geglückt ist, diese Tatsache biologisch zu deuten. Zunächst möchte man erwarten, daß die Schreibfähigkeit, die im Geschlecht der Ostwalde soviel bekannt, in mir zum ersten Male aufgetreten ist, dem allgemeinen Gesetz hätte unterliegen sollen, daß die zuletzt erworbenen Fähigkeiten zuerst dem Abbau verfallen, sobald dieser begonnen hat. Das ist zweifellos bei mir nicht der Fall gewesen, denn abgebaut wurde bei mir zuerst die Fähigkeit des persönlichen Laboratoriumsunterrichts, in Übereinstimmung mit vielen anderen Erfahrungen, und schreiben werde ich voraussichtlich bis zu meinem Tode.

Ferner muß ich dabei hervorheben, daß sich die in Rede stehende Eigenschaft in deutlichster Weise vererbbar gezeigt hat. Zurzeit ist jeder meiner drei Söhne Schriftleiter einer Zeitschrift seines Faches; zwei von ihnen haben eine Anzahl Bücher in die Welt gesetzt, und wenn dies bei dem dritten nicht zutrifft, so liegt es daran, daß seine nicht geringe Schreibarbeit andere Formen angenommen hat. Und obwohl die folgende Generation noch nicht das Alter literarischer Zeugungsfähigkeit erreicht hat, glaube ich schon jetzt sicher sein zu dürfen, daß auch sie mit der gleichen Familieneigenschaft sich behaftet zeigen wird, auch in der Linie, wo das Erbgut durch eine weibliche Zwischenstufe latent übertragen wurde. Das Ganze sieht aus, wie[379] ein klares Beispiel der Vererbung einer erworbenen Eigenschaft.

Doch möchte ich die Erscheinung nicht in solchem Sinne deuten. Die Eigenschaft ist nicht etwa willkürlich und bewußt erworben worden, sondern ist unvermittelt bei mir trotz sehr ungünstiger Umgebung mit einer Stärke aufgetreten (von meinen Brüdern hat sie der eine schwach, der andere gar nicht gehabt), wie sie sonst nur an wohlgesichertem Erbgut beobachtet wird, das sich durch viele Geschlechter festgelegt hat und dann an einer Stelle durch die Mitwirkung harmonischer Faktoren zu sehr starker Entwicklung kommt. Eher scheint hier ein Fall jener merkwürdigen Erscheinung vorzuliegen, welche der Botaniker de Vries Mutation genannt hat. Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß von normalen Eltern neben normalen Abkömmlingen ein Lebewesen erzeugt wird, das mit wesentlich abweichenden Eigenschaften ausgestattet ist, die sich alsbald vollkommen vererbbar erweisen. So wäre bei mir die Schreibeigenschaft durch Mutation und nicht durch stetige Veränderung erschienen.

Nun ist allerdings diese ganze Gruppe von Fragen wissenschaftlich noch nicht geklärt und mit der naturgeschichtlichen Einordnung ist die Aufgabe der ursächlichen Erklärung erst gestellt, nicht aber gelöst. Schon bei früherem Anlaß habe ich den Gedanken entwickelt, daß jedes Lebewesen in der Gestalt wie es ähnlich seinen Eltern gebildet ist und sich in seinen Kindern fortpflanzt, einen ausgezeichneten Fall darstellt, der vor allen nahestehenden Abweichungen bevorzugt ist und sich daher unter Rückbildung von zufälligen Abweichungen selbsttätig immer wieder herstellt. Wenn ich die Meisen betrachte, welche eben ihr tägliches Futter an meinem Fenster holen, und die Übereinstimmung feststelle, mit welcher alle gezeichnet und gefärbt sind, so habe ich unwiderstehlich den Eindruck eines dauernden Gleichgewichts,[380] welches sich immer wieder herstellt, wenn auch die wirksamen Anteile innerhalb der durch die Lebensmöglichkeit gezogenen Grenzen veränderlich sind. Es ist, wie der Lauf eines Flusses durch den ausgezeichneten Fall der tiefsten Linie im Gelände bestimmt ist und bei allem Wasserwechsel beibehalten wird.

Nun gibt es aber, grundsätzlich gesprochen, neben dem zurzeit verwirklichten ausgezeichneten Fall noch andere Möglichkeiten, welche ihrerseits ausgezeichnete Fälle darstellen; neben dem Fluß hat sich etwa im Nachbartal ein Bach gebildet. Für gewöhnlich behält der Fluß seinen Lauf, bei starken Verwerfungen, etwa durch ein Erdbeben, kann er aber in den anderen Weg gedrängt werden und füllt das neue Tal mit der gleichen Ausdauer, wie das frühere. Dies geschieht um so leichter, je niedriger die Höhe ist, welche beide geschieden hat.

So kann man sich denken, daß die Schwelle, welche zwischen zwei benachbarten Lebensformen besteht, unter Umständen so niedrig ist, daß sie ohne Zerstörung überschritten werden kann. Das Lebewesen gelangt dann in ein verändertes fließendes Gleichgewicht, das aber wieder eine beständige, also vererbbare Form darstellt.

Die Frage, warum Mutationen nur an bestimmten Wesen auftreten, läßt sich vielleicht durch den Hinweis beantworten, daß zu einer Mutation auch eine gewisse Unbeständigkeit im Zustande des mutierenden Wesens gehört. Ein Fluß mit tief eingeschnittenem Bett wird auch bei erheblichen Störungen seine Bahn nicht leicht verlassen, während in einem flachen Gelände geringe Einflüsse genügen, um ihm ein neues Bett anzuweisen. Es gehört also eine Verminderung der Beständigkeit eine Annäherung an den labilen Zustand dazu, damit eine solche Erscheinung zustande kommt. Bei Familien kennzeichnet sich dieser Vorgang dadurch, daß die Lebensformen, in denen sich die früheren Geschlechter ohne[381] wesentliche Änderung erhalten haben, nicht mehr als befriedigend empfunden werden und daß ein Streben beginnt, sie zu verlassen. Bei meinem Vater war es unverkennbar vorhanden gewesen.

Nicht immer führt die Mutation zu lebensfähigen Gebilden, denn der neue ausgezeichnete Fall kann so beschaffen sein, daß die neuen Eigenschaften nicht lebensfördernd sind. De Vries hat eine ganze Anzahl solcher Fälle beobachtet. Auch hier finden sich Ähnlichkeiten bei der Entwicklung der Familien. So hatte der große Physiolog J. Müller einen Bruder, der gleich ihm einen neuen Typus darstellte. Er erwies sich aber als ein haltloser und leichtsinniger Mensch, der den Seinen nur Kummer und Sorge machte; glücklicherweise hinterließ er keine Nachkommen.

Nach allem wird man es verständlich finden, daß ich als Großvater mit einer gewissen wissenschaftlichen Neugier darauf warte, festzustellen, ob es sich in meinem Falle um eine wirkliche Mutation mit unbegrenzter Vererblichkeit handelt.

Chemische Bücher. Naturgemäß zerfallen die Bücher, welche ich in dieser Zeit (nach 1895) schrieb, in zwei natürliche Gruppen: die fachwissenschaftlichen als Ausklang meiner bisherigen Arbeiten und die allgemeinwissenschaftlichen als Beginn der neuen Tätigkeit.

Von der zweiten Gruppe sind bereits die Anfänge in anderem Zusammenhange beschrieben worden. Es waren die »Vorlesungen über Naturphilosophie« und die zugehörige Zeitschrift, die »Annalen der Naturphilosophie«. Sie erweckten alsbald so weitreichende Teilnahme im Leserkreise, daß ich mich in der neuen Richtung sehr bestärkt fühlte.

Die zur ersten Gruppe gehörenden Werke kennzeichnen sich als Abschluß dadurch, daß sie an Stelle der neuerschlossenen Sondergebiete die lange bekannten[382] allgemeinsten Verhältnisse der Wissenschaft zum Gegenstand haben. Sie stellen die Summe meiner Lehrerfahrungen in der Chemie dar und zeigen, wie sich das Gebäude der Wissenschaft gestaltet, nachdem die inzwischen erarbeiteten Baustoffe sachgemäß eingefügt sind.

In solchem Sinne war schon die 1894 erschienene analytische Chemie (II, 69) geschrieben worden. Doch war dort der vorgefundene wissenschaftliche Anteil so gering gewesen, daß der neue Inhalt das herübergenommene Alte bei weitem überwog. Er hat sich in dem inzwischen vergangenen Dritteljahrhundert als dauerhaft erwiesen, so daß jenes Werk als die Grundlage der ganzen analytischen Literatur bezeichnet werden kann, die inzwischen das Licht der Welt erblickt hat.

Der nächste Schritt in gleicher Richtung war die Darstellung der anorganischen Chemie in dem Umfange der fünf- oder sechsstündigen Universitätsvorlesung unter den neuen Gesichtspunkten. Hier war der zu übernehmende Anteil natürlich sehr viel größer. In gleichem Verhältnis steigerte sich aber auch die Arbeit. Es war gleichsam eine Übersetzung des ganzen bisherigen Textes in die neue Sprache nötig. In der bisherigen Literatur waren allerdings einige Kapitel schon übersetzt worden, wenn im Zusammenhange mit anderen Arbeiten das Gebiet im neuen Licht zu betrachten war und auch eine lehrbuchmäßige Zusammenfassung (Bodländer 1896) war in solchem Sinne versucht worden. Aber die alljährliche wiederholte Gestaltung des Stoffes in der eigenen Vorlesung hatte doch so viel Neues und Klärendes ergeben, daß ich eine eigene Darstellung als Notwendigkeit empfand. Da ich bei Gelegenheit der Umgestaltung der Leipziger Unterrichtsverhältnisse durch Beckmanns Berufung für angewandte Chemie und den Laboratoriumsneubau diese Vorlesung aufgegeben hatte, so hatte ich einen besonderen Anlaß, die Gesamtausbeute der bisherigen[383] Tätigkeit zusammenzufassen und der Öffentlichkeit mitzuteilen.

Im Jahre 1900 erschienen demgemäß die »Grundlinien der anorganischen Chemie«, nachdem ich mehrere Jahre an dem ausgedehnten Werk (800 Seiten engen Drucks) gearbeitet hatte. Es wurde bald ins Englische, Russische, Französische, Japanische usw. übersetzt und auch die deutsche Ausgabe hat in wiederholten Auflagen eine vieltausendfache Verbreitung gefunden. Ähnlich wie bei der analytischen Chemie hat das hier gegebene Vorbild vielfach als Grundlage für die späteren Lehrbücher gedient. Doch besteht hier naturgemäß eine viel größere Breite für persönliche Unterschiede; dazu kommt, daß der Fortschritt der Wissenschaft gerade hier neue Gedanken zur Geltung gebracht hat, welche wiederum ein Umschmelzen des Materials zum Guß in neue Formen notwendig gemacht haben.

Einige Jahre später sah ich mich einer noch elementareren Aufgabe gegenüber. Unter den vielen Aufforderungen druckwilliger Verleger, die ich ablehnen mußte, war auch eine Einladung des Verlags Vieweg & Sohn angelangt, zu der ich nicht Nein sagen wollte. In diesem Verlage war seinerzeit Stöckhardts Schule der Chemie erschienen, der ich so viel (I, 43) für meine persönliche Entwicklung verdankte. Sie war nach dem Tode des Verfassers (1886) von einem anderen Herausgeber bearbeitet worden; doch hatte dieser das Wesen des Werkes verkannt und es zu seinem Nachteil den gewöhnlichen Schulbüchern dieses Faches angenähert. Mir wurde der Antrag gestellt, eine Schule der Chemie auf Grundlage der gegenwärtigen Wissenschaft, aber im Sinne Stöckhardts als unterrichtliche Sonderleistung zu schreiben.

Die Aufgabe lockte mich in hohem Grade. Denn die Durchdringung der ganzen Wissenschaft, nicht nur[384] mit osmotischem Druck und elektrolytischer Spaltung, sondern auch mit den begrifflichen und ordnungswissenschaftlichen Gedanken eigenen Gewächses erschien mir wie eine entscheidende Probe auf ihre wissenschaftliche Brauchbarkeit.

Sodann reizte mich die Aufgabe von der literarischen Seite. Ich wollte etwas recht Eindringliches schreiben, was gleicherweise dem Anfänger von 13 Jahren glatt eingeht und dem erfahrenen Wissenschafter ein Lächeln angenehmer Überraschung entlockt. Dazu gibt es ein besonders wirksames Mittel: die poetische Form. Schon in Dorpat hatte ich den »Reaktionär in der Westentasche« des chemischen Dichters Jacobsen kennen gelernt und der Vers


Alkalien sind fidele Brüder

Kein Schwefelwasserstoff schlägt sie nieder!


hatte über dem Eingangstor meiner analytischen Kenntnisse geglänzt. Doch traute ich mir nicht zu, die Form für ein ganzes Lehrbuch der Chemie, wenn auch ein kleineres, durchführen zu können.

Dagegen war mir von der Herausgebertätigkeit an den Klassikern eine andere Form bekannt geworden, der ich gleichfalls einen hohen Wirkungsgrad zuschreiben durfte. Es ist die des Gespräches. Galileis in mehr als einer Beziehung bahnbrechende »Unterredungen« (Discorsi), welche seine Entdeckungen über die Prinzipien der Mechanik bringen, waren mir besonders nahe bekannt geworden, da mein alter Lehrer v. Öttingen die deutsche Ausgabe besorgt und vielfach mit mir besprochen hatte. Es erschien mir als eine Aufgabe von hohem Reiz, eine ganz elementare Chemie in Gestalt eines Gesprächs zwischen Lehrer und Schüler abzufassen. Ein Versuch, den ich alsbald ausführte, belehrte mich, daß ich hier ein Mittel zur Verfügung hatte, wichtige Dinge viel kürzer und eindringlicher ins Bewußtsein des Lesers zu[385] hämmern, als durch fortlaufenden Text. So machte ich dem Verlag den Vorschlag, das neue Buch in Gesprächsform herauszubringen, und er willigte ein, wenn auch nicht ganz ohne Bedenken wegen der Ungebräuchlichkeit und veralteten Beschaffenheit dieser Form.

Ich aber ging mit großem Vergnügen an die Ausführung. Der erste Teil erschien im Herbst 1903 und ich hatte, als ich über Bremen nach Amerika reiste, dort das Vergnügen, das Bändchen in dem bekannten Kreß des Verlags Vieweg in den Buchhändlerauslagen der fremden Stadt zu sehen. Unterwegs, sowohl auf der Hin- wie auf der Rückreise schrieb ich weiter daran und konnte langweilige Wartestunden auf den Eisenbahnstationen kurzweilig ausfüllen. Es machte mir ein großes Vergnügen, allerlei Unausgesprochenes in den Text hineinzuarbeiten und ich konnte später feststellen, daß solche Andeutungen mit großer Sicherheit und gleichfalls nicht ohne Vergnügen vom Leser aufgenommen wurden. Das Buch gewann alsbald einen starken Erfolg, ist in großen Auflagen mehrfach neu gedruckt und in fast alle Kultursprachen übersetzt worden. Die englische Übersetzung wurde von der Tochter W. Ramsays besorgt, die ich seinerzeit als kleines Mädel zum Schrecken ihrer Großmutter hoch durch die Luft geschwenkt hatte, und ihr Vater setzte die Schülerredensarten, den »slang«, hinein.

Kehraus. Den endgültigen Abschied von der Chemie bilden drei Bücher, deren Veröffentlichung in eine spätere Zeit fällt; des Zusammenhanges wegen sollen sie aber hier erwähnt werden.

Aus Vorträgen, welche ich 1905–06 in Amerika gehalten habe, entstand ein Büchlein, welches die geschichtliche Entwicklung der chemischen Begriffe zum Gegenstande hat. Die verschiedenen Darstellungen der Geschichte der Chemie seit H. Kopps grundlegendem Werk, das ich schon in Dorpat eifrig studiert hatte, erschienen[386] mir zunehmend unbefriedigend, weil ich immer deutlicher einsah, daß das Wesen aller Wissenschaft auf der Bildung angemessener Begriffe beruht. Die Geschichte irgend einer Wissenschaft hat somit als Hauptaufgabe die Darstellung der Entwicklung ihrer Begriffe. Mangelnde Einsicht hierein bewirkt aber, daß in den Lehrbüchern die benutzten Begriffe als »selbstverständlich« vorausgesetzt, statt klar ausgesprochen und in ihrer Tragweite erörtert zu werden. Und das hat wieder natürlich die Folge, daß die hochwichtige Entwicklung und Umgestaltung der Begriffe, welche das eigentliche Leben der Wissenschaften ausmacht, keine Bearbeitung und Darstellung findet.

Für die erwähnten Vorlesungen, die in Boston stattfanden, hatte mich mein früherer Schüler und späterer Kollege A.A. Noyes gebeten, die philosophische Seite der Chemie tunlichst in den Vordergrund zu stellen, da unter den Hörern mehr Dozenten als Studenten sein würden. Mir war die Aufgabe sehr willkommen. Die Vorträge wurden nachgeschrieben und in diesem rohen Zustande zunächst englisch veröffentlicht. Später habe ich sie eingehend überarbeitet und deutsch unter dem Titel Leitlinien der Chemie herausgegeben. Da aus dieser Bezeichnung der geschichtliche Inhalt nicht erkannt werden kann, nannte ich die zweite Auflage: Der Werdegang einer Wissenschaft. Das Buch ist ins Englische und Französische übersetzt worden.

Als Zielpunkt dieser Begriffsarbeit war mir von jeher eine »Chemie ohne Stoffe« erschienen, d.h. das System jener allgemeinen Begriffe und Beziehungen (Naturgesetze), welche auf alle Stoffe, unabhängig von deren Natur Anwendung finden. Von diesem Gesichtspunkt aus würden die Eigenschaften der einzelnen Stoffe als Sonderfälle jener allgemeinen Gesetze erscheinen, welche auf Grund gewisser Konstanten durch Einsetzung[387] ihrer Zahlenwerte in jene Gleichungen abgeleitet werden können. Damals wirkte dieser Gedanke als ziemlich phantastisch, während er heute bereits im Lichte der Möglichkeit zu erscheinen beginnt. Doch da es mir eben gelungen war, die stöchiometrischen Gesetze als notwendige Folgen allgemeinerer Verhältnisse zu erkennen, welche durch den Begriff des »reinen Stoffes« festgelegt sind, also ganz ohne die gebräuchliche Benutzung des atomistischen Gedankens, so lag mir eine solche Arbeit näher als Anderen. Es schien mir vor allem der Mühe wert zu sein, genau festzustellen, wie groß dieser begriffliche Anteil in der Chemie bereits ist, die von den Fernerstehenden (zu denen viele »reine« Chemiker gehören) als eine reine oder bloße Experimentalwissenschaft angesehen wird.

Diese Untersuchung erschien als ein umfangreiches Buch von 540 Seiten unter dem Titel: Prinzipien der Chemie. Es hat soviel Verbreitung gefunden, daß ein Neudruck erforderlich wurde und sogar eine holländische Übersetzung ist trotz meiner Warnung veranstaltet worden. Aber ich habe noch nie beobachten können, daß die dort entwickelten Gedanken irgendwo und -wie Eingang in die chemische Wissenschaft gefunden hätten.

Nur kurz soll erwähnt werden, daß ich 1909 eine »Einführung in die Chemie« als Schullehrbuch geschrieben habe, um der Schwierigkeit zu begegnen, welche die Gesprächsform meiner »Schule der Chemie« der Benutzung für den üblichen Schulunterricht entgegenstellte. Ich hatte mir gedacht, daß ein frischer Lehrer ganz wohl die Zwiesprache mit einem ausgewählten Schüler vor der Klasse durchführen könnte, mußte aber solche extravagante Hoffnungen aufgeben, nachdem ich in einer von einem Gymnasiallehrer herrührenden Rezension ernstlich getadelt worden war, daß ich den Lehrer durch den Schüler mit Du anreden ließ. So schrieb[388] ich aus Liebe für die deutsche Jugend auch das erwähnte, allseitig verwendbare Buch. Es hat eine ziemlich große Verbreitung gefunden, aber bei weitem nicht die es verdient, denn ich muß es ehrlicherweise als bei weitem das beste chemische Schulbuch für den Anfänger bezeichnen, das es gibt. Wenigstens soweit meine Kenntnis solcher Bücher reicht.

Quelle:
Ostwald, Wilhelm: Lebenslinien. Eine Selbstbiographie. Berlin 1926/1927, S. 364-389.
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