Sechzehntes Kapitel.
Ein internationaler Kongreß aller Künste und Wissenschaften.

[389] Der Anlaß. Zur Jahrhundertfeier des Ankaufs des Staates Louisiana durch die Vereinigten Staaten von dem früheren Besitzer Frankreich war auf das Jahr 1904 eine Weltausstellung in St. Louis angesetzt worden, an welcher sich auch das deutsche Reich weitgehend beteiligte. Unter den mancherlei Veranstaltungen, welche mit der Weltausstellung verbunden wurden, befand sich ein internationaler Kongreß der Künste und Wissenschaften. Derartige Zusammenkünfte hatten schon bei früheren Weltausstellungen stattgefunden, hatten sich jedoch darauf beschränkt, Inhalt der Vorträge und Wahl der Sprecher der freiwilligen Teilnahme zu überlassen. Hier sollte aber versucht werden, das ganze Gebiet menschlicher Geistesarbeit als wohlgeordnetes Ganzes zur Geltung zu bringen und für jedes Einzelfeld dieses gesamten Gebietes womöglich zwei führende Vertreter aus der Gelehrtenschaft der ganzen Kulturwelt als Redner zu gewinnen. Um die Zusammenkunft unabhängig von wirtschaftlichen Erwägungen dieser Vertreter des menschlichen Denkens und Wissens zu gestalten, war für jeden eingeladenen Sprecher eine Reiseentschädigung von 500 Dollars vorgesehen, welche Summe für den Zweck gut ausreichte.[390]

Der Keim dieses Gedankens wird dem Museumsdirektor F.J.V. Skiff zugeschrieben. Ein Ausschuß, der hauptsächlich aus den Präsidenten der führenden amerikanischen Universitäten zusammengesetzt war, bearbeitete ihn. Herr F.W. Holls von New York gab die wesentliche Anregung, daß die Sprecher honoriert werden sollten und Hugo Münsterberg, Professor der Psychologie an der Harvard-Universität entwickelte in einem Schreiben an Holls das System der Wissenschaften, nach welchem die Vorträge zu ordnen und die Sprecher zu wählen seien. So gewann der allgemeine Gedanke eine bestimmte, ausführbare Gestalt. Zum Präsidenten des Kongresses wurde der Senior der amerikanischen Astronomen S. Newcomb gewählt. Vizepräsidenten wurden die Professoren Hugo Münsterberg und Albion W. Small, Soziolog an der Universität Chicago. Außerdem wurden zu Ehren-Vizepräsidenten als Vertreter der Länder England, Frankreich, Deutschland, Rußland, Italien und Japan James Bryce, Gaston Darboux, Wilhelm Waldeyer, Oskar Backlund, Theodor Escherich, Attilio Brunialti und N. Hozumi gewählt. Die Versammlung fand vom 19. bis zum 25. September 1904 in St. Louis auf dem Ausstellungsgelände statt.

Die Ordnung des Wissens. Der Kongreß von St. Louis sollte eine geordnete Zusammenfassung alles menschlichen Wissens und Könnens bringen. Es lag also hier ein praktischer Fall vor, wo die von jeher versuchten methodischen Ordnungen der Wissenschaften zur Anwendung kommen sollten und man muß fragen, ob und wie jene alte Aufgabe gelöst war.

Die Antwort muß lauten: nicht befriedigend. Es fehlte an der Durchführung eines allgemeinen und umfassenden Gesichtspunktes. Zufälligen Verhältnissen war ein zu großer Einfluß eingeräumt und daher gelang es[391] nicht, einen eindeutigen Ort für jedes Gebiet festzulegen. Dies wird objektiv dadurch ersichtlich gemacht, daß dieselbe Sache an verschiedenen Stellen erscheint, so die Ästhetik bei der Philosophie und der Kunstgeschichte.

Die Einteilung geschah zunächst nach sieben Gruppen: A. normative, B. geschichtliche, C. physische, D. geistige, E. nützliche Wissenschaften, F. soziale Regelung, G. soziale Kultur. Die Gruppen zerfallen insgesamt in 24 Abteilungen und diese in Sektionen wie folgt:




A. Normative Wissenschaften.

1. Philosophie.

a) Metaphysik, b) Religionsphilosophie, c) Logik, d) Methodologie der Wissenschaften, e) Ethik, f) Ästhetik.

2. Mathematik.

a) Algebra und Analysis, b) Geometrie, c) Angewandte Mathematik.


B. Geschichte.

3. Politische und ökonomische Geschichte.

a) Geschichte von Asien, b) von Griechenland und Rom, c) Mittelalter, d) Neuere Geschichte von Europa, e) Geschichte von Amerika, f) Geschichte der wirtschaftlichen Gebilde.

4. Rechtsgeschichte.

a) Geschichte des römischen Rechts, b) des Gemeinen Rechts, c) Vergleichende Rechtsgeschichte.

5. Sprachgeschichte.

a) Sprachvergleichung, b) Semitische, c) Indo-Iranische Sprachen, d) Griechisch, e) Latein, f) Englisch, g) Romanische, h) Germanische Sprachen.

6. Literaturgeschichte.

a) Indo-Iranische Literatur, b) Klassische, c) Englische, d) Romanische, e) Germanische, f) Slavische, g) Schöne Literatur.[392]

7. Kunstgeschichte.

a) Klassische Kunst, b) Moderne Architektur, c) Moderne Malerei.

8. Religionsgeschichte.

a) Brahminismus und Buddhismus, b) Mohamedanismus, c) Altes Testament, d) Neues Testament, e) Geschichte der christlichen Kirche.


C. Physikalische Wissenschaften.

9. Physik.

a) Physik der Materie, b) des Äthers, c) des Elektrons.

10. Chemie.

a) Anorganische, b) Organische, c) Physikalische, d) Physiologische Chemie.

11. Astronomie.

a) Astrometrie, b) Astrophysik.

12. Die Wissenschaft von der Erde.

a) Geophysik, b) Geologie, c) Paläontologie, d) Petrologie und Mineralogie, e) Physiographie, f) Geographie, g) Ozeanographie, h) Kosmische Physik.

13. Biologie.

a) Phylogenie, b) Morphologie der Pflanzen, c) Physiologie der Pflanzen, d) Pathologie der Pflanzen, e) Ökologie, f) Bakteriologie, g) Morphologie der Tiere, h) Embryologie, i) Vergleichende Anatomie, k) Anatomie des Menschen, l) Physiologie.

14. Anthropologie.

a) Somatologie, b) Archäologie, c) Ethnologie.


D. Geisteswissenschaften.

15. Psychologie.

a) Allgemeine, b) Experimentelle, c) Vergleichende und genetische, d) Anormale Psychologie.

16. Soziologie.

a) Soziale Struktur, b) Soziale Psychologie.


E. Nützliche Wissenschaften.

[393] 17. Medizin.

a) Öffentliche Gesundheitspflege, b) Hygiene, c) Pathologie, d) Therapeutik und Pharmazie, e) Innere Medizin, f) Neurologie, g) Psychiatrie, h) Chirurgie, i) Gynäkologie, j) Ophthalmologie, k) Otologie und Laryngologie, l) Pädiatrik.

18. Technologie.

a) Hoch- und Tiefbau, b) Mechanische Technologie, c) Elektrotechnik, d) Bergbau, e) Technische Chemie, f) Agrikultur.

19. Ökonomik.

a) Theorie der Ökonomik, b) Transport, c) Handel und Verkehr, d) Geld und Kredit, e) Öffentliche Finanzen, f) Versicherung.


F. Soziale Regelung.

20. Politik.

a) Theorie der Politik, b) Diplomatie, c) Staatsverwaltung, d) Kolonialverwaltung, e) Stadtverwaltung.

21. Rechtswissenschaft.

a) Internationales Recht, b) Staatsrecht, c) Privatrecht.

22. Soziale Wissenschaft.

a) Die Familie, b) Die Landgemeinde, c) Die Stadtgemeinde, d) Die Industrie, e) Die Arbeitnehmer, f) Verbrechen.


G. Soziale Kultur.

23. Erziehung.

a) Theorie, b) Die Schule, c) Das Kolleg, f) Die Universität, e) Die Bücherei.

24. Religion.

a) Allgemeine religiöse Erziehung, b) Erziehung zu religiösen Ämtern, c) Religiöse Faktoren, d) Religiöse Arbeit, e) Religiöser Einfluß, persönlich, f) Derselbe, sozial.


[394] Kritik. Es ist schon der Mühe wert, diesen praktisch durchgeführten Versuch, das gesamte menschliche Wissen zu organisieren, etwas genauer zu betrachten, wenn er auch viel deutlicher zeigt, wie es nicht gemacht werden soll, als wie es gemacht werden kann.

Zunächst fällt die Unkenntnis oder Mißachtung der einfachsten Gesetze der Ordnungswissenschaft auf. Eine gesunde Einteilung muß nach einem einheitlichen Gedanken erfolgen, so daß die Teilstücke sich gegenseitig zur Vollständigkeit ergänzen. Ein solcher fehlt durchaus. Normative, geschichtliche, physische, geistige Wissenschaften usw. sind nicht Teile desselben Ganzen, denn in der geschichtlichen Abteilung treten die gleichen Wissenschaften auf, die später als eigene Abteilungen erscheinen, zum Zeichen, daß die Geschichte keine selbständige Wissenschaft ist, sondern eine Methode oder Betrachtungsweise, die auf jede Wissenschaft angewendet werden kann.

Besonders zerfetzt erscheint die Soziologie. Zu ihr gehören die Ethik, die unter A 1 steht, die Soziologie unter D 16 und die ganzen Abteilungen F und G, 20 bis 24. Dabei hätte unter B noch eine Geschichte der Soziologie untergebracht werden können oder müssen.

Physiologische Chemie 10 d gehört nicht unter Chemie, sondern unter Physiologie, 13 k, von der die Pflanzenphysiologie 13 c ganz unlogisch abgetrennt ist.

So könnte man noch lange fortfahren. Eine solche Erörterung ist keineswegs unnütz, denn bei dem immer mehr beschleunigten Wachstum des menschlichen Wissens wird die Frage nach einer grundsätzlichen Ordnung immer dringender. Man überlege sich nur, mit welchem primitiven Hilfsmittel man in den Handbüchern des Wissens (Konversations-Lexikon) eben dieses Material ordnet, soweit es für den täglichen Gebrauch dient. Es ist dies die Aufreihung der Stichworte nach dem ABC,[395] d.h. der vollständige Verzicht auf jede sachliche Ordnung. Selbst innerhalb einzelner Wissenschaften hat man dies rohe Verfahren angewendet; es gibt Handwörterbücher der Chemie, der Physik, der Mathematik usw., wo die Wissenschaft längst ihre innere Ordnung hat oder haben könnte.

Die Einladung. Um die europäischen Gelehrten, die von dem Arbeitsausschuß des Kongresses unter Mitwirkung des ganzen wissenschaftlichen Amerika gewählt waren, zur Teilnahme zu veranlassen, war die Form der persönlichen Werbung gewählt worden. Newcomb hatte die Französischen, Münsterberg die Deutschen, Small die Englischen, Russischen und Italienischen Kandidaten zu bearbeiten übernommen. Demgemäß erschien im Sommer 1903, ein Jahr vor der Versammlung, Professor Münsterberg, den ich bis dahin nicht einmal dem Namen nach gekannt hatte, bei mir und legte mir nach einigem einleitenden Plaudern den Plan vor.

Münsterberg war von ziemlich großer Statur mit einer kleinen Neigung zur Wohlbeleibtheit, rundem Kopf und Gesicht, der Schädel fast völlig kahl, doch ohne Grau im starken Schnurrbart. Die Haltung verriet den Schreibtischarbeiter. Er war in Leipzig wohl zuhause, denn er war Wundts Schüler gewesen. Auch lebte er ganz und gar in der deutschen philosophischen Bewegung mit, wo er sich der süddeutschen idealistischen Gruppe unter Windelbands Führung angeschlossen hatte, die in bewußter und zäher Arbeit die Eroberung womöglich aller philosophischen Lehrstühle Deutschlands anstrebte. Auch hatte ich den Eindruck, daß Münsterbergs Bestreben dahin gerichtet war, wieder nach Deutschland und auf einen möglichst einflußreichen Lehrstuhl, z.B. den Leipziger zu gelangen.

Da seiner Richtung die von mir vertretene empiristische Naturphilosophie durchaus unwillkommen war, so[396] muß es als ein Opfer von seiner Seite angesehen werden, daß er mir die Einladung zur Teilnahme nicht als dem Vertreter der physikalischen Chemie, sondern als dem Philosophen zu überbringen übernommen hatte. Jene wurde durch van't Hoff und Arthur A. Noyes, einen meiner ältesten und besten Schüler aus Amerika, damals Professor an der Technischen Hochschule in Boston vertreten.

Meine Teilnahme war in der Abteilung 1, Philosophie Sektion d), Methodik der Wissenschaften vorgesehen. Zum zweiten Redner war Benno Erdmann, damals Professor der Philosophie in Bonn, später in Berlin gewählt worden. Ich sollte über die Theorie der Wissenschaften sprechen, Erdmann über den Inhalt und die Geltung des Kausalgesetzes. Die führende Stellung in der internationalen Philosophie, welche mir die Amerikaner dergestalt anwiesen, hat die Deutschen Kollegen nicht wenig verschnupft. Für mich konnte sie eine Rechtfertigung der Wendung sein, welche ich seit fünf oder sechs Jahren meinem wissenschaftlichen Schifflein gegeben hatte. Doch fühlte ich, offen gesagt, kein inneres Bedürfnis nach einer solchen Rechtfertigung. Für meine Kollegen, insbesondere in Leipzig war diese Einladung ein Anlaß mehr, negative Schlüsse auf meine fernere Tauglichkeit für das Lehramt zu ziehen, das ich an der Universität zu versehen hatte.

Reisegenossen. Etwa eine Woche früher als nötig reiste ich von Bremen mit dem Dampfer Kaiser Wilhelm der Große nach New York ab. Ich hatte mir vor genommen die freie Woche größtenteils am Niagarafall zu verbringen und dort soviel als möglich zu malen, wozu ich mich mit dem Nötigen reichlich versehen hatte. Auf dem Schiff traf ich einige Zweckgenossen, die gleich mir nach St. Louis unterwegs waren. Da war der Anatom Wilhelm Waldeyer, die Soziologen F. Tönnies und G. Ratzenhofer, der Kinderarzt Escherich und der Astronom O. Backlund.[397]

Mit dem Wiener Escherich, der meinen Namen kannte und mir freundlich entgegenkam, habe ich mich besonders viel unterhalten. Er erwies sich als ein großzügig denkender Mann von mannigfaltigen Kenntnissen und Gedanken, der sich lebhaft um die Grenzgebiete seines Faches und darüber hinaus bemühte, so daß ich mancherlei von ihm lernen konnte. Hierbei entstanden in meinem Gehirn Gedankenansätze, die sich erst in jüngster Zeit weiter entwickelten und zu dem Begriff der Überheilung gestalteten, den ich 1924 in die Biologie einzuführen versucht habe. Persönlich war er eine höchst gewinnende Erscheinung, eine hohe, schlanke Gestalt mit blassem Gesicht, dunklem Haar und Bart und wohllautender, lebhafter Sprache.

In dauernder guter Erinnerung ist mir der Soziologe Ferdinand Tönnies geblieben. Äußerlich war er ungefähr das Gegenteil von Escherich. Klein von Gestalt hielt er sich so gebückt, daß er etwas verwachsen aussah. Das Gesicht blaß, die Stirn kahl, still und zurückhaltend im Verkehr ließ er alsbald den einsamen Denker erkennen, dem es viel leichter ist, neue und förderliche Gedanken zu erarbeiten, als sie seinen Mitmenschen zugänglich zu machen. Doch schien er den Verkehr mit mir eher zu suchen, als abzuweisen. Ich mußte ihm bekennen, daß die Soziologie in meinem Denken bisher nur wenig Platz gefunden hatte. Obwohl ich theoretisch völlig überzeugt von ihrer Wichtigkeit war, hatte ich unter dem Vielerlei, womit ich mich beschäftigte, noch kein Buch angetroffen, aus dem mir das Vorhandensein faßbarer wissenschaftlicher Ergebnisse in diesem Gebiet ersichtlich geworden wäre. Als Entschuldigung kann ich anführen, daß es damals noch keinen ordentlichen Lehrstuhl für diese Wissenschaft an einer deutschen Universität gab. Was hier geleistet wurde, stammte von einzelnen Vertretern der Volkswirtschaft her. Die Namensverwandtschaft Soziologie[398] – Sozialdemokratie machte die ganze Richtung verdächtig, wie denn auch jene Nationalökonomen als »Kathedersozialisten« einigermaßen bedenklich erschienen. Ich aber überließ mich in politischen Dingen damals ganz der geistigen Führung durch Bismarck, der den ungeheuren Schaden, den die Sozialdemokraten dem Deutschen Reich zufügen würden, mit unheimlicher Sicherheit voraussah.

Den Gesprächen mit Ferdinand Tönnies danke ich die Einführung in das soziologische Denken. Denn er ließ sich durch meine Unkenntnis und meinen einseitigen Standpunkt nicht abschrecken und überzeugte mich davon, daß seine Wissenschaft Gedanken und Aufgaben von unabsehbarer Tragweite barg. Wenn ich hernach meinen Zeitgenossen einiges Förderliche über die soziale Seite der Wissenschaft sagen konnte und meinerseits zunehmend lernte, sie als soziale Erscheinung von ganz besonderer Art und Wichtigkeit zu begreifen, so verdanke ich die Anregung dazu jenen Unterhaltungen mit F. Tönnies an Bord des Kaiser Wilhelm.

Viel geringer war die Berührung mit Gustav Ratzenhofer. Dieser war aus kleinen Verhältnissen in der österreichischen Armee durch Energie und Begabung im regelmäßigen Aufstieg bis zum Range eines Feldmarschallleutnants gelangt. Infolge eines Konfliktes in einer grundsätzlichen Frage nahm er in vorgeschrittenen Jahren seinen Abschied, um sich ganz seiner wissenschaftlichen Arbeit zu widmen, die er ohne Zusammenhang mit anderen Gelehrten autodidaktisch betrieb. In St. Louis vertrat er in der Abteilung Soziologie die Sektion A. Soziale Struktur, neben F. Tönnies.

Ratzenhofer war 62 Jahre alt, als ich ihn auf dem Schiffe traf; er hatte das typische Aussehen des höheren österreichischen Militärs, der sich in seiner Haar- und Barttracht nach seinem Kaiser richtet. Man sah ihn[399] wenig, da er von der Seekrankheit zu leiden schien; auch machte er einen schwächlichen Eindruck. Er war von seinem Sohne begleitet. Seinen Vortrag hat er hernach noch in St. Louis gehalten, doch anscheinend mit einem letzten Zusammenraffen seiner Kräfte, denn auf der Rückreise ist er am 4. Oktober 1904 gestorben.

Wie ich aus seinen Schriften später entnommen habe, hatte ihn die Energetik lebhaft beschäftigt. Er hat sich bemüht, sich mit ihr auseinander zu setzen, doch lagen seine Kenntnisse nicht in der Richtung der Physik und Chemie, und so kam er nicht zu einem sachlich gegründeten Urteil. Mir waren sein Name und seine Schriften ganz unbekannt geblieben, was ihn anscheinend in Verwunderung setzte. Daher ist es erklärlich, daß einige Gespräche, die er mit mir anknüpfte, ergebnislos verliefen.

Eine große Freude war es mir, meinen Dorpater Bekannten Oskar Backlund unter den Mitreisenden zu entdecken. Er kannte keinen der Kollegen persönlich und war dankbar, in unseren heiteren Kreis einbezogen zu werden. Von dem Observator an der Dorpater Sternwarte hatte er sich vermöge seiner Tüchtigkeit zum Direktor der Hauptsternwarte des Russischen Reiches in Pulkowa bei Petersburg emporgearbeitet und vertrat als solcher die Russische Wissenschaft auf dem Kongreß. Durch sein stillfreundliches Wesen erwarb er sich alsbald ungeteilte Sympathien in unserer kleinen Gesellschaft.

Außer mit den genannten Kollegen, denen sich noch Sir Felix Semon zugesellte, der ein Bruder vom Autor der »Mneme« und Leibarzt des Königs von England war, sowie der Oxforder Professor W.A. Sorley, verkehrte ich noch mit meinem Tischnachbar Werkwalt Gerdes von der Firma Pintsch, eines der führenden Werke in der Beleuchtungstechnik. Es war dieser eben gelungen, metallisches Tantal in massiven Stücken herzustellen, das wegen seines sehr hohen Schmelzpunktes und seiner[400] chemischen Beständigkeit große Bedeutung für die Industrie gewinnen konnte und er war nach Amerika unterwegs, um wegen der wirtschaftlichen Verwertung zu verhandeln. Doch haben sich anscheinend später die Hoffnungen nicht erfüllt; den Grund wüßte ich nicht anzugeben.

Da Escherich die Österreichische und Waldeyer die Deutsche Wissenschaft amtlich in St. Louis zu vertreten hatten, stellten wir gewissermaßen einen erheblichen Teil des bevorstehenden Kongresses schon auf dem Schiffe dar. Auch mit Waldeyer ergaben sich trotz des großen Altersunterschiedes sehr angenehme persönliche Beziehungen, so daß uns allen die Reise über den Ozean sehr kurz vorkam. Wir befanden uns allerdings auch auf dem schnellsten Schiff, das zwischen Europa und Amerika verkehrte, denn soeben war das »blaue Band« für diesen Wettbewerb dauernd nach Deutschland gelangt. Dies erfüllte viele Engländer mit Zorn und Bitterkeit gegen uns, wie ich vielfach zu bemerken Gelegenheit hatte, um so mehr, als sie die Schuld nur sich selbst zuzuschreiben hatten.

Abschied vom Schiff. Sehr lehrreich verlief das festliche Abschiedsessen, das Kapitäns-Dinner auf dem Schiff. Ich war von dem Kapitän an einem der ersten Tage mit dem Ausdruck der Freude darüber begrüßt worden, daß er mich persönlich kennen lernen konnte. Als ich verwundert fragte, wie ihm denn mein Name bekannt geworden sei, machte er eine beinahe gekränkte Miene. Er meinte, das dürfte ich ihm schon zutrauen, daß er von mir gehört und gelesen habe. Vermutlich gehörte es zu seinen Pflichten, den Reisenden auf seinem schönen Schiff persönlich angenehme Dinge zu sagen. Von den Mitreisenden war ich dann ersucht worden, die übliche Dankrede auf den Kapitän bei dem Festessen zu halten. Ich unterzog mich gern der Aufgabe, anscheinend zur Zufriedenheit meiner Auftraggeber.[401]

Nach mir hielt ein Amerikaner eine Rede zu dem gleichen Zweck, die vorwiegend aus Kalauern bestand. Der beste von ihnen war eine Anspielung auf das vielbeliebte Schmuggeln zollpflichtiger Sachen, namentlich Pelze und Schmuck, das von seinen Landsmänninnen in größtem Umfange betrieben wurde. Er zitierte die berühmte Botschaft des englischen Admirals Nelson vor der Seeschlacht von Abukir: England erwartet, daß jedermann seine Pflicht tun wird (that everybody will do his duty). Die Parole Amerikas laute ähnlich: Amerika erwartet, that everybody will pay his duty (daß jedermann seinen Zoll = duty bezahlen wird).

Der Kapitän erwiederte, aber zur größten Entrüstung der deutschen Reisenden, in Englischer Sprache. Wir baten alsbald Waldeyer als unseren Senior, dem Kapitän unsere Meinung ernstlichst zu sagen; ich glaube aber, er hat es hernach doch nicht getan. Diese Deutsche Knechtseligkeit wirkte um so abstoßender, als sie vom Führer des Schiffes begangen wurde, das soeben die Überlegenheit des Deutschen Schiffbaus über den Englischen, der bisher als der erste in der Welt galt, glanzvoll bewiesen hatte.

Zum Schluß kam die übliche Bittrede für eine Sammlung zu Gunsten der Seemanns-Witwen und -Waisen. Sie wurde von einer Amerikanerin gehalten, die sich zunächst selbst als diejenige vorstellte, welche von ihren Freunden die gescheiteste Rednerin (the cleverest woman speaker) in Amerika genannt würde. Und dann begann ein Niagara von Geschwätz, das kein Ende nahm, so daß die Leute aufstanden, Knallbonbons losgehen ließen, sich laut unterhielten und andere Zeichen der Ungeduld von sich gaben. Zuletzt ging die Rede in eine richtige Predigt über, und endete unter allgemeiner Unaufmerksamkeit. Bei der noch aus den Kolonialzeiten übrig gebliebenen übertriebenen Wertschätzung der Frau in der amerikanischen[402] Gesellschaft war mir dieser Vorgang in mancher Beziehung lehrreich.

New York. Die Ankunft in New York ging diesmal glatt vor sich, da die Kongreßleitung uns durch einige Beauftragte empfangen ließ, welche die üblichen Formalitäten erfreulich abkürzten. Ein früherer Schüler, Dr. Morgan, der inzwischen an der Columbia-Universität in New York eine Lehrstelle angetreten hatte, begrüßte mich gleichfalls und machte mich mit meinem dortigen Fachkollegen, Professor Charles. F. Chandler bekannt, der mitgekommen war. Dieser war noch ein Schüler Wöhlers gewesen, an den er mit wärmster Dankbarkeit zurückdachte und bewegte sich trotz seiner 68 Jahre mit jugendlicher Frische. Er war von großer, sehniger Gestalt, mit glattem länglichem, rotem Gesicht und spärlichem Haarwuchs und hatte vor kurzem eine junge Frau geheiratet, nachdem er vor einigen Jahren seine erste Gattin verloren hatte. Als ich ihn später in seinem Heim besuchte, zeigte er mir die verschiedenen Turn- und Boxeinrichtungen, durch deren regelmäßigen Gebrauch er seinen Körper geschmeidig erhielt. So hat er sein Alter bis auf etwa 90 Jahre gebracht, denn ich erhielt erst Ende 1925 die Nachricht von seinem Tode.

Die Freunde brachten mich im Manhattan-Hotel unter, wo ich den Betrieb eines dortigen Riesengasthofs kennen lernte. Das Haus nahm einen guten Teil eines Straßenblocks ein und das Erdgeschoß war eine große Halle, die wie eine Fortsetzung des Fußsteigs der Straße wirkte, so lebhaft war der Verkehr aus und ein. Unter Dr. Morgans Führung lernte ich New York etwas genauer kennen und verbrachte bei gutem, nicht schwülem Wetter einige sehr angenehme Stunden in dem ausgedehnten Central-Park, der bei weitem das Schönste in dieser Stadt ist. Der Verkehr in der Haupt-Geschäftsstraße, dem Broadway war betäubend; die anderen Straßen waren[403] stiller aber sämtlich viel weniger reinlich, als ich es in Deutschland gewohnt war.

Natürlich mußte ich Chandlers Institut besehen, obwohl ich es gar nicht sehen wollte, doch enthielten seine sehr ausgedehnten Sammlungen mancherlei Merkwürdiges und Spaßhaftes. Auch Morgan zeigte mir seine physikochemische Abteilung und ich konnte beruhigt an das bevorstehende Aufgeben meines Laboratoriums in Leipzig denken, da ich ihn mit allen Mitteln versehen sah, die Forschungen in meiner alten Wissenschaft fortzuführen.

Um dieselbe Zeit wie der Kongreß von St. Louis tagte in den Vereinigten Staaten der Internationale Chemikerkongreß unter dem Vorsitz meines Freundes William Ramsay. Dies bedingte, daß ich schon in New York und später noch mehrmals in anderen Städten der Union mit den internationalen Chemikern zusammentraf, die mich alsbald als einen der Ihren in Anspruch nahmen, wobei Ramsay ihnen voranging. Er war gleichzeitig in New York eingetroffen und suchte mich im Gasthof auf, um sich meiner Person für den Empfang seitens der New Yorker Chemiker zu versichern. Wir freuten uns sehr des Wiedersehens und verabredeten alsbald, womöglich die Heimfahrt auf demselben Dampfer zu machen, was auch geschah.

Am Abend war ein großer Empfang im »Chemical Club«, wozu ich als Gast eingeladen wurde. Dort mußte ich unzählige Bekanntschaften machen, unter anderen die eines Herrn Mallinckrodt aus St. Louis, der sich als ein schwer reicher Fabrikant erwies und um die »Gunst« bat, mich nebst van't Hoff während des Kongresses zu beherbergen. Ich nahm es dankend an, nachdem mich Ramsay über ihn orientiert hatte. Dann gab es eine »reception«. Diese bestand darin, daß etwa 4 oder 5 Personen, zuerst Ramsay, dann ich, ein munterer Millionär[404] Nichols und noch ein oder zwei andere, die ich vergessen habe, sich nebeneinander aufstellten, worauf die anwesenden Damen und Herren eine Schlange bildeten, die an uns vorüberzog. Einige Festordner besorgten die Vorstellung, es gab ein kräftiges Händeschütteln und dann kam der oder die Nächste daran. Die Arbeit dauerte etwa anderthalb Stunden und war zuletzt sehr ermüdend, so daß ich eine schlechte Nacht davon hatte.

Am anderen Tage gab es die üblichen Führungen und am Abend ein großes chemisches Festessen mit zahllosen neuen Bekanntschaften, Reden usw. Das wurde mir zu viel, so daß ich am nächsten Morgen nach dem Niagarafall abreiste, wo mir eine Reihe von stillen und frohen Tagen bevorstand.

Bei den Niagarafällen. Mit großer Freude erneuerte ich die Bekanntschaft mit den wunderschönen Fällen, die im vorigen Jahre so kurz gewesen war, und fand bei näherer Kenntnis meine Erwartungen allseitig übertroffen. Ich brachte mich in einem kleinen deutschen Gasthof in nächster Nähe der Fälle unter, wo ich die ersten Tage ohne alle Bekannten blieb und zog alsbald zum Malen aus. Dazu brauchte ich mich nur irgendwo hinzusetzen und konnte alsbald losmalen, denn von einem Sitz waren meist durch bloße Drehung auf dem Sessel mehrere bildmäßige Ansichten zu erhalten.

Die Arbeit ging mir besser und schneller von der Hand als jemals zuvor, so daß ich es auf acht bis zehn Bilder täglich brachte, während sonst vier oder fünf die höchste erreichte Anzahl war. Und darunter gab es einen ungewohnt günstigen Prozentsatz gut gelungener Blätter. Was die Arbeit vor der Natur anlangt, habe ich damals meinen künstlerischen Höhepunkt erlebt. Ich brauche kaum hinzuzufügen, daß dies auch mit starken persönlichen Glücksgefühlen verbunden war, zumal ich mich dieser Tätigkeit ohne jede innere Hemmung hingab,[405] da ich sie als bei weitem die beste Vorbereitung auf die anstrengenden Tage in St. Louis ansah.

Auf meinen einsamen Wanderungen traf ich zuweilen O. Backlund an, der sich ebenso einsam dorthin zurückgezogen hatte, um seinen Vortrag für St. Louis auszuarbeiten. Ich hatte den meinen schon auf dem Schiff niedergeschrieben und er war, wie ich damals nach Hause berichtete, besser geraten, als ich erwartet hatte.

Nachdem ich binnen vier Tagen mehr als dreißig Studien gemalt hatte, verließ ich die Niagarafälle. Es hatten sich ohnehin in den letzten Tagen einige Kongreßkollegen eingefunden, die mir nicht besonders gefielen. Ich erinnere mich mehrere Gespräche mit dem Kunsthistoriker Richard Muther, dessen einseitiges und oberflächliches Eintreten für die Französischen Maler meinen Widerspruch erregte. Auch mit dem Biologen Oskar Hertwig, Berlin, wollte sich kein behagliches Verhältnis herstellen, ganz im Gegensatz zu seinem Münchener Bruder Richard, mit dem ich einige Jahre später ungemein angenehme Wochen auf der Insel Teneriffa zubrachte.

Begrüßung früherer Schüler. Vom Niagara wandte ich mich zunächst nach Toronto, wo an der Universität zwei meiner Schüler Lash Miller und B. Kenrick ein physikochemisches Laboratorium in Gang gebracht hatten. Besichtigungen und angenehme Plauderstunden mit den dortigen Kollegen, namentlich dem physiologischen Chemiker Mac Callum füllten den Tag aus. Einen erheblichen Unterschied dieser Stadt in Kanada von den Amerikanischen Städten konnte ich nicht erkennen.

Ein ähnlicher Grund veranlaßte mich, auf dem Wege nach St. Louis noch in Ann Arbor halt zu machen, wo gleichfalls ein früherer Schüler, namens Bigelow die physikalische Chemie in Vorlesung und Laboratorium lehrte. Die Aufnahme in seinem Hause und in dem Kreise[406] der Kollegen war die denkbar herzlichste und man wollte mir durchaus das Versprechen abnehmen, später einmal zu einem längeren Besuch wieder zu kommen. Denn die Stadt und Universität lag bereits auf der Grenze nach dem wilden Westen und man legte daher ein besonderes Gewicht auf den persönlichen Zusammenhang mit den Vertretern der östlichen Kultur.

Zur Fahrt nach St. Louis gesellten sich einige Kollegen von dort, darunter der Senior der Universität, Professor Preston, ein alter magerer Herr mit langem weißem Bart, trotz eines lahmen Beins noch hervorragend rüstig, der zusammen mit seiner lieben alten Frau mich väterlich betreute.

Die Eisenbahnstation für Ann Arbor war Detroit, von wo eine elektrische Straßenbahn mich in mehrstündiger Fahrt nach meinem Ziel gebracht hatte. Den umgekehrten Weg machte ich in einem Automobil, das von dem Sohne eines dortigen Kollegen gesteuert wurde. Diese Fahrzeuge waren damals noch selten und die Art der Beförderung gefiel mir sehr. Detroit ist hernach durch die Entwicklung der Automobilherstellung berühmt geworden, denn die Werke des großen Organisators Ford sind dort errichtet.

Ankunft in St. Louis. Die Fahrt nach St. Louis war lang und heiß. Im Schlafwagen hatte ich mich mit einem oberen Bett begnügen müssen, das noch viel unbequemer ist, als das untere. In diesem brachte sich, von trübsten Ahnungen meinerseits begleitet, eine Mutter mit einem etwa einjährigen Kinde unter. Doch kann ich zu beider Ehre und zur Ehre der Amerikanischen Nation berichten, daß ich den kleinen Staatsbürger während der langen Nacht weder gehört, noch gerochen habe.

Mit der üblichen großen Verspätung trafen wir am Vormittag in St. Louis ein. Das Haus meines Gastfreundes war leicht zu erfragen und zu erreichen. Es stellte sich als[407] ein sehr prächtiger Wohnpalast heraus und meine Unterkunft war von fast fürstlichem Luxus. Herr Mallinckrodt, seine Gattin und sein erwachsener Sohn begrüßten mich auf das entgegenkommendste. Der Vater stammte aus Deutschland und sprach noch geläufig Deutsch. Die Mutter war Amerikanerin mit ausgeprägter Vorliebe für französische Bilder, Bücher und Kleider. Der Sohn legte aber Gewicht auf das Deutsche Blut in seinen Adern und sehnte sich, seine Studien in Deutschland zu beenden.

Beim Frühstück konnte ich van't Hoff begrüßen, der von seiner älteren Tochter Jenny begleitet und im gleichen Hause beherbergt war. Er war von der Reise etwas angegriffen und hatte auch später mit Unwohlsein zu kämpfen.

In meinem Zimmer fand ich die Besuchskarte des deutschen Reichskommissars Geheimrat Lewald, der die Deutsche Abteilung der Ausstellung unter Überwindung zahlreicher und großer Schwierigkeiten organisiert hatte. Von ihm wird noch einiges zu er zählen sein.

Die Weltausstellung. Mit großer Neugier besuchte ich am nächsten Vormittag das sehr ausgedehnte Gelände der Ausstellung. Beim Eingang war ein weiter freier Platz vorgesehen, den man überschreiten mußte. Die Wege waren mit doppelten Reihen von Männern besetzt, welche mit Hilfe eines typisch Amerikanischen Marterinstruments, Megaphon genannt, das sich als ein Sprachrohr von ungeheuren Abmessungen erwies, Reklamen für alle möglichen Dinge brüllten. Lärm aller Art stellte sich immer wieder als das Hauptkennzeichen der Vereinigten Staaten heraus. Darauf beruht der eigentümlich hohe und schrille Sprechklang, der das Amerikanische Englisch so deutlich vom Britischen unterscheidet. Denn nur durch die Mitwirkung starker Obertöne kann der Amerikaner mit seiner Stimme das unaufhörliche Getöse durchdringen, in dem er lebt.[408]

Vor allen Dingen schaute ich natürlich nach den wissenschaftlichen Genossen aus, die gleich mir zum Kongreß gekommen waren. Hierbei stellte sich ein ziemlich großes Maß von Lieblosigkeit oder Verständnismangel der Leitung heraus. Sehr viel wertvoller als der Inhalt der Vorträge, die man ja viel bequemer hernach in dem Gesamtbericht studieren konnte, war die Gelegenheit, daß so viele Köpfe ersten Ranges während einer Woche auf demselben Fleck der Erde versammelt waren und in gegenseitigen Verkehr treten konnten. Es wäre also in erster Linie für eine Halle zu sorgen gewesen, in welcher sich die Teilnehmer aufhalten konnten, wenn sie nicht anderweit in Anspruch genommen waren und wo man daher sicher sein konnte, jederzeit höchst interessante Gesellschaft zu treffen. Was Männer solcher Art sich in einer Viertelstunde zu sagen wissen, kann gute Früchte auf Jahre und Jahrzehnte hinaus tragen. Und jeder Teilnehmer hätte die Erinnerung an reiche Schätze mit sich nehmen können, die ihn mit unwillkürlichem Dank gegen St. Louis und die Ausstellungsleitung erfüllt hätten. Im gleichen Raum wäre Post und Schreibgelegenheit unterzubringen gewesen, so daß selbsttätig jeder Kollege mindestens einmal täglich sich dort eingefunden hätte.

Alles dies war versäumt worden, wie denn den Teilnehmern am Kongreß die Empfindung sich aufdrängte, daß sie von den maßgebenden Personen als Anhängsel und Fremdkörper angesehen wurden. Und diese Ansicht scheint auch in den weitesten Volkskreisen vorherrschend gewesen zu sein. Denn die Statistik des Besuches ergab, daß die Zahl der verkauften Eintrittskarten während der wissenschaftlichen Woche stark hinter der der vorangegangenen und der nachfolgenden zurückgeblieben war. Also nicht einmal die sonst bei den Amerikanern stark entwickelte Neugier war durch die Gelehrten angeregt[409] worden. Der Gedanke, sich eine Anzahl der besten Köpfe der Zeit wenigstens anzusehen und sie sprechen zu hören, war der großen Masse überhaupt nicht gekommen, die sonst so bereitwillig »vor das Tor geht, um das Rhinozeros zu sehen«.

Ein Gedanke zur Kulturpflege. Den oben angedeuteten Gedanken, einen unformalen persönlichen Verkehr der Denker unserer ganzen Kulturwelt zu ermöglichen, habe ich weiterhin mehrfach der Verwirklichung anzunähern mich bemüht, wenn ich mit reichen und wohldenkenden Menschen zusammentraf, doch bisher vergeblich. Ich regte an, daß in schöner Gegend, am besten am Ufer des Meeres oder eines großen Sees eine unentgeltliche Unterkunft, übrigens schlichter Art, vorgesehen werden sollte, zu der alljährlich hervorragende Männer und Frauen (doch mit Ausschluß der Künstler, für die das nicht geeignet ist) eingeladen werden sollten, um im freien, ungezwungenen Verkehr sich gegenseitig zu fördern. Vielleicht findet heute, wo so viel Zerrissenes in der allgemein menschlichen Kulturarbeit zu heilen ist, dieser Gedanke besseren Widerhall, wenn auch freilich die Anzahl der Menschen, die reich genug sind zu seiner Ausführung, viel kleiner geworden ist, namentlich in Europa. Aber schließlich sind die Kosten eines solchen Unternehmens nicht besonders hoch. Denn rechnet man 10 Mark Pension je Tag und Kopf, so können mit 14000 Mark jährlich je 50 große Männer und Frauen auf vier Wochen im Sommer in ersprießliche und friedenbringende Wechselwirkung gebracht werden. Überlegt man, daß von allen Gebieten der Kultur die Wissenschaft dem Ideal der Vereinigung aller Völker am nächsten gekommen war, bevor die Barbarei der Franzosen während des Weltkrieges auch in dieses Heiligtum der Menschheit zerstörend eingedrungen ist, so erkennt man, daß mit der Ausführung jenes Plans heute ein ganz besonderer Segen verbunden sein könnte.[410]

Einen Vorgeschmack solchen Verkehrs erlebte ich im Garten des »Deutschen Hauses«, wo der Ausschank Münchener Bieres eine Anzahl Kollegen, nicht nur Deutsche, angezogen hatte. Mit großer Freude sah ich J. Loeb wieder, der mir von meinem ältesten Sohn, der eben bei ihm Assistent war, sehr Günstiges erzählen konnte. Trotzdem er grundsätzlich abstinent war, ließ er sich zu einem Krug Bier verführen, da sich an unserem Tische eine ganze Anzahl Kollegen zusammengefunden hatten, zwischen denen alsbald ein lebendiges und höchst anregendes Gespräch aufflammte. Es war eine tiefe Freude, nachdem man mit einem Unbekannten zu plaudern begonnen und sich zu ihm hingezogen gefühlt hatte, seinen Namen zu erfahren, der immer zu den besten der Zeit gehörte.

Die Verteilung der Forscher nach Völkern. Die Anzahl der Einladungen, die an auswärtige Forscher gingen, war 150, von denen 117 angenommen wurden. Von diesen sahen sich weniger als 20 durch unvorhergesehene Ursachen verhindert, so daß am Eröffnungstage 96 Auswärtige anwesend waren; 4 kamen noch während des Kongresses dazu, so daß es gerade 100 wurden.

Der Kongreßbericht enthält keine Anordnung dieser Teilnehmer nach ihrer völkischen Zugehörigkeit. Eine Zählung, die ich vorgenommen habe, ergibt:


Deutschland und Österreich 32 + 10 = 42,

England und Kanada 21 + 3 = 24,

Frankreich 16,

Italien 4,

Japan 4,

Holland 2,

Dänemark 2,

Belgien 2,

Rußland 1,[411]

Schweiz 1,

Schweden 1,

Mexiko 1.


Die Gesamtzahl ist 100, so daß die einzelnen Zahlen unmittelbar Prozente darstellen. Zunächst fällt die ungeheure Überlegenheit der Deutschen Wissenschaft in die Augen, die mit Einrechnung der stamm- und geistesverwandten Österreicher 42 v.H., also fast die Hälfte ausmacht. Dann folgen die Engländer und in weiterem Abstande die Franzosen. Hierbei muß noch bedacht werden, daß den Amerikanischen Wissenschaftern die Englisch schreibenden Gelehrten durchschnittlich besser bekannt sein mußten, als die Deutschen, und ferner, daß in St. Louis aus geschichtlichen und persönlichen Gründen eine starke Vorliebe für die Franzosen bestand, wodurch beide Zahlen eine Steigerung erfahren hatten, die nicht unmittelbar auf wissenschaftlichen Ursachen beruhte.

Die kleinen Zahlen der anderen Völker sind zu sehr dem Zufall unterworfen, als daß sie zu Schlüssen benutzt werden könnten. So haben beispielsweise Holland und Belgien je zwei Redner geliefert, während ihre wissenschaftlichen Leistungen etwa im Verhältnis 100:1 stehen. Die Zahl 4 für Italien entspricht dagegen im Vergleich mit denen für die drei erstgenannten Völker den gegenwärtigen wissenschaftlichen Leistungen aus diesem Lande: sie sind nennenswert, aber doch viel beschränkter, als bei jenen.

Die Vorträge. Natürlich ging ich mit, als van't Hoff seinen Vortrag hatte. Der angewiesene Raum war nicht groß, so daß er überfüllt war. In übersichtlicher Weise legte der Meister dar, daß die physikalische Chemie sich auf zwei Linien entwickelt hat, der atomistisch-anschaulichen an dem Begriff der Materie und der theoretisch-allgemeinen an dem Begriff der Verwandtschaft, und kennzeichnete beide Reihen durch die Namen ihrer bedeutendsten Förderer. So entstand die folgende Tabelle:
[412]

I.


Lavoisier, Dalton (1808)

Gay-Lussac, Avogadro (1811)

Dulong, Petit, Mitscherlich (1820)

Faraday (1832)

Bunsen, Kirchhoff (1861)

Periodisches System (1869)

Pasteur (1853), Stereochemie (1874)

Raoult, Arrhenius (1886–87)

Radioaktivität (Becquerel, Curie)


II.


Berthollet, Guldberg, Waage (1867)

Berzelius, Helmholtz (1887)

Mitscherlich, Spring (1904)

Deville, Debray, Berthelot

Thomsen, Berthelot (1865)

Horstmann, Gibbs, Helmholtz


Nach dem Vortrag, der lebhaften Beifall hervorrief, erbat ich mir das Wort und führte folgendes aus:

Wenn man die beiden Gedankenreihen bis in ihre Anfänge zurück verfolgt, so muß als Erster, der das Gesetz der Verbindungs- oder Atomgewichte erkannt hat, J. B. Richter (1792) genannt werden, der somit an den Kopf der ersten Reihe zu stellen ist. Der erste Forscher, der die Affinität zu messen versucht hat, ist K. F. Wenzel (1777) gewesen, mit dem die zweite Reihe zu beginnen hat. Zufällig sind beide Deutsche gewesen; ich hätte aber auch Forscher jeder anderen Nation genannt, wenn die geschichtliche Untersuchung sie zutage gefördert hätte. In unseren Tagen aber sind beide Richtungen in einem Kopf zusammengelaufen, der in beiden Gebieten Bahnbrechendes geleistet hat. Die vervollständigte Tafel bekommt daher das folgende Aussehen:


Richter (1792)


Lavoisier, Dalton (1808)

Gay-Lussac, Avogadro (1811)

Dulong, Petit, Mitscherlich (1820)

Faraday (1832)

Bunsen, Kirchhoff (1861)

Periodisches System (1869)

Pasteur (1853), Stereochemie (1874)

Raoult, Arrhenius (1886–87)

Radioaktivität (Becquerel, Curie)


Wenzel (1777)


Berthollet, Guldberg, Waage (1867)

Berzelius, Helmholtz (1887)

Mitscherlich, Spring (1904)

Deville, Debray, Berthelot

Thomsen, Berthelot (1865)

Horstmann, Gibbs, Helmholtz


J.H. van't Hoff
[413]

Diese Stegreifrede wurde mit lebhaftester Zustimmung aufgenommen und führte auch zu erneutem Beifall für den Redner des Tages.

Am Nachmittag des gleichen Tages hatte ich selbst zu reden. Für meinen Vortrag war zwar ein ausreichend großer Raum vorgesehen, doch konnte ich nicht ungestört sprechen, denn mitten in der Rede zog draußen Militär mit einer energisch lärmenden Musikkapelle vorüber. Ich mußte minutenlang schweigen, bevor ich wieder zu meinen friedlichen Erörterungen zurückkehren konnte. Wenn man will, kann man dies als ein Sinnbild späterer Ereignisse ansehen. In dem Kreise meiner Hörer erkannte ich eine ganze Anzahl der ausgezeichneten Kollegen, die zum Kongreß gekommen waren; andere, die ich noch nicht kannte, nannten mir später ihren Namen. Es war eine der wissenschaftlich höchststehenden Versammlungen, zu denen ich gesprochen habe, und ich fühlte dringend den verspäteten Wunsch, daß ich mich mit mehr Ausdauer und Hingebung vorbereitet hätte, als tatsächlich geschehen war.

Meinerseits hörte ich die Vorträge von A. Harnack und H. de Vries. Der erste überraschte mich durch seine Freiheit von engem Dogmatismus, so daß ich ihn mir zur Veröffentlichung in meinen »Annalen der Naturphilosophie« erbat. Doch wollte sich Harnack darauf nicht einlassen. Der Botaniker H. de Vries hatte eben seine aufsehenerregenden Forschungen über die Mutation oder plötzliche Änderung des Typus bei Abkömmlingen veröffentlicht, die mich lebhaftest gefesselt hatten, so daß ich sehr gern die Gelegenheit ergriff, ihn persönlich zu hören. Leider erreichte ich meine Absicht nur unvollkommen. Die Vortragsräume waren unmittelbar vor dem Beginn der Versammlung als unzureichend erkannt worden und so hatte man kurzerhand aus einem Raum zwei gemacht, indem man ihn durch eine einfache[414] Bretterwand teilte. Es war nicht bedacht worden, daß die Wand wie ein Resonanzboden wirken und alle Töne aus dem Nebenraum wiedergeben mußte. Nun wollte das Unglück, daß gleichzeitig mit de Vries ein ungewöhnlich kehlstarker Geistlicher im Nebenraum redete, so daß die ohnedies schwächliche Stimme des Naturforschers rettungslos von jener gewaltigen Posaune des Herrn übertönt wurde.

Doch entschädigte mich die persönliche Bekanntschaft, die ich bei dieser Gelegenheit mit dem ausgezeichneten holländischen Forscher anknüpfen durfte.

Die Ordnung der Wissenschaften. Da mein Vortrag dieselbe Aufgabe behandelt, welche durch die Einrichtung der Versammlung praktisch gegeben war, so mögen einige Worte über meine Lösung der alten Aufgabe gesagt werden, die seit Bacos mißglücktem Versuch viele Forscher beschäftigt hat. Mir war sie entgegengetreten, als ich 1901 für meine Vorlesungen über Naturphilosophie eine grundsätzliche Ordnung des Stoffes vorzunehmen hatte. Die von mir gefundene Lösung erwies sich hernach ähnlich der von A. Comte 70 Jahre früher gefundenen, die ich damals noch nicht kannte. Doch darf ich für mich einige wichtige Verbesserungen in Anspruch nehmen. Jene annähernde Übereinstimmung aber zeigt, daß die Aufgabe ihrer dauernden Lösung schon recht nahe gekommen ist.

Der Grundgedanke ist, daß die Ordnung der Wissenschaften durch die Ordnung der Begriffe bedingt wird, denn das Verfahren aller Wissenschaften besteht in der Bildung und Verbindung angemessener Begriffe.

Die Begriffe sind durch ihren Inhalt und ihren Umfang gekennzeichnet. Unter Inhalt sind die Teilbegriffe zu verstehen, die durch den fraglichen Begriff zusammengefaßt werden, unter Umfang die Anzahl der Dinge, welche unter den Begriff fallen. Zum Inhalt des Begriffes[415] Mensch gehört alles, was man seine Eigenschaften nennt; sein Umfang beträgt etwa anderthalbtausend Millionen.

Inhalt und Umfang stehen im verkehrten Verhältnis. Je ärmer der Inhalt, um so größer ist der Umfang und umgekehrt. Nennt man Ding alles, was man von anderen Dingen irgendwie unterscheiden kann, so hat dieser Begriff den kleinsten Inhalt, nämlich nur die Unterscheidbarkeit, aber den größten Umfang, denn er umfaßt alles, was es gibt.

Nun kann man alle Begriffe so ordnen, daß man mit denen größten Umfanges und kleinsten Inhalts beginnt, mit abnehmendem Umfange und reicherem Inhalt fortfährt und mit kleinstem Umfange und reichstem Inhalt schließt. In einer solchen Anordnung muß jeder Begriff seinen Ort finden, sobald sein Inhalt und Umfang genau bestimmt sind. Daran fehlt es bei den Begriffen des täglichen Lebens sehr. Die wissenschaftlichen Begriffe aber sind in solchem Sinne bearbeitet, daß sie tunlichst dieser Bedingung genügen. Beispielsweise sind die Systeme der Zoologie und Botanik Gruppen solcher wohlgeordneter Begriffe, wobei hier wie überall die Vollendung ein nie erreichtes Ideal bleibt.

Führt man diese Aufgabe an der Gesamtheit aller Wissenschaften durch, so gelangt man dazu, diese Gesamtheit in Gestalt einer Pyramide aus einzelnen Schichten darzustellen, deren Breite dem Umfang, deren Höhe dem Inhalt entspricht. Die nachfolgende Figur versinnlicht diese Ordnung in den größten Zügen.[416]


Sechzehntes Kapitel: Ein internationaler Kongreß aller Künste

Es erweist sich, daß die Begriffe Ordnung, Energie und Leben die maßgebenden sind.

Wissenschaften von der Ordnung sind nach zunehmendem Inhalt: Mathetik oder spezielle Ordnungswissenschaft, von der die Logik einen kleinen Teil bildet, Mathematik, Geometrie, Kinematik.

Wissenschaften von der Energie sind: Mechanik, Physik, Chemie.

Wissenschaften vom Leben sind: Physiologie, Psychologie, Soziologie. Zu letzterer gehören alle Geisteswissenschaften. Jede dieser Wissenschaften kann als reine und als angewandte Wissenschaft betrieben werden. Die reinen Wissenschaften sind Vorbereitungen zu den angewandten.

Besonders hervorzuheben ist, daß jede allgemeinere Wissenschaft für jede höherstehende mit reicherem Inhalt Voraussetzung ist, ohne welche diese nicht betrieben werden kann. So kann man nicht Physik treiben ohne Mathetik, Mathematik und Geometrie, Mechanik. Das Umgekehrte gilt dagegen nicht; man kann ein ausgezeichneter Chemiker sein ohne eine Kenntnis der soziologischen Wissenschaften. Letztere setzen umgekehrt eine Kenntnis aller allgemeineren Wissenschaften voraus.

Politik ist angewandte Soziologie. Fragt man, ob unsere Politiker etwas von Ordnungswissenschaft, Physik, Chemie, Physiologie verstehen, so erkennt man, wie unbeschreiblich rückständig unsere Zeit in wissenschaftlicher Beziehung noch ist und welche ungeheuren Aufgaben unsere Kinder und Enkel noch zu lösen haben.

Dies ist nur ein kurzer Hinweis auf die große Menge Belehrung, die man aus diesem einfachen Schema schöpfen kann, wenn man es zum Reden zu bringen versteht.

Heimatliche Fäden. Der Reichskommissar Le wald bezeigt ein besonderes Interesse, mich näher kennen zu[417] lernen. In Berlin waren damals durch den Rücktritt F. Kohrauschs vom Präsidium der Reichsanstalt und den des Professors H. Landolt von der Professur für physikalische Chemie an der Universität zwei wichtige Stellen frei geworden, und es war natürlich, daß auch die Frage auftauchte, ob ich für eine dieser Stellen geeignet sei. Anscheinend war Lewald beauftragt worden, über seine Eindrücke in solcher Beziehung zu berichten, denn er lenkte das Gespräch wiederholt in diese Richtung. Ich war schon damals von starkem Freiheitsdrang erfüllt und sehnte mich nach Unabhängigkeit; andererseits hätte mir von einer jener Stellen aus in der Reichshauptstadt ein noch erheblich weiterer Wirkungskreis offen gestanden. In diesem Zwiespalt, zu dessen innerer Klärung in jenen bewegten Tagen es an Zeit und Stimmung fehlte, ließ ich mich in meinen Äußerungen ohne jede Vorsicht gehen. Ich hob, vielleicht noch stärker als ich sie empfand, meine Abneigung gegen alle formalen und kanzleimäßigen Geschäfte hervor, an denen Helmholtz seinerzeit, ähnlich wie Goethe, ein gewisses Behagen empfunden hatte und betonte, wie sehr mich zurzeit allgemeine philosophische und organisatorische Fragen mehr als die meiner alten Wissenschaft fesselten. Kurz, ich sprach alles, was an Bedenken gesagt werden konnte, auf das deutlichste aus. Und ich glaube auch, daß der Erfolg ein Bericht war (falls ein solcher erstattet wurde), daß erhebliche Bedenken gegen eine solche Verwendung meiner Person ausgesprochen werden müßten.

Tischreden. Im übrigen waren die Tage der Versammlung mit Festessen erfüllt. Das erste war das beste. Der Zug der Chemiker war zu derselben Zeit in St. Louis eingetroffen und Hr. Mallinckrodt hatte seinen Führer allein zu Tisch geladen, so daß wir drei Chemiker van't Hoff, Ramsay und ich neben den Angehörigen[418] des Hauses eine kleine, erlesene Tafelrunde bildeten, deren wir uns von Herzen erfreuten.

Die anderen Zusammenkünfte waren große Maschinen, meist mit einigen Hundert Teilnehmern. Am angenehmsten ist mir ein Frühstück beim deutschen Kommissar Lewald im Gedächtnis geblieben, das in dem prächtigen »Deutschen Hause« der Ausstellung stattfand. Mit diesem bin ich wiederholt zusammengetroffen und ich bewahre die Verbindung von freundlicher Höflichkeit und zäher Energie in guter Erinnerung, die diesen hervorragenden Beamten auszeichnet.

Ein amerikanisches »Dinner« unterscheidet sich von einem deutschen Festessen in mancherlei Beziehungen, welche ihm im allgemeinen einen Vorzug vor diesem geben. Zunächst durch die besser durchgeführte Funktionsteilung. Von der Überlegung ausgehend, daß der Mund sowohl zum Essen wie zum Reden unentbehrlich ist, erledigt man jedes von beiden zu seiner Zeit. Zunächst wird nur gegessen und allenfalls mit den Nachbarn ein wenig geplaudert, wobei (wenigstens in den Zeiten, als ich drüben war) erfreulich wenig Wein getrunken wird. Wenn das völlig erledigt ist, tritt der Toastmeister in seine Rechte und die zweite und bessere Hälfte des Abends beginnt.

In dem seit bald zehn Geschlechtern demokratischen Lande – ich hatte u.a. am Niagarafall im Gasthof am Nachmittag, wo es nichts zu tun gab, den Besitzer und den Hausknecht, jeder mit seiner Zeitung in seinem Schaukelstuhl nebeneinander auf der Veranda sitzen gesehen – stellt der Toastmeister ein überlebendes Stück absoluter Monarchie dar. Er beginnt den Redeteil des Abends mit einigen begrüßenden Worten, hebt dann in möglichst scharfer Zeichnung einen Grundgedanken hervor, um den sich der Gedankenaustausch ordnen soll und schließt mit der Wendung: »Herr X.Y.Z. wird die[419] Güte haben, uns mitzuteilen, wie er darüber denkt«. Niemand wird und darf sich einfallen lassen, einer solchen Einladung, die einem Befehl gleich ist, nicht nachzukommen. Ist der Toastmeister besonders rücksichtsvoll, so redet er noch ein wenig weiter, um dem Opfer etwas Zeit zu gönnen, indem er etwa gleich auch den folgenden Redner bezeichnet; anderenfalls muß der Genannte wohl oder übel aufstehen und sein Sprüchlein sagen, wie der Geist es ihm einbläst.

Aufgabe des Toastmeisters ist es, die Redner so zu wählen und etwa durch kurze Bemerkungen zwischen den Reden den Gedankengang so zu lenken, daß etwas wie eine symphonische Gesamtwirkung herauskommt. Jeder Aufgerufene aber ist bestrebt, meist durch Wendungen nach der humoristischen Seite seine Aufgabe so gut zu lösen, wie er nur kann, wobei er sich gegebenenfalls nicht versagt, dem Toastmeister oder einem Vorredner in guter Form Eins abzugeben. Es ist also eine Art von geistigem Ballspiel, das je nach der Beschaffenheit der Tafelrunde feiner oder gröber, meist aber doch interessant genug gespielt wird. Ich fand einen nicht geringen Reiz darin, obwohl mir als einem Sprachfremden ein großer und vielleicht der feinere Teil davon entgehen mußte.

Wie man erkennt, hat sich die Tischrede in Amerika zu einem wesentlichen Bestandteil des gesellschaftlichen Verkehrs entwickelt. Es ist dies eine natürliche Folge der demokratischen Verfassung. Wenn es bei allen wesentlichen Dingen auf Mehrheiten Zustimmender ankommt, so wird es eine Lebensfrage, wie man solche Mehrheiten gewinnt. Das allgemeine Mittel hierür ist die Überredung und daher ist die Fähigkeit, größere Mengen zu überreden, die Grundlage aller Erfolge, ja beinahe eine Lebensnotwendigkeit. Wie die lebensnotwendigen Betätigungen der Muskeln an den Armen und Beinen durch[420] den Sport zu besonderer Höhe ausgebildet werden, so ist die Tischrede ein geistiger Sport. Er entwickelt einerseits die geistigen Notwendigkeiten, wie schnelles Denken, Mannigfaltigkeit der Einfälle und Gewandtheit der Gedankenverbindung, andererseits die Kenntnis der geistigen Beschaffenheit der Hörer, um sie von der Seite fassen zu können, wo die größte Bereitwilligkeit zum Mitgehen oder der geringste Widerstand zu erwarten ist.

Da wir in Deutschland gegenwärtig politisch in der gleichen demokratischen Lage sind, haben wir allen Grund, uns nach dieser Seite zu entwickeln und den Redesport methodisch zu betreiben.

Hierzu wäre besonders zweckmäßig ein Verlassen der bisherigen, wohl Französischen Vorbildern entnommenen Gewohnheit, die Tischreden während des Essens steigen zu lassen. Ich brauche nur an die vielfältigen Störungen durch Tellergeklapper, Kaltwerden des Essens, Hemmung des Auftragens usw. des bisherigen Verfahrens zu erinnern, die durch die Amerikanische Trennung von Essen und Reden vollständig vermieden werden. Deren Vorzügen steht nach meinen vielfältigen Beobachtungen kein einziger Nachteil entgegen.

Nachdem ich einmal unter dem Beifall der Tischgenossen an diesem Spiel beteiligt worden war, hielten sich an den folgenden Abenden die Toastmeister für berechtigt, mich immer wieder in Anspruch zu nehmen, so daß ich schließlich ungeduldig wurde und mich zu rächen beschloß. Ich hatte bisher als dankbarer Gast meist eine hübsche Wendung gesucht und gefunden, in der ich den Gastfreunden etwas Freundliches sagte. Ich konnte dabei feststellen, daß der durchschnittliche Amerikaner (bis ziemlich hoch hinauf) unbegrenzte Mengen Lob nicht nur verträgt, sondern bereitwilligst verschluckt. Hernach tut er den Mund auf und wartet auf mehr. Hier gedachte ich einzuhaken.[421]

Ich begann mit einem breit ausgeführten Preise der Amerikanischen Tatfreudigkeit, was große Genugtuung hervorrief. Dann stellte ich mir als Energetiker die Frage, woher der Amerikaner diese überschüssige Energie beziehe. Ich erwog verschiedene Möglichkeiten; insbesondere stellte ich fest, daß er nach den Beobachtungen, die ich in den letzten Tagen besonders reichlich und bequem anstellen konnte, weder mehr, noch konzentriertere Nahrung zu sich nehme, als der Europäer. Nachdem ich so die Neugier auf die Lösung des Problems nach Möglichkeit gesteigert und dargelegt hatte, es müsse notwendig etwas sein, was Europa nicht oder nur in viel schwächerem Maße besitzt, waren alle bereit, eine kopfgroße Schmeichelei zu schlucken.

Ich erklärte nun, daß ich endlich die Energiequelle entdeckt hätte, aus der in diesem Lande jedermann, der Millionär wie der Straßenkehrer nach Belieben schöpfen könne, ja müsse. Es sei dies die Energie der Luftschwingungen aller Art, die hier auf jeden von allen Seiten ununterbrochen einströmt. Unerfahrene Leute nennen sie Lärm und jeder Fremde würde bestätigen, daß man hiervon in diesem Lande unvergleichlich viel mehr zugemessen bekommt, als im alten Europa. Wir Fremden besäßen noch nicht den Transformator, durch welchen anscheinend die Amerikaner diese so reichlich fließende Energiequelle nutzbar zu machen wissen; nachdem wir aber soviel hier gelernt haben, könnten wir vielleicht auch dahinter kommen.

Einen Augenblick waren meine Hörer verdutzt. Dann aber brach ein Getöse aus, Lachen und zorniges Grunzen durcheinander, daß der Toastmeister längere Zeit Mühe hatte, bis er wieder geordnete Verhältnisse herstellen konnte.

Zum Abschluß der Versammlung war ein großes Festessen von fast tausend Personen angesetzt, das wie[422] alle solche Massenfütterungen wenig angenehm verlief. Es fand in den »Tiroler Alpen« statt, der Nachahmung eines Tiroler Dorfes mit geschickt und eindrucksvoll gemaltem Alpenhintergrund. Das Gespräch mit den Tischgenossen wurde beständig gestört durch eine beleidigend laute Blechmusik, welche sich die Amerikaner für teures Geld aus Paris verschrieben hatten; es war die Kapelle eines dortigen Garderegiments.

Dazwischen wurden die offiziellen Abschiedsreden gehalten, und nach jeder hatte die Kapelle die Nationalhymne des betreffenden Landes zu spielen. Als aber Deutschland an der Reihe war, weigerten sich die französischen Musiker, die »Wacht am Rhein« zu blasen und es bedurfte großer Anstrengungen, um auf irgend eine Weise, ich erinnere mich nicht mehr wie, den peinlichen Zwischenfall zu vertuschen.

Auf mich machte der Vorfall einen starken Eindruck. Während der ganzen Woche war immer wieder von der völkerverbrüdernden Macht der Wissenschaft die Rede gewesen, und die oberhalb nationaler Eifersucht und Gegnerschaft stehende Heiligkeit der kulturellen Gemeinschaft war der Grundgedanke der ganzen Zusammenkunft. Und hier trat nach vierzigjährigem Frieden, nach unaufhörlichem Entgegenkommen unsererseits der nationale Haß der Franzosen wegen der erfolgreichen Zurückweisung des frivolen Angriffs von 1870 so ohne alle Rücksicht auf den Kulturgedanken in die Erscheinung! Die Franzosen zeigten sich damit schon damals als die Barbaren, als die sie sich seit 1914 in ihrem mit allen Mitteln geführten Krieg gegen die Deutsche Wissenschaft bis heute erwiesen haben.

Washington. Nach Abschluß des Kongresses verabschiedeten wir uns dankbar von unseren Gastfreunden und begaben uns mit einem großen Teil der Kollegen nach Washington, wo der damalige Präsident Rooseveldt[423] die Kongreßteilnehmer zu empfangen bereit war. Van't Hoff und ich blieben auch auf dieser Reise zusammen, um uns die lange Fahrt durch Plaudern zu verkürzen. Am Abend zeigte er mir die Maßregeln, die er für den Fall eines Eisenbahnunglücks getroffen hatte. Zunächst hatte er überlegt, daß er während der Nacht in der Fahrtrichtung, den Kopf voran, liegen müsse. Wenn der Zug durch ein plötzliches Hindernis zum Stehen gebracht wird, so hat der Körper noch eine große Bewegungsenergie, durch die er gegen die Trennungswand geworfen wird, den Kopf voran. Die Hirnschale würde dabei in Anspruch genommen, wie ein Ei, das man gegen den Tisch schlägt, d.h. sie würde zerbrochen werden, wenn der Stoß nicht gedämpft wird. Somit baute er alle Kissen, seinen Mantel und was sonst noch Weiches vorhanden war, als Puffer gegen diesen Stoß auf.

Ferner aber bestanden noch andere Unfallsmöglichkeiten, die zu schweren Verletzungen führen konnten. Für diesen Fall hatte er in der Westentasche ein Röhrchen aus dünnem Glase, in welchem sich etwa ein Gramm chemisch reines Zyannatrium hermetisch eingeschmolzen befand. Eingeschmolzen, damit es sich nicht durch den Luftzutritt verändern konnte, das Natriumsalz statt des üblichen Kaliumsalzes, weil es leichter löslich ist, und das Glasrohr so dünnwandig wie angängig, damit man es leicht mit den Zähnen zerbeißen konnte. Dies gedachte er zu tun, wenn der Unglücksfall von der Beschaffenheit war, daß er als Krüppel übrig bleiben würde, denn das Salz bewirkt einen augenblicklichen Tod.

Glücklicherweise wurde weder die eine noch die andere vorgesehene Möglichkeit Wirklichkeit.

Gegen Morgen hielt der Zug in einer größeren Stadt, wenn ich mich recht erinnere, Indianopolis und der Schaffner sagte, daß er vor einer halben Stunde nicht weiterfahren würde. Da kein Speisewagen im Zuge war,[424] ging ich in den Speiseraum, wo ich aber nichts bekam. Als ich nach zehn Minuten meinen Zug besteigen wollte, war er abgefahren. Ich mußte bis zum Nachmittag warten, bis ich meine Reise fortsetzen konnte. Inzwischen hatte sich van't Hoff meines Handgepäcks – ich hatte auch den Hut im Zuge gelassen – angenommen und da wir glücklicherweise den Gasthof verabredet hatten, so fand ich am Abend ihn und alles andere wieder.

Die Kongreßmitglieder waren inzwischen beim Präsidenten gewesen. Van't Hoff bedauerte, daß ich nicht zugegen gewesen war, denn Rooseveldt hätte nach mir gefragt. Da ich ihn in Verdacht hatte, er wolle mich nur verulken, ließ ich die Nachricht auf sich beruhen.

In Washington gab es vielerlei zu sehen. Am meisten hat auf mich die Bücherei des Kongresses Eindruck gemacht mit den technisch schön entwickelten mechanischen Einrichtungen, um in wenigen Minuten mittels einer kleinen Eisenbahn den Bestellzettel hinein und das gewünschte Werk heraus zu befördern. Auch in dem riesig ausgedehnten Nationalmuseum gab es Vielerlei zu sehen. Die »historischen« Orte, wie Washingtons Wohnhaus usw. schenkte ich mir, da ich für deren weihevolle Betrachtung nichts übrig habe und die Andacht der Anderen nicht stören wollte. Auch tat mir die Zeit leid.

Dazu kam die Erschöpfung durch den Trubel der Kongreßtage, die ich durch einen mit Schlafen und Nichtstun angefüllten Tag ausgleichen konnte. Schlimmer erging es van't Hoff, der ziemlich ernstlich erkrankte, aber auch nach einigen Tagen hergestellt wurde. So machte ich die verschiedenen Festlichkeiten, die uns in Washington angeboten wurden, nur mit Vorsicht mit, obwohl es mancherlei interessante Menschen zu sehen gab. So erinnere ich mich, einige Worte mit Graham Bell, dem Erfinder des Telephons und mit[425] dem ausgezeichneten Physiker Michelson gesprochen zu haben. Der erste war ein schöner alter Herr mit schneeweißem Haar und Bart, der andere sah mehr wie ein Militär als wie ein Professor aus.

Baltimore, Cambridge, Middletown. Von Washington ging ich nach Baltimore, wo wieder einer meiner Schüler, H. Jones, eine Professur für physikalische Chemie an der Johns Hopkins Universität bekleidete. Wegen der Ferien waren die meisten Kollegen abwesend, doch hatte ich wieder eine kurze Begegnung mit dem Präsidenten der Universität, Ira Remsen, den ich schon in New York gesehen hatte. Er war gleichfalls Chemiker und bestätigte mir, daß relativ viele frühere Chemiker sich zur Verwaltung von Universitäten geeignet erwiesen haben. Denn ein amerikanischer Präsident bedeutet sehr viel mehr für die Universität, als ein deutscher Rektor. Er wird auf lange, oft auf Lebenszeit gewählt und greift viel tiefer in den Betrieb der ganzen Anstalt ein, als der einjährige Rektor kann. So erhalten oft die dortigen Anstalten ihre besondere Beschaffenheit durch die Persönlichkeit des Rektors. Einer der einflußreichsten Männer in solcher Richtung war der damalige Präsident der Harvard-Universität, Ch. Eliot, der gleichfalls ursprünglich Chemiker gewesen war. Ich habe ihn damals nicht kennen gelernt, wohl aber gelegentlich meiner dritten Reise nach der Union, die mich in unmittelbare Beziehung zu ihm und seiner Anstalt brachte.

Eine Fahrt durch den schönen Stadtpark, ein Blick auf die sehr ausgedehnten Gebäude und Anlagen der Universität, ein kleiner Vortrag an die anwesenden Chemiestudenten und ein Dinner mit den anwesenden Kollegen, das Prof. Jones vorbereitet hatte, füllten den Tag reichlich aus.

Mit der Erledigung des Besuches von Baltimore war das Amerikanische Programm in der Hauptsache[426] abgespielt. Professor Münsterberg hatte die Europäischen Teilnehmer noch zu sich nach Cambridge, Mass. eingeladen, wo er an der Harvard Universität eine Professur bekleidete, und mir unter der Versicherung, es sei von besonderer Wichtigkeit für mich und meine Bestrebungen, das Versprechen abgenommen, den Abend bei ihm jedenfalls mitzumachen. Andererseits konnte ich, wenn ich auf weitere Reisen verzichtete (wozu ich sehr bereitwillig war), die Heimfahrt über den Ozean zusammen mit William Ramsay machen, was mir besonders willkommen war.

Demgemäß regelte ich die Tage. Von Baltimore fuhr ich nach Boston, wo mein Schüler A.A. Noyes die physikalische Chemie mit besonderem Erfolge an der dortigen technischen Hochschule (Massachusetts Institute of Technology) vertrat, und von dort zum benachbarten Cambridge, um den »Rout« bei Münsterberg mitzumachen. Dieser erwies sich als ein erstickendes Gedränge von viel zu viel Menschen in viel zu engen Räumen. Münsterberg gedachte mich mit dem Präsidenten Ch. Eliot bekannt zu machen, der aus Gründen, die mir damals unbekannt waren, eine persönliche Berührung mit mir wünschte. Leider mußte er aber gerade an jenem Abend unaufschiebbar verreisen und meine bereits getroffenen Abmachungen verhinderten mich, seine Rückkehr zu erwarten. Ich ahnte nicht, daß ich im folgenden Jahre ein ganzes Semester in Harvard zubringen sollte.

Meine Abmachungen bezogen sich auf einen Besuch beim Professor Atwater, der an einer kleinen Universität in Middletown NY als Physiologe tätig war. Er hatte nach Anregung des berühmten Pettenkoferschen Respirationsapparates eine höchst sinnreiche Einrichtung erbaut, um den ganzen Energie- und Stoffwechsel am Menschen messend zu verfolgen und mit ihr bereits[427] wichtige Ergebnisse gefunden. Ich hatte in meiner Zeitschrift wiederholt auf die Wichtigkeit dieser Arbeiten hingewiesen und wollte Amerika nicht verlassen, ohne den Forscher und seine Einrichtungen persönlich kennen gelernt zu haben.

Ich fand ein kleines, ländliches Städtchen und eine kleine, konfessionelle Universität darin, in welchem jener selbständig und idealistisch denkende Forscher unter Überwindung von tausend Schwierigkeiten durch Betätigung einer ganz außerordentlichen technisch-wissenschaftlichen Begabung seinen Forschungsplan ausgeführt hatte. Seine Ergebnisse haben die verdiente Berühmtheit erreicht. Doch hat, wenn ich mich recht erinnere, der ausgezeichnete Forscher seine ungewöhnlichen Leistungen bald darauf mit einem schweren Zusammenbruch bezahlen müssen.

Heimreise. Zur gegebenen Zeit begab ich mich in New York auf den Englischen Dampfer Baltic, eines der größten Schiffe der Englischen Verkehrsflotte. Der Vergleich mit den Deutschen Schiffen, der sich mir unwillkürlich aufdrängte, fiel ganz ohne Frage nach allen Richtungen zugunsten der Deutschen aus. Die Kabine, in der ich untergebracht wurde, war bei weitem nicht so nett und sauber, wie ich sie auch auf unseren Schiffen zweiter Ordnung gefunden hatte. Sie roch nach Seekrankheit, anscheinend nicht nur von ihrem letzten Bewohner her, denn einen ähnlichen Geruch fand ich auch in den anderen Kabinen, in die ich zufällig gelangte. Das Essen war unschmackhaft und lieblos zubereitet. Während man auf dem deutschen Schiff Gefahr lief, sich den Magen an dem Allzuviel aller guten und wohlschmeckenden Dinge zu verderben, die so einladend auf der Speisekarte verzeichnet waren, verlor man auf der »Baltic« nach wenigen Tagen den Appetit, weil die Kost gar so reizlos und eintönig war.[428]

Ich fand Ramsay vor, entsprechend unserer Abmachung und wurde von ihm mit den drei oder vier Tischgenossen bekannt gemacht, mit denen uns die Mahlzeiten zusammenführten. Es waren wissenschaftliche Männer ohne besondere Bedeutung, die sich dem Fremden gegenüber in Zurückhaltung verschlossen. Auch die anderen Mitreisenden, mit denen mich Ramsay gelegentlich bekannt machte, zeigten keine Neigung, die Bekanntschaft fortzusetzen. Ich glaube sicher sagen zu dürfen, daß es sich nicht um eine gegen meine Person gerichtete Einstellung handelte. Sondern der Deutsche war ihnen auf dem englischen Schiff nicht recht. Mir war das ein willkommener Grund, mich vom Verkehr fernzuhalten und mich meiner Erholung von den gehabten Anstrengungen zu widmen.

Aus gelegentlichen Gesprächen entnahm ich, wie tief die Engländer sich durch die Überlegenheit der Deutschen Schiffahrt im Passagierdienst im Innersten gekränkt fühlten. Sie unterließen nicht, stets zu betonen, daß ihre Schiffe gerade so seien, wie sie sie haben wollten.

Eine andere Probe der insularen Beschränktheit trat mir in einem Gespräch mit einem Besitzer bedeutender Spinnereien entgegen. Er war Vorsitzender eines Vereins zur Bekämpfung des metrischen Systems, das er durch die Englischen Maße ersetzen wollte. Ich gab ihm zu, daß die Grundzahl des Dezimalsystems nicht glücklich gewählt ist und besser durch die Grundzahl 12 ersetzt werden sollte, da jene nur die Faktoren 2 und 5, diese dagegen die Faktoren 2, 3, 4 und 6 hat. Da aber die Englischen Maße durchaus kein konsequentes Zwölfersystem bilden, obwohl sie oft diesen Faktor enthalten, so wäre ihre Annahme doch nur ein Rückschritt.

Einige Tage vor der Ankunft des Schiffes in Liverpool gab es einen geselligen Nachmittag zu dem Zweck, Geldbeiträge für die Unterstützungskasse der Witwen und[429] Waisen der Seeleute zu sammeln. Ich hatte auf Ramsays Anregung meine Niagarastudien dafür hergeliehen, die in einem der Gesellschaftsräume zu einer kleinen Ausstellung mit Eintrittsgeld angeordnet wurden. Als aber die Mitreisenden sich dafür zu interessieren anfingen, wurde alsbald in einem anderen Raume das auf eine Stunde später angesetzte Konzert begonnen. Ein Sänger schmetterte fortissimo ein nationales Lied, welches die Leute alsbald in den Musiksaal zog, so daß die Bilder verlassen wurden und die anmutige Dame, welche die Kasse übernommen hatte, nichts mehr zu tun fand.

Ich lege Gewicht darauf, zu bemerken, daß ich ein derartiges unfreundliches Gebahren nur in den nichtwissenschaftlichen Kreisen unserer Nachbarn vorfand. Von meinen Kollegen in England habe ich fortdauernd das freundlichste Entgegenkommen erfahren, das sich unter anderem in wissenschaftlichen Auszeichnungen aussprach, die ich nirgends reichlicher empfangen habe, als von Englischer Seite. Einiges davon ist bereits erzählt worden.

Zu gegebener Zeit trafen wir in Liverpool ein. Obwohl ich dort gute Bekannte hatte, hielt ich mich keine Stunde auf, sondern fuhr über London mit den schnellsten Verbindungen, die ich ausfindig machen konnte, nach Hause, wo ich alle wohl und gesund vorfand.

Quelle:
Ostwald, Wilhelm: Lebenslinien. Eine Selbstbiographie. Berlin 1926/1927, S. 389-430.
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