Karlsruhe. Baden. Mannheim

1816

[164] An einem trotz des Regens doch schönen Sommerabend in der Mitte des Juli trafen wir in Karlsruhe fröhlich ein. Rahel war angenehm überrascht, eine freundliche, umfangreiche, großenteils wohlgebaute Stadt zu sehen, die man ihr in Mannheim als den traurigsten, verlassensten Ort vorgestellt hatte, in welchem alles und jedes fehle und jede Kleinigkeit von außerhalb müsse bezogen werden. Stattliche Wohnhäuser und reiche Kaufläden, das gewerbliche und heitere Ansehen der Straßen berichtigten schon beim Vorüberfahren jene Geringschätzung, und der wohleingerichtete Gasthof, in welchem wir abtraten, stand gegen die besten in Mannheim und Heidelberg nicht zurück. Der günstige Eindruck bestärkte sich durch die lebhafte Zuvorkommenheit, die wir von allen Seiten erfuhren, durch die beeiferte Ansprache, die uns bewillkommte. Schon früher geknüpfte Bekanntschaften meldeten sich eiligst an, liebe Freunde aus Stuttgart führte der Zufall unvermutet in denselben Gasthof, der Hofbankier Haber bezeigte seine Dienstbeflissenheit, die ansässigen Gesandten, ungeduldig, den neuen Kollegen zu sehen, begrüßten uns anteilvoll, Tettenborn kam auf einen Tag aus Baden und ebendaher der preußische Gesandte von Küster, der beauftragt war, mich in die neuen Verhältnisse einzuführen. Nachdem Küster mich dem Minister der Auswärtigen Angelegenheiten, Freiherrn von Hacke, vorgestellt und diesem meine Anmeldung beim Großherzog und bei den zahlreichen Mitgliedern des Großherzoglichen Hauses empfohlen hatte, gab er mir die nötige Einweihung in die Geschäfte, da ich auf diesem Boden zum erstenmal auf eignen Füßen stehen mußte und im kleinen Dienste des Kanzleiwesens völlig unerfahren war. Die wichtigen, soviel Unwichtiges einhüllenden Formeln waren schnell gelernt, und gleich am ersten Tage fand sich Gelegenheit, sie amtlich[165] anzuwenden. Da das diplomatische Wesen auch auf die beschränktesten und dümmsten Köpfe berechnet sein muß und diese gewöhnlich mit Leichtigkeit und Glück sich darin bewegen, so darf dazu natürlich kein besonderer Geistesaufwand erfordert sein, und was der Mittelmäßigkeit nicht allzu schwer wird, erweist sich dem offnen Sinn als ein bloßes Spiel, das ihn kaum anstrengen, höchstens wie jedes andere durch geistlose Wiederholung ermüden kann. Auch machte dies alles mir nicht die geringste Sorge; desto mehr aber hatten wir deren, um eine angemessene Wohnung zu finden, sie gehörig einzurichten, mit den neuen Bekanntschaften uns zu benehmen, Besuche zu geben und zu empfangen; alles dieser Art drängte sich in diesen ersten Tagen zusammen, und wir durften nicht hoffen, sie fürerst anders ausgefüllt zu sehen.

Von den diplomatischen Kollegen, mit denen allen ich sogleich in freundlichen Verhältnissen stand, konnten nur die Gesandten von Österreich und Rußland auch als politische Freunde gelten. Doch der russische Gesandte, Freiherr von Maltitz, war politisch überaus zurückhaltend, weil er nur nach empfangenen Weisungen handeln wollte, mit diesen aber eben nicht sehr bedacht wurde, und hiezu stimmte denn auch seine gesellschaftliche Absonderung; schwere Krankheitsleiden seiner Gattin störten seine Häuslichkeit, aus deren Verdüsterung eine Tochter und zwei Söhne nur schwermütig hervorblickten, die beiden letztern nur allein durch Dichtung, für welche besonders der jüngere ein schönes Talent hatte, des Schimmers einer hellen Jugend teilhaft. Der österreichische Graf von Trauttmannsdorff hingegen, jung, sinnig, aus dem Rausche des Wiener Lebens nach Karlsruhe wie in eine Idylle versetzt, genoß heiter die Darbietungen des Tages und wußte sich die kleine Geselligkeit ganz angenehm zu machen; er kam mir mit Offenheit entgegen – auch er war neu in seiner Laufbahn –, vertraute mir seine kleinen Zweifel und Verlegenheiten und versprach in möglichstem Einvernehmen mit mir zu handeln, wiewohl[166] sich hiefür in der Folge nicht viel Anlaß ergab. Der französische Gesandte, die von Bayern und Württemberg und später auch der hannöversche sahen mich schon etwas mißtrauischer an und ließen durchblicken, daß die preußischen Interessen nach Umständen ihnen als gegnerische erscheinen dürften. Der bayerische Gesandte, Graf von Seyboldtsdorf, war mit Rahel von Berlin her bekannt und bezeigte ihr die größte Verehrung; er hatte Geist und Kenntnisse und ein feines, taktvolles Benehmen; aber wegen eines schmählichen Übels, an dem er litt, zog er sich bei noch jungen Jahren in grämliche Abgeschiedenheit, grollte mit sich selbst und der Welt und wünschte sich tausendmal des Tages von Karlsruhe weg in ein südliches Klima, von dem allein er noch Linderung seines Unheils hoffte; sein Amt versah er mit Widerwillen und ebendeshalb mit einer Heftigkeit, die ihm auf keiner Seite Gunst erweckte; gegen mich hielt er sich kalt und vorsichtig, weil er in mir, dem Preußen, einen Feind Bayerns glaubte voraussetzen zu müssen. Gleiche Meinung, aber unter dem Schein von Wärme und Zutrauen, hegte der Gesandte Württembergs, Graf von Gallatin, der, ein geborner Genfer und Republikaner, auf diplomatischer Wanderschaft sein Unterkommen bei dem eigenwilligsten Könige wie sein Bruder das seine im diplomatischen Dienste der Vereinigten Staaten von Nordamerika gefunden hatte; Leute des Handwerks, die dasselbe üben, wo und wie die Gelegenheit es gibt!

Ich war kaum acht Tage in Karlsruhe, als unerwartet und plötzlich dort ein politisches Brausen entstand, das in starke Gewitterschläge überzugehen drohte und alles in fieberhafte Bewegung setzte. Der König von Württemberg, unzufrieden vom Wiener Kongresse her, mißtrauisch gegen die bevorstehende Gestaltung der Dinge am Bundestage, in unruhigem Selbstgefühl zum Widerstreben aufgelegt und von seiner übermäßigen Beleibtheit selten in persönlicher Ausführung dessen, was er wollte, gehindert, hatte sich eines Morgens von Stuttgart aufgemacht und stürzte gleich einer[167] Bombe verwirrend in den erschrockenen Hofkreis von Karlsruhe. Nach ein paar Unterredungen mit dem Großherzog, kurzen Beratungen mit seinem und dem russischen Gesandten kehrte er am dritten Tag unwillig und mißvergnügt in sein Land zurück. Der Zweck des sonderbaren Besuches, der sich laut für geheim ausgegeben hatte, wurde sogleich bekannt. Sein Absehen war nichts Geringeres gewesen, als innerhalb des Deutschen Bundes eine engere süddeutsche Verbindung zu stiften, und zu diesem Behuf hatte der König gleichzeitig auch in München und Darmstadt die dringendsten Eröffnungen machen lassen; in Karlsruhe war er selbst erschienen, weil er hier persönlich alles durchzusetzen und den von Wien her beängsteten Großherzog ohne Mühe fortzureißen hoffte. Der kühne Plan war zunächst eine Schilderhebung gegen Österreich und Preußen, sollte dem Übergewicht dieser Großmächte im Bunde wehren, besonders aber Süddeutschland von ihrem Einflusse frei erhalten und diese Unabhängigkeit nötigenfalls durch eine Anschließung an Frankreich befestigen, wo dergleichen bonapartistische Rheinbundserinnerungen auch den Bourbonen ganz angenehm sein mußten. Die Sache scheiterte teils an ihrer eignen Unreife und an dem geringen Vertrauen, das ihr Urheber einflößte, teils an den Zeitumständen, in welche sie unvorbereitet traf. Bayern wollte nicht mit Württemberg und Baden, sondern für sich allein etwas bedeuten und hoffte eben jetzt, durch Österreichs und Preußens Mithülfe, auf Kosten von Baden einen beträchtlichen Länderzuwachs zu gewinnen; in Karlsruhe und Darmstadt aber herrschte zu große Schlaffheit und Schwäche, als daß man den Mut hätte haben können, auf ein solches Wagnis einzugehen, wie Württemberg es vorschlug, im Gegenteil hoffte man in Karlsruhe, bei den drohenden Ansprüchen Bayerns, noch auf den Schutz derselben Mächte, denen man jetzt feindlich entgegentreten sollte. Der König sah daher seine Vorschläge nirgends begünstigt, sein Andringen überall abgewiesen und grollte deshalb seinen Nachbarn noch lange Zeit; der Gedanke[168] solcher Entgegenstellung aber wirkte fort, und es war vorauszusehen, daß er bei künftiger Gelegenheit aufs neue hervortreten würde.

Das Ereignis hatte die ganze Diplomatik in Aufruhr gebracht. Bevor die Nachrichten aus den verschiedenen kleinen Hauptstädten gehörig gesammelt und gesichert sein konnten, herrschte sowohl in Frankfurt am Main als in Berlin und Wien die größte Ungewißheit über den Umfang und Erfolg des versuchten Anschlags; denn selbst die vertraulichen Mitteilungen, welche den großen Höfen aus München und aus Karlsruhe zugingen, ließen vieles im Dunkel, und man glaubte, daß sie manches absichtlich verhüllten. Der Minister von Hacke fand ein Vergnügen daran, die fremden Gesandten im Zustande der Ungewißheit zu lassen, ja, sie vorsätzlich irrezuleiten, und machte sich hinterher lustig über ihre Mißgriffe, wegen deren sie von ihren Höfen dann gescholten wurden. Auch mir legte seine Schalkheit bei diesem Anlaß kleine Fallen; er war mir abgeneigt schon als einem Norddeutschen, die er alle nicht leiden konnte, sodann auch als einem Freunde Tettenborns, dessen Verhältnis zum Großherzog ihn beunruhigte. Mir war jedoch der Zusammenhang der Sachen völlig klar, und ich ließ mich nicht irren, da ich die zuverlässigsten Angaben aus der sichersten Quelle besaß, nämlich aus der nächsten Umgebung des Großherzogs, der gegen seine Vertrauten arglos alles herausgesagt hatte und dessen eigene Worte mir ebenso arglos hinterbracht wurden. Ich stand nicht an, meine Auffassung in meinem amtlichen Bericht und mehr noch in einem besondern Schreiben an den Staatskanzler mit Bestimmtheit auszusprechen, und wiewohl ich dabei den Vorwurf nicht verschwieg, der auf das jüngste preußische so überdachte als mißglückte Auftreten in Frankfurt fiel, als welches der nächste Grund der württembergischen Aufregung geworden war, so wurde ich doch wegen der ganzen Darlegung bestens belobt und mir fernere Wachsamkeit anempfohlen. An den Staatskanzler neben den amtlichen Berichten[169] noch besonders zu schreiben, und hier gerade das Wichtigere und mit größter Freiheit zu behandeln, war mir von erfahrenen Freunden geraten worden.

Nach diesen rasch zusammengezogenen und schnell wieder auseinandergestobenen Wolken trat eine große Stille ein, die sich über Hof und Stadt sichtbar und fast beklemmend ausbreitete; die Begegnisse und Geschäftigkeiten, welche die ersten Tage einer Ankunft beleben, verschwanden allmählich oder sanken zu langweiligem Einerlei hinab; der Hof, dem ich übrigens noch nicht vorgestellt war, eigentlich eine Gruppe von Höfen, die sich einander eifersüchtig gegenüberstanden, hielt sich in größter Zurückgezogenheit; der arme Adel, in Hof- und Staatsämtern dienstbar, saß ungesellig zu Hause und lauerte mißvergnügt auf Gunst und Vorteil; von der Mittelklasse war nicht die Rede, und das untere Volk, ein trübes Gemenge zufälliger Bestandteile, hatte geringe Regsamkeit; alles zusammen machte den Eindruck geistloser Öde und düsterer Stockung.

Die hohen Personen hielten sich hinter ihren Stellungen, welche durch Geburt und Rang ihnen hier angewiesen waren, wie verschanzt und versteckt, hüteten sich vor jeder Überschreitung und beobachteten mißtrauisch, ob eine von anderer Seite vielleicht gewagt werde, der man alsdann entgegenzuwirken bereit war. Sie warteten gleichsam mit dem Leben, daß irgendein Anstoß von außen käme, der das rostende Getriebe in neuen Schwung setzte. In solcher Zurückhaltung hatte es besonders der Großherzog weit gebracht; er fühlte die größte Scheu, fremde Menschen zu sehen, aber nicht minder peinlich waren ihm seine Anverwandten; konnte er ihrem Besuch, ihrem Gespräch einmal nicht ausweichen, so konnte er noch lange nachher den Verdruß nicht verwinden. Stundenlang stand er am Schloßfenster untätig auf der Lauer und beobachtete gegenüber das Haus seines Oheims, des Markgrafen Ludwig, ob etwa die Türe sich öffnete und wer herauskäme oder hineinginge. Die Minister konnten dann mit ihren dringendsten[170] Geschäften nicht vorkommen. Abweisen, Warten, Wartenlassen, Aufschieben, das war ihm stets das erste und liebste. Nur mit einigen vertrauten Günstlingen, vor denen er sich keinen Zwang antat, trieb er im Dunkel der Fasanerie seine heimlichen Vergnügungen, die ihn doch selten erheiterten. Die Großherzogin fügte sich ohne Klage diesem Lebenszuge, der sie auf den engen Kreis ihrer nächsten Umgebung einschränkte; sie beschäftigte sich viel mit ihren Kindern, außerdem sah sie öfters zwei Jugendfreundinnen, die ihr aus dem Campanschen Hause nach Karlsruhe gefolgt waren und deren eine sie mit dem alten badischen General von Lingg verheiratet hatte. Eine Oberhofmeisterin Gräfin von Walsh, die früher in der Vendée mitgefochten, dann ihren Frieden mit Napoleon gemacht und zum Lohn diese Stelle von ihm empfangen hatte, zwei Hofdamen von gewöhnlicher guter Art und eine mit wunderbarer Stimme begabte Kammersängerin, Fräulein Berenfels, waren die bestimmte tägliche Gesellschaft, deren Unterhaltung sich in Lesen, Sticken und Spazierengehen abschloß. – Die Markgräfin Amalia behauptete noch am meisten Freiheit und Selbständigkeit, sie hielt jeden Sonntag Hof, gab wöchentlich ein paar Mittagstafeln und sah Einheimische und Fremde nach Belieben; doch war auch bei ihr alles abgemessen, vorsichtig und kalt. Die übrigen Fürstlichkeiten, die Gräfin von Hochberg mit ihren Kindern einbegriffen, lebten in stiller Unbedeutendheit dahin, niemand mochte nach ihnen fragen, niemand von ihnen hören. In dem Schwarm der Hofleute, deren bei so vielen Höfen nicht wenige waren, zeichneten sich einige durch Talente, andere durch ehrbare Haltung aus, aber die Gesamtheit war ein widriges Gemisch anspruchsvoller Förmlichkeit, plumper Roheit, abgefeimter Verderbnis, lauernder Selbstsucht und augendienerischer Schmeichelei. Fand sich als Ausnahme darunter ein Anflug von Geist, von feinerem Sinn oder gar von Herzensgüte, so hielten diese Eigenschaften sich gewiß möglichst versteckt und baten demütig um Verzeihung, daß sie sich erdreisteten,[171] auch dazusein. Genug, das ganze Hofleben war kümmerlich, dünkelvoll und verzagt, großtuend und gemein, verderbt und freudlos und so still, so still, daß man die Atemzüge hören konnte.

Wir hatten unsere Wohnung in der Waldhorngasse bei dem Kreisdirektor Freiherrn von Wechmar genommen, und durch seine schöne, liebenswürdige Frau, geborne von Wasmer aus Thüringen, fanden wir unverhofft im Hause selbst eine Spur norddeutscher Geselligkeit wieder. Der Graf von Trauttmannsdorff brachte hier seine meisten Abende zu, doch am liebsten mit der schönen Frau allein; und so geriet auch hier alles bald wieder ins Stocken. Die Karlsruher Art war übrigens nicht zu bezwingen, niemand kam anders, als wenn ausdrücklich eingeladen, im besten Putz und mit dem Anspruch auf große Bewirtung; außerdem blieb man für sich und saß in verschlossener Häuslichkeit, die sich freilich fremden Augen meistens nicht gut durfte sehen lassen.

Man fand es ungewöhnlich für einen Diplomaten, daß ich mich auch in andern Kreisen umsehen wollte als in dem der gestickten Uniformen und Hofkleider, aber ich kümmerte mich darum nicht und hatte nur den Verdruß, überall denselben Zuschnitt zu finden, nur noch geringer und ungeschickter. Doch gab es in der Stadt einige Männer von gutem Namen, die es wohl verlohnte kennenzulernen. Ich besuchte den berühmten Jung-Stilling, einen schon hohen Siebziger, der aber noch ein rüstiges Ansehen hatte. Wir fanden uns bald in vertraulichem Gespräch, und an meiner Verehrung für Goethe und Jacobi, an meiner Bekanntschaft mit Taulers, der Frau von Guyon, Lavaters und seinen eigenen Schriften bezeigte er inniges Gefallen. Ich sah mit Rührung den sanften und noch immer lebhaften Greis vor mir, dessen merkwürdigen Schicksalen ich als Leser einst so warmen Anteil gewidmet. Er war einer der wenigen Menschen, in denen ich das treue Bild eines echten Christen erkennen zu dürfen glaubte, indem die Mehrzahl derer, die sich so nennen, und besonders derer, die sich mit anspruchsvollem[172] Eifer so nennen, keineswegs diesen Namen verdient. In Stilling arbeitete sich die Liebe immerfort über die Vorurteile hinaus, welche er abzuwerfen doch nicht die Kraft hatte. Denn bei aller Stärke des Gemüts und der Einbildungskraft war sein Denkvermögen nur schwach; in diesem übertraf ihn seine Frau, seine dritte, die er noch in später Zeit sich zur Gefährtin erwählt hatte, weil er ohne eine solche nicht leben konnte. Die Unglückliche sah einem Schatten gleich, blaß und abgezehrt, von unaufhörlichen Zuckungen gepeinigt, welche ihr den Kopf und Hals immerfort verdrehten, selbst im Schlaf arbeitete dieses Unheil ohne Nachlaß. Es war ein jammervoller und doch erhebender Anblick, aus diesem schmerzverkrümmten, unscheinbar eingeschrumpften Wesen die heitersten Gedanken und schönsten Empfindungen hervorströmen zu sehen, so daß die Leiden und Gebrechen wie verschwunden schienen, wobei man die Überzeugung fassen konnte, daß in dieser körperlichen Unseligkeit mehr echtes Glück wohne als in manchem von Natur und Welt mit höchster Schönheit und Kraft ausgestatteten Menschenkind. Beide Gatten zeigten liebevolles Verlangen, auch Rahel kennenzulernen, von der sie schon viel Vorteilhaftes gehört hatten, besonders von ihrer Pflege der Verwundeten und Kranken im letzten Kriege; eine vornehme Dame, die Rahel selber nicht kannte, hatte ihnen davon erzählt. Ich wünschte sehr diese Anknüpfung, denn ich hoffte für Rahel daraus manche Befriedigung; allein es kam nicht dazu; Jung mußte für einige Zeit aufs Land, wir verreisten ebenfalls, und späterhin machte seine zunehmende Kränklichkeit ihn auch mir meist unzugänglich.

Das Mißgefühl, welches die gesellschaftliche Dürftigkeit, die Aussicht auf die darin zu verlebende Zeit uns gaben, wurde noch durch den üblen Willen verstärkt, der meine Vorstellung bei Hof hinzögerte. Ich war dem Großherzog, wie ich wußte, auf das vorteilhafteste angekündigt und empfohlen, er selbst und die Großherzogin hatten mich im voraus versichern lassen, sie freuten sich meiner Sendung und[173] sie würden alles tun, mir meine Stellung und meinen Aufenthalt angenehm zu machen. Ich durfte an ihrem aufrichtigen Verlangen, mich zu sehen, nicht zweifeln. Gleichwohl verging Woche auf Woche, ohne daß meine Vorstellung erfolgte; der Minister von Hacke suchte sie absichtlich in unbestimmte Ferne hinauszuschieben. Wenn ich ihn erinnerte, hatte er stets eine andere Ausflucht. Zuletzt gab er zu verstehen, es beliebe ihm noch nicht, und ließ deutlich hervorblicken, ich dürfe überhaupt nicht darauf rechnen, einen Freund in ihm zu finden, er werde nur tun, was das Geschäft erfordere. Diese Art Kriegserklärung hatte ich weder erwartet noch verdient, ich stand im Augenblicke dabei sichtlich im Nachteil; allein indem ich meine Aufwallung unterdrückte, ließ ich doch ein paar scharfe Worte fallen und ließ ihn merken, daß ich seine Feindschaft anzunehmen völlig bereit sei und er gefaßt sein möge, auch seinerseits Nackenschläge zu empfangen, wozu die Gelegenheit nicht fehlen werde.

Blößen wenigstens gab er genug, und seine Stellung war schon längst von der Art, daß er eher hätte Freunde suchen sollen als Widersacher. Ein geborner Pfälzer, in der geschmackvollen und lebhaften Gesellschaft Mannheims aufgewachsen und voll Dünkel auf die dortige Bildung, die doch ihm selbst nicht eben reichlich zugekommen war, glaubte er auf die Karlsruher vornehm herabsehen zu dürfen. Er nannte sie nur Böotier, deren dicke Köpfe zu keiner Geistesarbeit geschickt und deren karge Sinne nicht einmal eines rechten Lebensgenusses fähig wären. Der letztere beschränkte sich für ihn aber einzig auf die Mittagstafel, deren Freuden ihm die höchsten waren, die einzigen auch, die er noch genießen konnte. Aufgeschwollen zu einer unförmlichen Fleischmasse, die in einem schweren Hängebauch auslief, zeigte er schon durch dieses Äußere, daß er mehr ein Fresser als eigentlich ein Gutschmecker sei, besonders aber ein Koch, in dessen Verrichtungen er gern persönlich eingriff. Mit plumper Unbefangenheit trug er seine Neigung zur Schau,[174] ließ sich von den Geschäftsleuten in der Küche finden und legte, wenn er mit ihnen sprach, kaum die weiße Schürze ab. Er war nicht ohne Witz, besonders von der derben Art, machte sich über alles lustig, behandelte alles obenhin und meinte, der rechte Staatsmann sei derjenige, welcher an nichts glaube, auf nichts rechne, für nichts eingenommen sei und vor allem sich selber bedenke und sich einen guten Tag bereite. Diese Grundsätze, dabei sein leichtsinniger Aufwand und seine üppigen Mahlzeiten, seine rücksichtslose Dreistigkeit auch in den Staatsgeschäften, in denen ihm vieles über Erwarten gelungen war, imponierten den Kollegen, dem Hof, dem Großherzog selbst, und man glaubte, er sei der Mann, um Baden durch manche drohende Gefahr glücklich durchzubringen. Aber niemand konnte ihn eigentlich leiden, und er hatte nirgends eine wahre Stütze. Während der Rheinbundzeit hatte er es mit den Franzosen gehalten und sich auf die Macht des Kaisers verlassen; nachdem diese zerfallen war, hatte er um andern Anhalt sich nicht gekümmert, im Gegenteil, noch zuletzt als Gesandter in Wien die Empfindlichkeit Österreichs bitter gereizt und dessen Benehmen mit dem Fußtritt verglichen, den in der Fabel dem Löwen der Esel gibt. Von seiner Unverschämtheit erzählte man noch andere merkwürdige Geschichten. Zum Beispiel, als die Bundesbehörde der Schweiz einen badischen Gesandten, der eines schändlichen Lasters offenkundig bezüchtigt wurde, nicht annehmen wollte, damit die Sittenreinheit der Eidgenossen nicht Gefahr liefe, gab Hacke in diplomatischer Förmlichkeit die freche Antwort, das angedeutete Laster vertrage sich mit dem diplomatischen Charakter ganz gut, wie viele Beispiele dartäten; was aber die Sittenreinheit der Schweizer beträfe, so möchten sie doch nur an ihren berühmten Geschichtschreiber Johann von Müller denken, ferner an die zahlreichen Berner Junker, die in ganz gleicher Weise beschuldigt würden. Ebenso sagte er dem Großherzog ins Gesicht, er sei doch kein rechter Herr, weil er nicht den Mut habe, sich öffentlich eine betitelte Mätresse[175] zu halten; dabei nannte er Karlsruhe ein Dorf, das Schloß eine Bauerhütte, das Essen bei Hof einen Hundefraß; wenn er in solcher Aufzählung das Hoftheater verschonte, so war es deshalb, weil er selbst ihm vorstand und sich darauf etwas einbildete. Genug, er trieb es so toll als möglich, und es war kein Wunder, wenn ich im Kampfe gegen einen solchen Unhold auf Bundesgenossen in Menge zählen konnte. Durch die neue Gestaltung der Dinge hatte sein Ansehen ohnehin schon gelitten; es gab Stimmen, die seine vermeinten Talente in Abrede stellten, seinen Witz als rohe Dreistigkeit bezeichneten; sein tolles Wesen, sagte man, könne für Baden gerade jetzt nur verderblich sein.

Dennoch war es mir peinlich, und für einen Anfänger auf meiner Stufe durfte es gewiß auch bedenklich sein, dem Minister, bei welchem ich beglaubigt und auf den ich für allen Geschäftsverkehr angewiesen war, in offener Feindschaft entgegenzustehen.

Schon früher, größtenteils durch Reizenstein und dann durch Tettenborn, war ich in den Zusammenhang der badischen Sachen eingeweiht worden. Die Staatsverträge und geheimen Verabredungen zwischen Österreich und Bayern in betreff der Zukunft Badens gehören zu den willkürlichsten und gehässigsten Handlungen, welche die neuere Diplomatie begangen hat, und sie werden dadurch nicht besser, daß auch die andern großen Mächte in gleichgültigem Unbedacht mehr oder weniger ihre Zustimmung gaben. Österreich und Bayern waren einig geworden, letzteres solle den Ersatz der Gebietsteile, welche ihm Österreich gewaltsam abgedrungen, aus dem Lande des Großherzogs von Baden erhalten, der ihrer Ausgleichung ganz fremd und weder gefragt war noch gefragt werden sollte. Man setzte ganz willkürlich und unschicklich voraus, der badische Mannsstamm werde nächstens aussterben, und dann sollte der Breisgau an Österreich, die Rheinpfalz und überdies der Main- und Tauber-Kreis an Bayern kommen oder, wie man beschönigend sagte, zurückfallen, als ob jene Staaten diese Gebiete nie durch völkerrechtliche[176] Verträge unbedingt abgetreten hätten! Aber das Ärgste war, daß man dieses Erlöschen des Mannsstamms als gewiß annahm, während der Großherzog in seinen besten Jahren mit seiner jugendlichen Gemahlin in kindergesegneter Ehe lebte und statt des frühgestorbenen eben wieder ein Erbprinz geboren war. Daß im Falle jenes Erlöschens dann auch das Land noch Ansprüche und Rechte habe, sich nicht zerstückeln zu lassen, sondern als ungeteiltes Ganzes fortzubestehen, für das immer noch Näherberechtigte als jene Vertragschließer vorhanden waren, dies konnte für Staatsmänner jener Zeit schon leichter außer acht zu lassen sein! Bei der ganzen Verhandlung war ohnehin auf die noch lockere Verknüpfung der ungleichartigen Bestandteile des Großherzogtums, auf die allgemeine Unzufriedenheit mit der anerkannt schlechten Regierung und besonders auf die Schlaffheit des Großherzogs und die Schwäche seiner Ratgeber gerechnet.

Überzeugt von dem guten Rechte Badens und durch alle Eindrücke und Erwägungen, die mir jeder Tag reichlich bot, mehr und mehr angeregt und befeuert, faßte ich alsbald den Vorsatz, in meiner Stellung, soweit die Umstände es gestatten würden, aus allen Kräften dahin zu wirken, daß Baden bei seinem Recht erhalten und gegen die Übergriffe willkürlicher Gewalt bewahrt bliebe.

Ich hatte im vorliegenden Falle die Sicherheit, daß preußischerseits der anerkannte Gerechtigkeitssinn des Königs und die wohlmeinende Ritterlichkeit des Staatskanzlers mir ihre Zustimmung nicht vorenthalten könnten, besonders da die Tatsache, daß Preußens Vorteil gegenüber von Österreich und Bayern eifrig die Erhaltung Badens zu wünschen habe, für niemanden eines Erweises mehr bedurfte. Allein mir standen dennoch vielfache, fast übergroße Hindernisse entgegen. Ich hatte von Berlin keinerlei Vorschrift empfangen, meine Geschäftsführung und Benehmen waren meinem Gutdünken, meiner Klugheit überlassen, und wenn ich auch im allgemeinen den Geist unserer Staatsleitung kannte,[177] so hatte ich mich doch keineswegs auf eine feste und entschiedene Weisung zu berufen, die mich zu dem gewählten Gange ausdrücklich ermächtigte. Vielmehr mußte ich befürchten, daß eine bestimmte Absicht dieser Art, von mir ausgesprochen, sogleich die Besorgnis aufregen würde, ich möchte den Eifer zu weit treiben und die preußische Teilnahme mit der Haltung der übrigen Mächte wo nicht in Widerstreit, doch in Ungleichheit stellen, was man um jeden Preis vermeiden wollte. Denn man fühlte, wie das gute Vernehmen der Mächte, welches beim Wiener Kongreß und beim Zweiten Pariser Frieden kaum noch gehalten, nur an schwachen Fäden hing, und von allen Seiten war man besorgt, besonders aber in Berlin, keine zu starken Gewichte irgendwo daran zu heften. Wo es nicht unabweisliche, in die Augen fallende Gegenstände der Wohlfahrt oder Ehre galt, und selbst bei diesen oft genug, führte man die vorsichtigste Sprache der Bescheidenheit, wollte vor allem die Meinung der andern Mächte hören, suchte durch diese anzuregen, was man selber vorzutragen scheute, und ein festes Auftreten und bestimmtes Fordern waren ganz außer Übung; alle Geschäfte, deren Gang nicht schon durch frühere im Drange der Not oder in der Flüchtigkeit des Augenblickes gefaßte Beschlüsse vorgezeichnet war, litten schwer von dieser rücksichtsvollen Zagheit. Ängstlich suchte besonders unser Kabinett jeden Gedanken zu entfernen, als könnte es handelnd vorgreifen oder auch nur Ansichten festhalten wollen, die mit den andern Kabinetten nicht verabredet wären; nicht als hätte es an Gelüsten und Wünschen gefehlt – im Hintergrunde regten sich geschäftig eine Menge von Ansprüchen –, allein sie zeigten sich nur versuchsweise und zogen die Fühlhörner gleich wieder ein, wenn sie Widerständiges berührt hatten. So wünschte man in Berlin ganz entschieden, daß Baden dem Schicksal, das über ihm schwebte, unbeschädigt entginge; allein man wartete darauf, daß Rußland sich ausspräche oder Österreich anderweitig seinen Vorteil fände; niemals hätte man mir erlaubt, als[178] preußischer Diplomat auf jenen Zweck offen hinzuarbeiten; ich durfte daher eine solche Absicht gar nicht aufstellen, sondern mußte mich beschränken, sie durch Inhalt und Ton meiner Berichte unter Vermeidung alles Aufsehens zu fördern. Beschäftigt und zerstreut, wie damals die Geschäftswelt in Berlin war, die in sich selber gar viel zu ordnen oder zu rücken hatte, konnte mir auf solche Weise, das wußte ich, für lange Zeit freie Hand bleiben.

Doch weit größere Schwierigkeiten standen mir in Baden selbst entgegen. Hier war seit dem Zerfallen des Rheinbundes und der Franzosenherrschaft eine Art politischer Auflösung; die alten Verhältnisse und Personen galten nicht mehr, in die neuen, welchen der Deutsche Bund zur Grundlage gegeben war, hatte man sich noch nicht gefunden, ja, man setzte sich ihnen feindlich entgegen, da man sie für gefahrdrohende hielt. In ratlosem, untätigem Schwanken hatte man alles versäumt, was Baden zu dem ihm gebührenden Ansehen verhelfen konnte; man war, ungeachtet der glänzenden Verwandtschaften, mit keinem der großen Höfe politisch verknüpft, mit keinem der Nachbarn auf sicherem Fuß des Vertrauens, mit keinem der Staatsmänner, welche den großen Kabinetten vorstanden, hatte man nähere Berührung. Ohne diese grenzenlose Vernachlässigung wäre es nie dahin gekommen, daß die Mächte wider Recht und Schicklichkeit so leichthin über Badens Zukunft verfügt und darüber Verträge abgeschlossen hätten; aber der Staat schien sich selber aufzugeben und bei der Mißachtung, in der er stand, nicht viele Rücksicht anzusprechen. Allerdings konnte dieser Nachteil jeden Augenblick gehoben werden, eine kräftige Leitung an die Stelle der schlaffen treten, ein klarer, fester Gang das Schwanken endigen. Doch gerade hiezu war eben jetzt, wo die Gefahr mit jedem Tage größer wurde, nicht die geringste Aussicht. Der Großherzog sah den jämmerlichen Zustand ein, aber ihm fehlten Entschluß und Kraft, ihn zu ändern, er ließ alles gehen, wie es konnte, und schleppte sich in gewohntem Geleise fort. Die Großherzogin[179] stand ganz vereinzelt, ihre engern Beziehungen waren die alten französischen, auf die sie wohl verzichtete, doch ohne neue dafür eintauschen zu können; die Familie war, wie schon erwähnt, in sich entzweit, und die Selbstsucht jedes einzelnen Mitgliedes gönnte keinem andern den Vorteil, der aus dem Heil des Ganzen ihm erwachsen wäre. Die Minister besorgten jeder sein Fach, gewissenhaft oder saumselig, es kam nicht darauf an. Am schlimmsten war das politische Fach versehen, da Hacke weder Eifer noch Umsicht, weder Ansehen noch Einfluß hatte, die fremden Kabinette außer acht ließ und ihre Vertreter oft durch Hoffart und Übermut verletzte. Österreich war feindlich, Rußland gleichgültig gesinnt, Preußen, dessen guter Wille hier am wichtigsten werden konnte, wurde schnöde vernachlässigt und dies besonders an mir ausgeübt, der ich in meiner Stellung so sehr nutzen konnte und dazu so sehr bereit war. Ich sah mich daher genötigt, in Baden selber Krieg zu führen, indem ich für Baden nach außen zu streiten dachte; ohne einen Wechsel der innern Verhältnisse war für die äußern keine Hoffnung, und meine Sache gegen Hacke war nicht bloß die meine mehr. Ein harter und mühsamer Kampf lag vor mir, von dem ich wohl sah, daß ich ihn mit all meinen Kräften würde führen müssen. Mit all meinen Kräften, das konnte hier wenig sagen, wenn nur die gemeint sein sollten, die mein amtliches Verhältnis mir verlieh; zum Glück wußte ich mir andere, die, auf mein Amt gestützt und von ihm gedeckt, bedeutendere Wirkung haben konnten.

Nachdem der Großherzog und Hacke sich von Karlsruhe für längere Zeit wegbegeben, fand ich mein Verbleiben an dem langweiligen Orte unnütz und eilte mit Rahel nach Baden, wo wir mit Ungeduld erwartet wurden. Sie sah diese Gebirgslandschaft zum erstenmal und war entzückt; nach den ersten Umblicken und Ausflügen bekannte sie gern, daß dieses Stück Erdboden eines der schönsten und reichsten sei, die ihr vorgekommen. Das Allernächste und das Entferntere wetteiferten an Reiz, ja die Herrlichkeit schien bei[180] jeder Erweiterung des Kreises nur immer zauberischer zu werden. Weniger günstig war im allgemeinen der Eindruck, den die hier zusammengeströmten Menschen machten, eine Mischung fremdartiger, mitunter sogar unheimlicher Bestandteile. Der Krieg und die ihm gefolgten politischen Veränderungen hatten eine Menge von Leuten aus ihrer Lage gebracht und auf diesen Markt des Verkehrs geworfen; man sah aus Frankreich, aus der Schweiz und aus Deutschland selbst eine große Zahl Abenteurer, Glücksritter, Abgesetzte, Verfolgte, den letztern zur Seite geheime Aufpasser, unsichere, mißfällige Gestalten, und der weibliche Teil meist noch abschreckender als der männliche. Rohes Benehmen und gemeine Stimmen, sowohl deutsche als französische, verleideten nicht nur die öffentlichen Säle, wo die Spielbank die höchsten Klassen und das niedrigste Gesindel vereinigte, sondern auch die Spaziergänge, die Ruheplätze im Freien; Auge und Ohr wurden auf das widrigste beleidigt, während feinere Manieren nicht selten auch nur Arglist und Betrug verdeckten. Die Ortspolizei war grundschlecht, sie machte stets Mißgriffe, wurde den ordentlichen Leuten beschwerlich und ließ die Schelme unangefochten. Einige Vorfälle, wo sehr achtbare Personen in ärgerliche Verwickelungen geraten waren, verbreiteten große Scheu, mit unbekannten Personen sich einzulassen sowie den Schutz der Behörde anzurufen; die große Badegesellschaft bewegte sich untereinander in gespannter Fremdheit, in Mißtrauen und Verdacht.

Dieses Treiben ging uns wohl wenig an und konnte uns kaum berühren. Wir bekamen nur das gleichsam Durchgesiebte, in dem großen und glänzenden Kreise, der uns bei unserer Ankunft in Beschlag nahm. Der General von Tettenborn bewohnte nämlich das damals schönste und wohlgelegenste Haus in Baden, und dieses stand jeden Tag von früh bis spät den ihm aus aller Welt zuströmenden alten und neuen Bekannten gastfreundlich offen. Während er die elegante Welt prächtig bewirtete, sie mit seinen zahlreichen Wagen- und Reitpferden zu den schönsten Lustorten führte,[181] dort ihr glänzende Feste gab, wie diese Gegend sie vorher nie gesehen, war er zugleich der Anhalt der Bedrängten, die Zuflucht der Bedürftigen, die sich an seine unerschöpfliche Freigebigkeit nie vergebens wandten. Sein Kreis war aus allen Nationen gemischt, besonders aber reich an Russen und Franzosen. Von den letztern waren vorzugsweise die jetzt verfolgten Bonapartisten bei ihm gut aufgenommen, deren viele ihn an Napoleons Hof gesehen hatten und nun es dankbar empfanden, daß der ihnen im Kriege so feindliche General sie im Unglück jetzt so freundlich behandelte. Das Verfahren der zum zweitenmal wiedereingesetzten Bourbons, welche sich ganz den Händen der fanatischen Emigrantenpartei hingaben und jeden Tag durch Maßregeln des Hasses und der Rache bezeichneten, erweckte bei allen Edelgesinnten nur Widerwillen und Abscheu und warb der liberalen Partei, mehr als deren Grundsätze es vermocht hätten, Anhänger und Beschützer. Die Verfolger waren oft schuldiger als die Verfolgten und schlugen nur um so grimmiger auf diese, damit die eigene Schuld um so eher vergessen oder verziehen würde. Besonders empörte den bessern Sinn der Deutschen das Heer feiler Kundschafter, welche von den knechtischen Behörden jener frechen Partei in die benachbarten Grenzländer ausgeschickt wurden und mit denen auch Baden überschwemmt war. Hier galten die Spähereien nicht allein den Bonapartisten und Liberalen, sondern auch der Landesregierung, dem Hofe, wo die Anhänger Bonapartes in der Großherzogin Stephanie eine wichtige Stütze haben sollten; dies war völlig grundlos, aber die Frechheit ging so weit, daß man badischen Beamten zumutete, ihre eigene Fürstin an die französische Polizei zu verkundschaften! Auch bei Tettenborn wollten sich hochbetitelte Sendlinge dieser Art einschleichen, allein sie wurden mit Schimpf und Schande bald ausgewiesen. Alle Genossen unseres Kreises, wie ungleich sonst in politischer Denkart, stimmten darin überein, daß die Regierung der Bourbons in niedriger Leidenschaft ihr eigenes Verderben bereite; besonders[182] waren die Russen und Engländer heftig im Ausdruck ihrer Verachtung und ihres Hasses gegen die unwürdigen, oft grundlosen Verfolgungen.

Frau von Demidow, geborne Stroganow, die reiche Russin, kam mit großem Gefolge aus Paris und ließ uns den Widerhall der dortigen Stimmung vernehmen, welche mit Ausnahme des Hofes und seiner engern Angehörigen durchaus liberal war und gegen die Bourbons sowohl als gegen die sie beschützenden fremden Truppen tiefen Haß nährte und gewaltsamen Ausbruch drohte. Ebenso berichteten die zahlreichen Offiziere, die von diesen in Frankreich zurückgebliebenen, besonders preußischen und österreichischen Truppen zum Besuch nach Baden kamen. Der noch jugendliche, aber schon vielerfahrene und kriegskundige General Bachelu, verbannt und flüchtig, weil er noch zuletzt bei Belle-Alliance in Napoleons Heer gefochten, traf aus der Schweiz ein und hatte dort von der großen Gärung in Burgund und Dauphiné gehört, wo das Stadt- und Landvolk noch sehr an Bonaparte hing oder vielmehr unter den alten Freiheitsgedanken, die unter seiner Gewaltherrschaft zwar unterdrückt waren, jetzt aber mit seinem Andenken wieder verträglich wurden, weil beiden ein gemeinschaftlicher Feind entgegenstand. Durch die Torheit der von Paris her täglich erneuerten Herausforderungen konnte der Volksunwillen jeden Augenblick in offenen Aufruhr übergehen und der Bürgerkrieg sich entzünden. Für uns Deutsche kamen noch die Besorgnisse hinzu, welche die Nachrichten aus der Schweiz, aus dem Schwarzwald, aus Württemberg und selbst aus Tirol uns erregten; diesen ganzen Zusammenhang von Gebirgsländern durchzog ein Geist der Unzufriedenheit, der bei dem kraftvollen Sinne der Bewohner furchtbar werden konnte, wenn diesen einmal gemeinsam zu handeln einfiel.

Ein Ausflug in das nahe Elsaß ließ mich alles bestätigt finden, was mir Deutsche und Franzosen von der dortigen Stimmung berichtet hatten. In diesem ursprünglich deutschen Lande war der deutsche Charakter in voller Kraft[183] wirksam, aber nicht zugunsten der erst aufgekommenen politischen Deutschheit, welche eigentlich ein norddeutsches oder, noch genauer, ein preußisches Erzeugnis war und hier gar nicht verstanden wurde. Was hätte auch in unsern heimischen Zuständen eine solche Sympathie wecken dürfen? Etwa der Blick über den Rhein in das jämmerlich regierte Baden, in das bedrückte, uneinige Württemberg, in die zerrissene Pfalz? Da war es doch besser, dem großen Frankreich anzugehören, das selbst in der Unterdrückung unter den früheren Königen, unter Bonaparte und jetzt wieder unter den Königen, mit denen die Fremdherrschaft ins Land gekommen war, mehr Freiheit und zugleich mehr Gedeihen und Wohlfahrt genoß als Deutschland nach seinen großen Siegen. So wenigstens stellten die Elsasser ihre Lage dar, und das Tatsächliche war nicht zu widerlegen. Im Volke lebten die Eindrücke der bonapartischen Zeit, und weiter zurück die der Republik, mächtig fort, die Restauration der Bourbons hatte hier noch nicht Wurzel gefaßt. Straßburg galt als eine der revolutionärsten Städte Frankreichs, hier ließ man noch oft den Kaiser Napoleon hochleben und schaffte auch die Dreifarben nicht völlig ab, welche den Augen seit einem Vierteljahrhundert vertraut und lieb geworden. Gar kein Wohlgefallen fand man aus gleichem Grunde an den neuen königlichen Truppen, an den statt der alten berühmten Regimenter neu errichteten Legionen; diese konnten in der Tat keine Vergleichung mit den kaiserlichen Scharen aushalten; wie diese durch und durch kriegerisch ausgesehen hatten, so sahen jene nicht einmal soldatisch aus, ihre Haltung war schlaff, ihre Waffenübung träge, Geist und Eifer fehlten ganz und gar, die alten bonapartistischen Offiziere, die noch beibehalten waren, hielten sich verschämt zurück, die neuen bourbonischen Offiziere wagten sich nicht hervor, die Truppen fühlten es, daß sie ihrer Zusammensetzung nach untüchtige sein mußten; nur die Artillerie machte noch eine Ausnahme. Der französische Präfekt, Graf Bouthillier, behandelte die Einwohnerschaft mit[184] kluger Vorsicht und ließ vieles unbemerkt, was im innern Frankreich die schärfste Rüge würde erfahren haben. Wenige Monate später fand er zu bereuen, diese Klugheit um des überwältigenden Ansehens willen, das mit dem Namen des Siegers von Waterloo verbunden war, außer acht gesetzt zu haben. Wellington war auf einer Truppenbesichtigungsreise auch nach Straßburg gekommen, und der Präfekt hatte angeordnet, daß bei dem Erscheinen des Helden im Theater das Lied »God save the king« gespielt wurde. Als der Lord die Ungeschicklichkeit übte, hiezu durch Klatschen seinen Beifall zu geben, brach ein ungeheurer Sturm los: »Weg mit fremden Liedern«, hieß es, »französische, französische!« Der Tumult war so furchtbar, daß der Präfekt sogleich nachgab und mit seinem Gaste sich eiligst entfernte, um persönlicher Gefahr auszuweichen. Für den Augenblick mußte es schon eine Beruhigung sein, daß die Unzufriedenheit, obschon ernst und zäh und darin sehr deutsch, doch nicht die geringste Hinneigung zu den Nachbardeutschen zeigte.

Mit Rahel diese merkwürdige Stadt zu durchwandern, den Münsterturm zu besteigen, die früheren Zustände uns zu vergegenwärtigen, besonders auch Goethes hier verlebte Jugend und meine eigene an dem Örtlichen neu zu entzünden, gab mir einen hohen Genuß, den ich oft ersehnt hatte. Professor Schweighäuser der Sohn, mit Rahel schon von Paris her bekannt, war uns dabei ein erwünschter sinniger Begleiter, der die Vorzüge Straßburgs und des Elsasses als gründlicher Kenner leidenschaftlich anpries und vor Augen zu stellen suchte.

Fünf Wochen eines belebten Aufenthalts in Baden waren schnell verflossen; die Gesellschaft, welche zumeist die unserige gewesen, machte schon neuen Ankömmlingen Platz, auch Tettenborn kehrte nach Mannheim zurück, und wir folgten ihm gern dorthin, nach einem kurzen Aufenthalt in Karlsruhe, wo ich für jetzt nicht lange sein wollte. Der Großherzog weilte noch in Griesbach, und meine Geschäfte mit Hacke waren ohnehin nur schriftlich zu führen. Da ich[185] des Großherzogs sicher zu sein glaubte, so durfte ich wagen, was sonst nicht ratsam gewesen wäre, statt der Hauptstadt diesen Sitz der badischen Opposition zum Aufenthalt zu wählen; die Annehmlichkeiten des hiesigen Lebens ließen kein Bedauern deshalb aufkommen.

Mannheim ist die im südlichen Deutschland am meisten norddeutsche Stadt; ein Kern von höherer Bildung des Geistes und Geschmacks hatte sich unter dem Kurfürst Karl Theodor fruchtbar angesetzt und pflanzte sich in Geselligkeit, Literatur, Kunstsinn, besonders auch im wohlgepflegten Theaterwesen noch immer fort; manche Spätlingserscheinung bezeugte durch Wort und Tat den Glanz jener frühern Zeiten. Die Familien von Dalberg, von Berlichingen, von Venningen und andere dieser Geltung waren hier ansässig; der in Karlsruhe beglaubigte niederländische Gesandte, Admiral von Kinkel, hatte hier seine feste Wohnung; Fremde, wie der Freiherr Strick van Linschoten, der General von Tettenborn, der General von Knorring, Herr Abegg aus Elbing, ließen sich gern auf längere Zeit hier nieder; an Besuchenden und Durchreisenden fehlte es nicht. Ohne Frage war Mannheim damals lebhafter und freundlicher als Karlsruhe; dort hatte ein verschwundener Hof gute Wirkungen zurückgelassen, die ein vorhandener meistenteils vermissen ließ.

Ich war kaum vierzehn Tage in Mannheim, so erfolgte von seiten Hackes die verbindliche Aufforderung, mich zum nächsten Hofzirkel in Karlsruhe einzufinden, wo meine Vorstellung geschehen werde. Ich kam, und die Vorstellung hatte in gewohnter Weise statt, mit allem Zubehör von Besuchen und Einladungen. Der Großherzog war äußerst freundlich und sagte mir sogar mit leiser Vertraulichkeit, er rechne darauf, nun außer Tettenborn noch einen zweiten Freund in der Nähe zu haben. Die Großherzogin tat gleich, als wär ich ein alter Bekannter, und geriet mit mir bald in ein so ernstes Gespräch, daß es den Hofleuten auffiel und besonders Frau von Hacke ihre Ungeduld nicht bergen[186] konnte; der Großherzog hatte sich schon längst entfernt, und noch immer standen wir und sprachen, die Hofleute mußten auch stehen und warten, bis ich endlich entlassen wurde. »Die Hoheit ist ja sehr gnädig gegen Sie gewesen, Sie müssen ihr angenehme Dinge gesagt haben, so lange hält sie sonst nicht aus«, sagte mir Hacke beim Weggehen mehr spitz als artig, und ich erwiderte ihm ebenso, daß ich recht gut wisse, welchen Dank ich ihm dabei schuldig sei, zugleich macht ich ihm die Anzeige, daß ich nochmals nach Mannheim zurückkehren würde, was ihm offenbar unerwartet kam.

Gleich darauf erfolgte auch die Vorstellung bei der verwitweten Markgräfin Amalia und ihrer Tochter, Prinzessin Amalie, darauf bei der Königin Friederike von Schweden und ihren Prinzessinnentöchtern, dann bei den Markgrafen Ludwig und Friedrich; und zuletzt wurde auch die Gräfin von Hochberg nebst Söhnen und Tochter anstandshalber besucht. Die verwitwete Markgräfin wandte mir sogleich ihre Gunst zu, sprach über viele frühere Verhältnisse in Preußen, die mir zum Teil wohlbekannt waren, und bezeigte sich überhaupt so mitteilend, verbindlich und angenehm, daß ich überaus zufrieden sein konnte. Mir entgingen dabei doch die Winke nicht, welche deutlich merken ließen, daß eine vorzugsweise hieher gerichtete Beeiferung und ein Anschließen an die hier gültigen Interessen meinerseits der Preis sein müsse, durch den ich ein solches Wohlwollen und eine solche Freundlichkeit mir verdienen und dauernd erhalten könnte. Ein Ansinnen, welches bei meiner schon ausgesprochenen Ergebenheit für die Großherzogin schwierig zu erfüllen war.

In den Herbst dieses Jahres fielen einige politische Ereignisse, die ich nicht unerwähnt lassen darf. Eines der wichtigsten und folgenreichsten geschah in Frankreich; die Ultraroyalisten, die Fanatiker, die weißen Jakobiner, wie sie auch genannt wurden, hatten in der Deputiertenkammer, wie sie nach den Hundert Tagen durch Gewalt- und Trugwahlen zustande[187] gekommen war, dergestalt die Oberhand und mißbrauchten diese zu so maßlosem Wüten, daß sie der Regierung selbst gefährlich wurden und der König sie fürchten mußte. Ludwig XVIII. hatte keineswegs den hellen Verstand und den festen Willen, die man ihm bisweilen zugeschrieben; allein er war im höchsten Grade eifersüchtig auf seine angeborene Macht und Würde, und wenn diese bedroht schienen, so konnte allerdings sein träger Sinn zur Entschlossenheit gereizt werden. Sein Bruder und Thronfolger, der Graf von Artois, stand an der Spitze jener Partei, die den König meistern wollte, und dieser fühlte die Notwendigkeit, gegen die Partei seines Bruders einen kräftigen Schlag auszuführen. Durch seinen Minister Decazes geleitet, gab er die berühmte Verordnung vom 5. September, durch welche die Deputiertenkammer aufgelöst, neue Wahlen anbefohlen und zugleich die Versicherung erteilt wurde, daß die beschworene Verfassungsurkunde unverletzt bleiben sollte. Die Ultras waren geschlagen, eine gemäßigtere Kammer ging aus den neuen Wahlen hervor, die Regierung benahm sich etwas freisinniger; im ganzen aber war wenig gewonnen, die Minister schalteten willkürlich wie vorher, die geschlagene Partei behielt Macht und Einfluß, und immerfort wurde sie ängstlich berücksichtigt, ihren Forderungen nachgegeben, besonders wenn es galt, Bonapartisten und Liberale zu verfolgen. Dennoch kann man sagen, daß jene berühmte Verordnung vom 5. September damals Frankreich gerettet, die Katastrophe, zu der die blinde Wut der Reaktion die Bourbons drängte, noch auf viele Jahre hinausgeschoben hat.

Daß der österreichische Kaiser Franz, durch den Tod der edlen und geistvollen Kaiserin Maria Ludovika von Este zum drittenmal Witwer, zur vierten Heirat schreiten würde, war von allen, die ihn kannten, vorausgesagt worden. Er wählte die Tochter erster Ehe des Königs Max Joseph von Bayern, die früher dem Kronprinz von Württemberg vermählt gewesen war; jedoch hatte dieser die Ehe nicht vollzogen und sie in der Folge als ungültig aufgelöst. Diese[188] neue Verbindung war für die süddeutschen Verhältnisse politisch wichtig, insofern sie den Vergrößerungsgelüsten Bayerns einen neuen Rückhalt an Österreich gab und deren vereinte Zwecke Württemberg und Baden mißtrauischer und wachsamer machen mußte.

Wichtiger und unmittelbarer einwirkend war der plötzliche Tod des Königs Friedrich von Württemberg und die Thronbesteigung seines Sohnes, des nunmehrigen Königs Wilhelms I., der als Kronprinz, wie die meisten Kronprinzen, große Hoffnungen erregt hatte. Seine Anhänger priesen seinen Kriegsmut und seine Feldherrngaben, für beides sollte die Schlacht von Montereau zeugen; die Deutschgesinnten rechneten auf ihn, die Freigesinnten nicht weniger. Man hoffte, der württembergische Verfassungsstreit würde durch ihn auf das glücklichste erledigt werden; Stein war mit ihm in Briefwechsel, Wangenheim hatte sein ganzes Vertrauen; aus dem Rate solcher Männer, glaubte man, müsse Vortreffliches hervorgehen. Sehr bedeutend erschien seine Gemahlin, die Königin Katharina, Schwester des russischen Kaisers, auf welchen sie nicht ohne Einfluß war und durch dieses Verhältnis das Ansehen Württembergs weit über das Maß seines eigenen Vermögens erhob. Für Baden konnte dieser Weg, auf Rußland einzuwirken, sowie die ganze Stellung des Königs nur günstig sein, wiewohl noch niemand daran dachte, beides zu benutzen; im Gegenteil suchte man dem Großherzog Mißtrauen einzuflößen und den Verfassungseifer des Königs als für Baden nachteilig zu schildern, wo das Wort Verfassung oder Stände dem Hof und dem bisherigen Regierungswesen ein Greuel war.

Für Deutschland erschien denn auch nach langem Harren endlich der Bundestag; er wurde am 5. November feierlich eröffnet. Der österreichische Präsidialgesandte unterhielt in einer schwerfälligen, ungelenken Rede die Versammlung und demnächst die Nation – denn die Verhandlungen mußten damals vorschriftgemäß im Druck erscheinen – von den guten Absichten und großen Zwecken, welche die Regierungen[189] durch den Bund erreichen wollten, und belehrte sie ausdrücklich, daß der Bund kein Bundesstaat, sondern ein Staatenbund sein solle, ein Unterschied, auf den man eben erst aufmerksam geworden war. Wilhelm von Humboldt, der preußischerseits bei dieser Eröffnung auftrat, sagte nichts Erhebliches, und auch die andern Gesandten gaben nur längere oder kürzere Zustimmung. Alles ging kühl, träge, pedantisch her. Dem entsprach die öffentliche Teilnahme; durch das lange Zögern und durch alles, was von den vorbereitenden Anstalten und Beratungen bekannt geworden, hatte sich die Täuschung, als werde hier den Deutschen ein neues Heil aufgehen, längst verloren; man sah Preußen mit Österreich einverstanden oder diesem nachgiebig, und von Österreich wußte man, daß es nur den alten Einfluß in Deutschland anstrebte, um jede neue Entwickelung zu hemmen. Mit gleichgültiger oder höhnischer Neugier vernahm man die mannigfachen, oft lächerlichen Vorgänge, in denen der Bundestag sich bemerklich machte. Für Österreich und Preußen war er eine auswärtige, das Volk so gut wie gar nicht berührende Angelegenheit; Bayern und die übrigen ehemals rheinbündnischen Staaten fürchteten eine Beschränkung ihrer teuer erworbenen Souveränität; Sachsen und Hannover, ersteres durch Verlust, letzteres durch zu geringen Gewinn mürrisch, zeigten keine Neigung zum raschen Fortschreiten; die Kleinsten der Bundesglieder wußten noch nicht, ob der Bundestag ihre Selbständigkeit aufheben werde oder befestigen, die Mediatisierten sahen schon, daß ihren Ansprüchen der Boden nicht günstig sei, und ebenso war die katholische Partei schon völlig überzeugt, daß die Wünsche und Strebungen ihrer Kirche hier nie durchdringen würden. Daß der Bundestag nicht dazu da sei, die Sache des Volks und der Freiheit, der gemeinsamen Wohlfahrt und Ehre des Vaterlandes zu fördern, diese Überzeugung war allgemein verbreitet und leider nur zu sehr begründet.

Dennoch gab es unter den Bundesgesandten selbst eine kleine Schar vaterlandseifriger und mutiger Männer, deren[190] Gesinnung und Kraft den Bundestag, seiner schlechten Anlage zum Trotz und wider alles Gegenstemmen der Großmächte, zu einer wirksamen Nationalbehörde zu machen strebten, zum gesetzlichen Anhalt für Recht und Freiheit, zur lebendigen Mitte des deutschen politischen Lebens. Gagern von Luxemburg und Nassau, Plessen von Mecklenburg-Schwerin, Berg von Oldenburg, Smidt von Bremen standen in diesem Streben rühmlich voran und suchten sowohl die Arbeiten der Bundesversammlung selber zu beleben und zu fördern als auch für dieselben nach außen den Anteil und die Gunst der Nation zu gewinnen. Was in der ersten Zeit am Bundestage noch einigermaßen von Trieb und Tätigkeit zu finden war, die Beratung über die Weiterentwickelung des Bundes durch organische Gesetze, die Ernennung besonderer Ausschüsse für bestimmte Geschäfte, das Annehmen und Erwägen aller Arten von Beschwerden, dies und vieles andere ist hauptsächlich dem wackern Eifer dieser tätigen und klugen Minderheit zu verdanken, vor deren Überlegenheit an Einsicht und Kenntnis das große Ansehen des höchst beschränkten Präsidialgesandten sich beugen mußte. Zum Teil mit ihnen verbunden, zum Teil unabhängig von ihnen, wirkten noch viele deutsche Männer zu demselben Zwecke. Ich selbst ließ es mir angelegen sein, die Hoffnungen auf den Bundestag nicht sinken zu lassen, ihn als die ausgesprochene Einheit der Nation zu bezeichnen, als das vorläufig um alle Stämme geschlungene Band, das, wie schwach und lose jetzt es noch sein möge, durch unablässigen Eifer und gemeinsame Arbeit ein starkes und festes werden könne. Solange jene Minderheit, aus der später durch Wangenheims Zutritt eine kraftvolle Opposition entstand, in ihrer Richtung tätig blieb, durften wir die Hoffnung, daß der Bundestag den gerechten Forderungen der Nation entsprechen könne, wirklich nicht aufgeben.


Der Sturz von Hacke schien unerläßlich, wenn aus der Halbheit heraus ein wirksames Ganzes entstehen sollte. Ich[191] unterließ nichts, um darauf hinzuarbeiten; ich führte eine gute Sache, die des Landes und Fürsten, wo ich angestellt war, die dem preußischen Vorteil entsprechende, nebenher meine persönliche. Hacke selbst vermehrte unablässig die Waffen, die gegen ihn zu gebrauchen waren. Sein loses Reden, sein unsinniges Betragen machten ihm stets neue Feinde. In der großherzoglichen Familie hatte er nirgends einen Anhalt.

Aber bei allem Eifer, den ich dieser Sache widmete, ließ ich doch nicht meinen Blick ausschließlich auf sie geheftet; er umfaßte das ganze politische Gebiet: was zu Hause in Berlin vorging, was in Deutschland, dieser Musterkarte mannigfacher Staatengebilde, zusammen- und auseinanderstrebender Bestandteile, sich hervorarbeitete; die Gärungen in Frankreich und England, alles reizte und beschäftigte mich und in allem zumeist die Entwickelungen der Völker zur Freiheit, zu freien Verfassungen; was dahin strebte zu fördern, zu steigern, war mir heiligstes Anliegen. Der gute Schein, den in dieser Beziehung Preußen von dem Wiener Kongreß her trug und in späteren Verkündigungen nicht gerade abwerfen wollte, konnte mich in dieser Richtung äußerlich genugsam schützen, und ich war versichert, daß, solange der Staatskanzler das Steuer führte, mich dieserhalb kein amtlicher Vorwurf treffen würde, falls nicht ein besonderes Ärgernis dazu aufforderte: ein solches aber war so leicht nicht zu befürchten, da ich nirgends öffentlich aufzutreten hatte und meine Stimme nur in den namenlosen Erörterungen der Tagesschriften und Zeitungen erhob; das mündliche Wort kam weniger in Betracht, wurde vergessen oder verziehen oder gar als ein kluges Erkunden gedeutet, bei dem die eigene wahre Meinung nicht beteiligt sei. In jener Zeitungstätigkeit war ich seit Jahren heimisch, hatte gute, sichere Verbindungen und konnte, begünstigt von den Umständen, manchen kühnen Wurf wagen. Die Funken sprühten weit umher, zündeten vielfach, und die sichtbare Wirkung wurde zum Anreiz, das Feuer unablässig fortzusetzen,[192] zu verstärken. Unzählige kürzere und längere Aufsätze von mir liegen in den Jahrgängen der damals gelesensten Zeitungen zerstreut; was sich davon bei mir durch Zufall erhalten hat, ist von der Art, daß ich es noch heute in meinem Alter billigen kann, weder des Inhalts noch des Ausdrucks hab ich mich zu schämen; und wie sehr ich aus dem tiefsten Sinn und Leben der Nation heraus gesprochen, dafür gilt als bestes Zeugnis, daß dreißig Jahre später, als die Nation erwachte und wirklich frei zu werden begann, meine früheren Worte großenteils ein Ausdruck dessen waren, was die neueste Zeit im allgemeinen forderte. Meine Artikel sprachen unaufhörlich für das Bürgertum, gegen die Vorrechte des Adels, gegen die Willkür der Behörden, für die Erfüllung des dreizehnten Artikels der Bundesakte, für die Einheit der ständischen Vertretung; wo sich Gleichgesinnte zeigten, trat ich ihnen bei; Rotteck schrieb über stehende Heere, bald nachher Liebenstein ebenfalls, Oelsner schrieb über das preußische Kabinett, ich zeigte ihre Schriften lobend an, nicht einmal oder zweimal, nein, an den verschiedensten Orten und immer wieder. Ich war für das »Schweizerische Museum« von Troxler, für Ludens »Nemesis«, besonders auch für die »Jenaische Literaturzeitung« tätig, und hier war, wenn die Zeitungen mehr den Plänkeleien dienten, bisweilen der Ort für schweres Geschütz.

Ich kann mir nicht versagen, ein paar kürzere Artikel, in der Mitte des Sommers 1816 veröffentlicht, als Merkwürdigkeit hieherzusetzen. Der »Deutsche Beobachter« gab ein Schreiben aus Frankfurt am Main vom 5. Juli, das also lautete:

Nach manchem Hin- und Herwenden der Sache scheinen die Anzeigen nun doch größtenteils darauf hinauszulaufen, daß der Deutsche Bundestag gegen die Mitte des Augustmonats eröffnet werden soll; Mißtrauische, die sich bei dieser Gelegenheit noch in großer Zahl zeigen, wollen auf noch längeren Aufschub gefaßt sein, so daß vielleicht die Eröffnung auf denselben Tag, wie sie anfangs festgesetzt war,[193] nur gerade ein volles Jahr später erfolgte; immerhin, wäre nur dieser Zeitpunkt wirklich unaufschiebbar angenommen, die Beschämung für diejenigen, die ganz und gar an dem Zustandekommen des Bundestages zweifeln wollten, würde noch immer groß genug sein.

Der Nachteil, der für die Deutschen aus einem so langen Liegenlassen ihrer allgemeinen Angelegenheiten entsteht, ist wahrlich nicht gering anzuschlagen. Das Volk im ganzen fühlt es schmerzlich und sieht sich von dem Auslande bemitleidet, daß selbst die zerrütteten Franzosen, ja die Polen sogar, zur Betreibung ihrer Nationalsachen schneller und rüstiger gelangen, als es den an Geist, Willen, Bildung und Mut so hochstehenden Deutschen gegönnt ist. Der Nachteil ist groß und darf mit Grund und Wahrheit eine Kalamität genannt werden. Zwar stehen unsere Berge und Häuser darum nicht minder, die Flüsse hören nicht auf zu strömen, der Acker trägt nicht weniger, das Brot wird nicht kleiner, und es schießt sich darum keiner eine Kugel vor den Kopf; auch gehen die Abgaben richtig ein, und die Gehalte werden ausgezahlt, die Gesandten gehen an die Höfe, die Soldaten ziehen auf die Wache und die Schauspieler auf die Bühne, zum Nutzen und Vergnügen scheint kein nötiges Stück zu fehlen: aber im geistigen Staatsleben, im tieferen Volkstum leiden wohl die edelsten Teile, stocken die besten Säfte, ermattet das mutige Herz und verdorrt die frischeste Kraft! Ein Volk wie das unsere, das noch so viel zu leisten und die höchsten Stufen seiner wahrscheinlichen Weltbestimmung noch in weiter Ferne zu ersteigen hat, darf nicht ohne traurige Folgen den Wirkungen zufälligen Auseinandergehens und vereinzelten Hinschwebens, aus dem es sich kaum erst zu kräftigem Gange mit Selbstbewußtsein endlich herausgearbeitet hat, aufs neue wieder zerstreut und lose überlassen werden!

Darum wollen wir keineswegs die Hoffnung, aber auch nicht die Forderung aufgeben, daß der Bundestag sobald als möglich den deutschen vaterländischen Angelegenheiten[194] Form und Gemeinschaft gebe und mit Weisheit und Kraft über dem Ganzen des Bundes walte.

Und gleich darauf ein anderes vom 8. Juli:

In unserm lieben Deutschland sieht es wahrlich bunt aus; wohin man schaut, da erblickt man verwirrte Verhältnisse, streitige Rechte, Uneinigkeit und Auseinandergehen! Niemals war unser gemeinsames Vaterland mehr aufgelöst; wo soll man es fassen, um sich daran zu halten, wo und wie ihm seine Liebe und Hingebung beweisen? Überall sind nur einzelne, zerstückelte, einander mit Bitterkeit bestreitende Elemente, alter verjährter Rust, alberner Dünkel, trostlose Dumpfheit: welcher Deutscher kann und mag darin sein Vaterland finden? Es ist Zeit, daß der Deutsche Bundestag eröffnet werde; sowenig man auch von ihm erwarten will, so ist er doch das einzige gerettete Überbleibsel der großen Hoffnungen, die die deutschen Völker nach der Leipziger Schlacht für ihre gemeinsame starke Verbindung, für ein freies und trotziges Selbstbestehen fassen konnten. Es müsse sich zeigen, ob wir auch diesmal wieder zu Zwietracht und Zersplitterung rettungslos zurücksinken als eine elende, nichtsnutzige Nation, der ihre Kräfte alle vergeblich verliehen sind, oder ob wir noch zu einem großen, rechten Gemeinwesen durch Mut und Arbeit empordringen sollen! Wenn ein neuer Krieg kömmt, wie findet er uns? wie stehen wir da? als ein Volk, das die ihm von Gott geschenkte Gelegenheit zu einem tüchtigen Werke benutzt hat? Möge die Zeit solcher Prüfung uns nicht zu schnell übereilen!

In beiden Artikeln ist ein Zustand ausgedrückt, der heute, im Juli 1850, noch und wieder so sehr derselbe ist, daß die alten Worte der Klage und Anklage höchstens darin eine Änderung erleiden mögen, daß der Bundestag damals eine schwache Hoffnung war, jetzt aber ein Verrat und Hohn ist.

Quelle:
Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens. Berlin 1971, S. 164-195.
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