Îsha-Upanishad

[167] Die kleine bedeutsame Upanishad enthält eine Reihe wertvoller und neuer Gedanken. Sie betont die Wertlosigkeit der Werke und die Wichtigkeit der Erkenntnis des Selbst, der Einheit des Selbst mit allen Wesen. Die Entstehung der Welt vollzieht sich durch das Heraustreten eines Îshvara aus dem Reich des Leuchtenden, Ewigen. Wissen allein und Nichtwissen allein verhelfen nicht zur Erkenntnis; der Glaube an ein ewiges Vergehen ist ein Irrglaube, wie der an ein ewiges Werden, und führt ins Verderben.


Was immer in der Welt sich regt, das übergib dem Herren1. Freue dich dieser Entsagung2 und begehre nicht jemandes Besitz.

Mancher vollzieht in dieser Welt Werke und mag wünschen, hundert Jahre zu leben. So steht es bei dir, nicht anders. Aber das Werk hängt nicht an dem Manne3.

Ungöttlich, in tiefe Finsternis gehüllt sind diese Welten. In sie gehen die, die ihr Selbst vernichten, nach dem Tode ein.

Das Eine ist regungslos und doch schneller als der Geist. Die Götter selbst holten es, wenn es vorauseilte, nicht ein. Obwohl es steht, überholt es alle Laufenden. Gott Mâtarishvan legt darein das Werk.

Es regt sich und regt sich nicht; es ist fern und ist nah. Es ist innerhalb wie außerhalb aller Dinge.

Wer im Selbst alle Wesen wahrnimmt und sein Selbst in allen Wesen, hegt keinen Zweifel mehr4.

Wer erkennt, in wem das Selbst zu allen Wesen sich entfaltete, was bedeutet für den, der die Einheit erkennt, noch Verwirrung und Kummer?5

Er verließ6 das Lichte, Körperlose, Unverwundbare, Sehnenlose, Reine, vom Übel nicht Erfüllte und hat als ein weiser Seher7 umfassend, durch sich bestehend je nach ihrer Art für ewige Zeiten die Dinge geschaffen.[168]

Die gehen in tiefe Finsternis ein, die dem Nichtwissen anhängen; in noch tiefere, scheint es, die, welche am Wissen sich freuen.

Sie sagen, es ist anders als das Wissen, anders als das Nichtwissen. So hörten wir von den Weisen, die uns das erklärten.

Wer beides, Wissen und Nichtwissen, zugleich erkennt, überwindet durch Nichtwissen den Tod und gelangt durch Wissen zur Unsterblichkeit.

Die gehen in tiefe Finsternis ein, die dem Vergehen anhängen; in noch tiefere, scheint es, die, welche an dem Werden sich erfreuen8.

Sie sagen, es ist anders als das Werden; sie sagen, es ist anders als das Vergehen. So hörten wir von den Weisen, die uns das erklärten.

Wer beides, Werden und Vergehen, zugleich kennt, überwindet durch Vergehen den Tod und gelangt durch Werden zur Unsterblichkeit.


Mit goldener Scheibe ist das Antlitz der Wahrheit bedeckt. Enthülle, Pûshan, uns das, daß wir Recht und Wahrheit schauen.

Pûshan, alleiniger Rishi, Yama, Sûrya, Sohn des Prajâpati, zerteile deine Strahlen. Vereine dein Licht. Ja, ich sehe deine allerschönste Gestalt. Dort jener Mann (in der Sonne) bin ich. Der Hauch werde zum Winde, dem Unsterblichen; in Asche ende dieser Leib9.


[Folgt eine Reihe von Gebeten]

1

Nicht sicher; während das âvâsyam meist zu vas gestellt wird, ziehe ich es zu ava-as: ›auf den Herrn zu werfen‹, ›hinzugeben‹. Dadurch wird tyaktena verständlich: gib alles in der Welt auf und freue dich des Aufgebens.

2

bhuj in der älteren Literatur mit dem Instr. des Objektes.

3

Weder das Gute, das er vollbrachte, noch das Schlechte, das er unterließ, berühren ihn; Brihad-Âr.-Up. IV, 4, 27 (S. 87. 135).

4

Ich lese mit Vâj. Samh. 40 na vicikitsate.

5

Das Selbst entfaltet sich mittels des Îshvara, der aus dem Selbst hervortritt. v. 8. 9.

6

Für pary agât lese ich pary ahât, ZDMG. 69, 104.

7

Bhagavadgîtâ 8, 9: ›Wer an den uralten Seher, den Leiter, der feiner ist als das Feine, den Erhalter des Alls – denkt.‹

8

Die Irrlehre derer, die an ein bloßes Vergehen, und derer, die an ein bloßes Werden glauben. Brih.-Âr.-Up. IV, 4, 13 (oben S. 85).

9

Der Schluß ist das Gebet eines Yogin in der Sterbestunde. (Vâj. Samh. 40, 15 Komm.) Er ruft Pûshan an, der die Seele geleitet und hier seine alte Sonnennatur zeigt. Man denkt hierbei an die soeben zitierte Stelle Bhagavadgîtâ 8, 9, 10: ›Wer an den uralten Seher, den Leiter, der feiner ist als das Feine, den Erhalter des Alls, dessen Gestalt nicht vorzustellen ist, den Sonnenfarbigen jenseits des Dunkels gedenkt in der Zeit des Dahinscheidens ...‹

Quelle:
Upanishaden. Altindische Weisheit aus Brâhmanas und Upanishaden. Düsseldorf/Köln 1958, S. 167-169.
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