Der Zustand der Vereinigung mit dem Âtman

[88] Yâjnavalkya hatte zwei Frauen, Maitreyî und Kâtyâyanî. Von diesen beiden wußte Maitreyî über das Brahman zu reden; Kâtyâyanî hatte rein weiblichen Verstand. Yâjnavalkya war im Begriff, in einen anderen Abschnitt seines Lebens (Âshrama) einzutreten, und sprach: ›Maitreyî, ich bin im Begriff, von diesem Ort in die Heimatlosigkeit zu ziehen, meine Liebe, und will von dir und der Kâtyâyanî Abschied nehmen.‹

Da sprach Maitreyî: ›Wenn mir nun, o Ehrwürdiger, die ganze Erde voller Schätze wäre, würde ich dadurch unsterblich sein oder nicht?‹

»Nein«, sagte Yâjnavalkya. »Wie das Leben reicher Leute, so würde dein Leben sein; aber Hoffnung auf Unsterblichkeit geben Schätze nicht.«

Da sagte Maitreyî: ›Was soll ich mit etwas anfangen, wodurch ich nicht unsterblich werde. Sage mir, Erhabener, was du weißt.‹[88]

»Du bist mir lieb und hast mir Liebes erwiesen. Wohlan, höre, ich will es dir sagen, ich will es dir erklären. Du aber denke über das Wort nach, was ich dir sage.«

›Rede, Ehrwürdiger.‹

Da sprach Yâjnavalkya: »Nicht ist um des Gatten willen der Gatte lieb, sondern um des Selbst willen ist der Gatte lieb; nicht ist um der Gattin willen die Gattin lieb, sondern um des Selbst willen ist die Gattin lieb; nicht sind um der Söhne willen die Söhne lieb, sondern um des Selbst willen sind die Söhne lieb; nicht ist um des Reichtums willen der Reichtum lieb, sondern um des Selbst willen ist der Reichtum lieb; nicht ist um des Brahmanenstandes willen der Brahmanenstand lieb, sondern um des Selbst willen ist der Brahmanenstand lieb; nicht ist um des Kshatriyastandes willen der Kshatriyastand lieb, sondern um des Selbst willen ist der Kshatriyastand lieb; nicht sind um der Welten willen die Welten lieb, sondern um des Âtman willen sind die Welten lieb; nicht um der Götter willen sind die Götter lieb, sondern um des Âtman willen sind die Götter lieb; nicht um der Veden willen sind die Veden lieb, sondern um des Âtman willen sind die Veden lieb; nicht um der Opfer willen sind die Opfer lieb, sondern um des Âtman willen sind die Opfer lieb; nicht um der Wesen willen sind die Wesen lieb, sondern um des Âtman willen sind die Wesen lieb; nicht um des Alls willen ist das All lieb, sondern um des Âtman willen ist das All lieb; den Âtman, fürwahr, muß man sehen, hören, bedenken, zu erkennen suchen, Maitreyî. Hat man den Âtman gesehen, gehört, bedacht, erkannt, so ist alles erkannt.

Der Brahmanenstand gab den preis, der den Brahmanenstand wo anders als im Âtman sieht; der Kriegerstand gab den preis, der den Kriegerstand wo anders als im Âtman sieht; die Welten gaben den preis, der die Welten wo anders als im Âtman sieht; die Götter gaben den preis, der die Götter wo anders als im Âtman sieht; die Veden gaben den[89] preis, der die Veden wo anders als im Âtman sieht; die Opfer gaben den preis, der die Opfer wo anders als im Âtman sieht; die Wesen gaben den preis, der die Wesen wo anders als im Âtman sieht; das All gab den preis, der das All wo anders als im Âtman sieht. Dies Brahman, dies Kshatra, diese Welten, diese Götter, diese Veden, diese Opfer, diese Wesen, dies All – das ist der Âtman.

Es ist so, wie man von einer angeschlagenen Trommel die nach außen dringenden Töne nicht packen kann, man aber durch das Packen der Trommel oder des Trommelschlägers den Ton packt;

wie man von einer angeschlagenen Laute die nach außen dringenden Töne nicht packen kann, man aber durch das Packen der Laute oder des Lautenschlägers den Ton packt;

wie man von einer angeblasenen Muschel die nach außen dringenden Töne nicht packen kann, man aber durch das Packen der Muschel oder des Muschelbläsers den Ton packt;

wie von einem aus feuchtem Holz angelegten Feuer verschiedene Rauchwolken ausgehen, so ist es mit dem Aushauch dieses großen Wesens. Rigveda, Yajurveda, Sâmaveda, Atharvângiras, Itihâsa, Purâna, die Wissenschaften, die Upanishaden, Shloken, Sûtras, Anuvyâkhyas, Vyâkhyas, was geschenkt, zum Essen und Trinken gereicht ist, diese und jene Welt und alle Wesen – das alles ist sein Aushauch.

Wie das Meer der Mittelpunkt aller Gewässer, so ist die Haut der Mittelpunkt aller Gefühle, so ist die Nase der Mittelpunkt aller Gerüche, die Zunge der Mittelpunkt allen Geschmackes, das Auge der Mittelpunkt aller Erscheinungen, das Ohr der Mittelpunkt aller Geräusche, das Manas der Mittelpunkt aller Gedanken, das Herz der Mittelpunkt aller Veden, die Hände der Mittelpunkt alles Handelns, die Füße der Mittelpunkt allen Gehens, der Schoß der Mittelpunkt aller Freuden, der After der Mittelpunkt aller Entleerungen,[90] die Stimme der Mittelpunkt aller Wissenschaften.

So wie ein Klumpen Steinsalz weder Kern noch Schale hat, sondern ganz Geschmack ist, so ist fürwahr dieses große, unendliche, unbegrenzte Wesen ganz Erkenntnis. Es geht aus den Elementen hervor, es geht in die Elemente unter. Nach dem Tode gibt es kein Bewußtsein. So sage ich.« Also sprach Yâjnavalkya.

Da sprach Maitreyî: ›Du hast, Ehrwürdiger, damit mich in tiefe Verwirrung versetzt; ich verstehe nicht: nach dem Tode gibt es kein Bewußtsein.‹

Da sprach Yâjnavalkya: »Ich rede nicht verwirrend; der Âtman, der fürwahr unvergänglich ist, unterliegt nicht dem Gesetz der Vernichtung, [aber ihm ist eine Vermischung mit der Materie eigen].

Wenn einer dann nicht sieht, so nimmt er, obschon sehend, Sichtbares nicht wahr. Der Sehende kommt zwar nicht um sein Gesicht, weil das nicht schwindet; aber es gibt kein Zweites, Anderes, Verschiedenes, was er sehen könnte1.

Wenn einer dann nicht riecht, so nimmt er, obschon riechend, Riechbares nicht wahr. Der Riechende kommt zwar nicht um seinen Geruch, weil dieser nicht schwindet, aber es gibt kein Zweites, Anderes, Verschiedenes, was er riechen könnte.

Wenn einer dann nicht schmeckt, so nimmt er, obschon schmeckend, den Geschmack nicht wahr. Der Schmeckende kommt zwar nicht um seinen Geschmack, weil dieser nicht schwindet; aber es gibt kein Zweites, Anderes, Verschiedenes, was er schmecken könnte.

Wenn einer dann nicht redet, so redet er, obschon redend, das zu Redende nicht. Zwar kommt der Redende nicht um seine Rede, weil diese nicht schwindet; aber es gibt kein Zweites, Anderes, Verschiedenes, was er reden könnte.

Wenn einer dann nicht hört, so nimmt er, obschon hörend, das Hörbare nicht wahr. Der Hörende kommt zwar nicht[91] um sein Gehör, weil dieses nicht schwindet; aber es gibt kein Zweites, Anderes, Verschiedenes, was er hören könnte.

Wenn einer dann nicht denkt, so denkt er, obschon denkend, das zu Denkende nicht. Zwar kommt der Denkende nicht um sein Denken, weil dieses nicht schwindet; aber es gibt kein Zweites, Anderes, Verschiedenes, was er denken könnte.

Wenn einer dann nicht fühlt, so fühlt er, obschon fühlend, das zu Fühlende nicht. Zwar kommt der Fühlende nicht um sein Gefühl, weil dieses nicht schwindet; aber es gibt kein Zweites, Anderes, Verschiedenes, was er fühlen könnte.

Wenn einer dann nicht erkennt, so erkennt er, obschon erkennend, das Erkennbare nicht. Zwar kommt der Erkenner nicht um sein Erkennen, weil dieses nicht schwindet; aber es gibt kein Zweites, Anderes, Verschiedenes, was er erkennen könnte.

Wenn noch etwas anderes bestünde, so würde eins das andere sehen, eins das andere riechen, eins das andere schmecken, eins das andere begrüßen, eins das andere hören, eins das andere denken, eins das andere fühlen, eins das andere erkennen.

Wenn aber alles zum Âtman geworden ist, womit und wen sollte er da sehen, womit und wen sollte er da riechen, womit und wen sollte er da begrüßen, womit und wen sollte er da hören, womit und an wen sollte er da denken, womit und wen sollte er da fühlen, womit und wen sollte er da erkennen? Womit sollte er den erkennen, durch den er dieses alles erkennt? Womit, fürwahr, sollte er den Erkenner erkennen? So ist dir Unterweisung zuteil geworden, Maitreyî. Dergestalt ist die Unsterblichkeit.«

So sprach Yâjnavalkya und zog hinaus in die Heimatlosigkeit.


(IV, 5)

1

Die Upanishad wiederholt hier die beim Tiefschlaf schon gegebene Schilderung; ich habe sie, dem Text folgend, wieder aufgenommen und auf eine Rückverweisung verzichtet, weil durch solche Verweise der Zusammenhang leidet.

Quelle:
Upanishaden. Altindische Weisheit aus Brâhmanas und Upanishaden. Düsseldorf/Köln 1958, S. 88-92.
Lizenz:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Prinzessin Brambilla

Prinzessin Brambilla

Inspiriert von den Kupferstichen von Jacques Callot schreibt E. T. A. Hoffmann die Geschichte des wenig talentierten Schauspielers Giglio der die seltsame Prinzessin Brambilla zu lieben glaubt.

110 Seiten, 4.40 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon