Die einzelnen Linien[95] 1

Anfangs eine Neun bedeutet:

Steckt mit den Füßen im Block, daß die Zehen verschwinden.

Kein Makel.


[95] Wenn jemand sofort beim ersten Versuch, etwas Böses zu tun, der Strafe verfällt, so ist die Strafe nur leicht. Es werden nur die Zehen vom Block bedeckt. Er wird dadurch am Weitersündigen verhindert und wird so frei von Makel. Es ist das eine Mahnung, auf der Bahn des Bösen rechtzeitig einzuhalten.


Sechs auf zweitem Platz bedeutet:

Beißt durch weiches Fleisch, daß die Nase verschwindet.

Kein Makel.


Recht und Unrecht lassen sich im vorliegenden Fall leicht unterscheiden. Es ist, wie wenn man durch weiches Fleisch beißt. Aber man trifft auf einen harten Sünder. Darum geht man aus Zorn in der Erregung etwas zu weit. Das Verschwinden der Nase beim Zubeißen bedeutet, daß man den feinen Spürsinn infolge der Empörung verliert. Doch schadet das nicht viel, weil die Strafe als solche gerecht ist.


Sechs auf drittem Platz bedeutet:

Beißt auf altes Dörrfleisch und trifft auf Giftiges.

Kleine Beschämung. Kein Makel.


Es soll jemand eine Strafe vollziehen, zu der er nicht genügend Macht und Ansehen besitzt. Darum fügen sich die Bestraften nicht. Es handelt sich um eine alte Sache – symbolisiert durch gesalzenes Wildpret – und dabei stößt man auf Schwierigkeiten. Das alte Fleisch ist verdorben. Man zieht sich durch Beschäftigung mit der Sache giftigen Haß zu. Dadurch kommt man etwas in eine beschämende Lage. Aber da es ein Erfordernis der Zeit war, zu strafen, so bleibt man doch frei von Makel.


Neun auf viertem Platz bedeutet:

Beißt auf getrocknetes Knorpelfleisch.

Erhält Metallpfeile.

Fördernd ist es,

der Schwierigkeiten eingedenk und beharrlich zu sein.

Heil!


Es sind sehr große Schwierigkeiten zu überwinden. Mächtige Gegner sollen bestraft werden. Das ist sehr mühsam. Doch es gelingt. Aber man muß die Härte von Metall und die Geradheit eines Pfeils besitzen, um die Schwierigkeiten zu überwinden. Wenn man diese Schwierigkeiten kennt und beharrlich bleibt, so erlangt man Heil. Die schwierige Aufgabe gelingt zuletzt.
[96]

Û Sechs auf fünftem Platz bedeutet:

Beißt auf getrocknetes Muskelfleisch.

Erhält gelbes Gold.

Beharrlich der Gefahr bewußt sein. Kein Makel.


Man hat einen Fall zu entscheiden, der zwar nicht leicht, aber doch klar ist. Aber die eigene Natur ist zur Gutmütigkeit geneigt. Darum muß man sich zusammennehmen, daß man ist wie gelbes Gold, d.h. unparteiisch – Gelb ist die Farbe der Mitte – und treu wie Gold. Nur wenn man sich dauernd der Gefahren bewußt ist, die aus der Verantwortung entspringen, die man übernommen hat, bleibt man frei von Fehlern.


Oben eine Neun bedeutet:

Steckt mit dem Hals im hölzernen Kragen,

daß die Ohren verschwinden.

Unheil!


Es handelt sich hier im Unterschied zu der Anfangslinie um einen Menschen, der unverbesserlich ist. Er trägt zur Strafe den hölzernen Halskragen. Aber seine Ohren verschwinden darin. Er hört nicht mehr auf Warnungen, sondern ist taub für sie. Diese Verstockung führt ins Unheil2.

Fußnoten

1 Die einzelnen Linien werden unabhängig vom Gesamtsinn des Zeichens so erklärt, daß der Erste und der Oberste Strafe erleiden, während die übrigen mit Verhängung von Strafen beschäftigt sind (vgl. dazu die entsprechenden Striche des Zeichens Nr. 4, Mong, die Jugendtorheit).


2 Es ist zu bemerken, daß noch eine andere Deutung besteht, die von der Idee »oben das Licht, d.h. die Sonne, unten die Bewegung« ausgehend das Zeichen auf einen Markt deutet, der unten in Bewegung ist, während die Sonne oben am Himmel steht. Und zwar handelt es sich um einen Eßwarenmarkt. Das Fleisch deutet auf Eßwaren. Gold und Pfeile sind Handelsartikel. Das Verschwinden der Nase bedeutet das Verschwinden des Geruchs, d.h. der Betreffende ist nicht habgierig. Das Gift deutet auf die Gefahren des Reichtums usw.


Zu: »Anfangs eine Neun« bemerkt Kungtse:


Der Gemeine schämt sich nicht der Lieblosigkeit und scheut sich nicht vor Ungerechtigkeit. Wenn er keinen Vorteil winken sieht, so rührt er sich nicht. Wenn er nicht eingeschüchtert wird, so bessert er sich nicht. Doch wenn er im Kleinen zurechtgebracht wird, so nimmt er sich im Großen in acht. Das ist für den geringen Menschen ein Glück.


Zu: »Oben eine Neun« bemerkt Kungtse:


Wenn das Gute sich nicht ansammelt, reicht es nicht aus, einen berühmt zu machen. Wenn das Böse sich nicht ansammelt, ist es nicht stark genug, einen zu vernichten. Der Gemeine denkt deshalb, Gutes im Kleinen habe keinen Wert; darum unterläßt er es. Er denkt: Kleine Sünden schaden nichts. Darum gewöhnt er sie sich nicht ab. So sammeln sich seine Sünden an, bis sie sich nicht mehr bedecken lassen, und seine Schuld wird so groß, daß sie sich nicht mehr lösen läßt.


Die einzelnen Linien
Quelle:
I Ging. Köln 141987, S. 95-97.
Lizenz:

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