Kapitel XII

Zusammenfassung

§ 1

[297] Im Buch der Wandlungen heißt es: »Vom Himmel her wird er gesegnet. Heil! Nichts, das nicht fördernd ist.« Der Meister sprach: Segnen bedeutet helfen. Der Himmel hilft dem Hingebenden. Die Menschen helfen dem Wahrhaftigen. Wer in Wahrhaftigkeit wandelt und hingebend ist in seinem Denken und dann noch die Würdigen hochhält, der wird vom Himmel her gesegnet, hat Heil, und nichts ist, das nicht fördernd wäre.


Hier ist aus dem Torso des Kommentars zu den einzelnen Linien, von dem sich in Kap. VIII, §§ 5-11 Reste zeigten, eine nähere Ausführung zum Schluß von Kap. II, § 6, die hier jedoch außer Zusammenhang ist.
[297]


§ 2

Der Meister sprach: »Die Schrift kann die Worte nicht restlos ausdrücken. Die Worte können die Gedanken nicht restlos ausdrücken.«

Dann kann man also die Gedanken der Heiligen und Weisen nicht sehen?

Der Meister sprach: »Die Heiligen und Weisen stellten die Bilder auf, um ihre Gedanken restlos auszudrücken, sie stellten Zeichen dar, um Wahr und Falsch restlos auszudrücken. Sie fügten dann noch Urteile bei und konnten so ihre Worte restlos ausdrücken.«

(Sie schufen Veränderung und Zusammenhang, um den Nutzen restlos darzustellen; sie trieben an, sie setzten in Bewegung, um den Geist restlos darzustellen.)


Der Abschnitt gibt in Gesprächsform nach Art der Lun Yü ein Urteil über die Ausdrucksweise des Buchs der Wandlungen. Der Meister hatte gesagt, die Schrift drücke nie die Worte restlos aus, die Worte drückten nie die Gedanken restlos aus. Ein Schüler fragt, ob man denn die Gedanken der Weisen nicht zu Gesicht bekommen könne, und der Meister zeigt an der Hand des Buchs der Wandlungen, wie das möglich sei: Sie stellten Bilder und Zeichen auf, um die Verhältnisse zu zeigen, und fügten dann noch die Worte bei, so daß diese Worte im Verein mit den Bildern tatsächlich als restloser Ausdruck der Gedanken gelten. Die letzten beiden Sätze sind aus irgendeinem andern Zusammenhang hergesetzt, wohl des gleichen grammatischen Baus wegen. (Vgl. § 4, 2. Hälfte und § 7)


§ 3

Das Schöpferische und das Empfangende ist das eigentliche Geheimnis der Wandlungen. Indem das Schöpferische und das Empfangende vollendet sich darstellen, sind die Wandlungen zwischen ihnen mitgesetzt. Würde das Schöpferische und das Empfangende vernichtet, so gäbe es nichts, woran man die Wandlungen sehen könnte. Wenn keine Wandlungen mehr zu sehen wären, so würden die Wirkungen des Schöpferischen und des Empfangenden auch allmählich aufhören.


[298] Die Wandlungen sind hier als Naturvorgang gedacht, fast identisch mit »Leben«. Das Leben beruht auf den polaren Gegensätzen der Aktivität und Rezeptivität. Dadurch wird die Spannung erhalten, deren jeweiliger Ausgleich sich als Wandlung, als Lebensvorgang zeigt. Würde dieser Spannungszustand, dieses »Gefälle« aufhören, so würde es kein Kriterium für das Leben mehr geben; es könnte sich nicht mehr äußern. Aber ebenso werden andererseits diese polaren Gegensätze, diese Spannungen durch die Wandlungen des Lebens jederzeit neu erzeugt. Würde das Leben sich nicht mehr äußern, so würden auch die Gegensätze sich durch allmähliche Entropie verwischen, und der Welttod wäre die Folge.


§ 4

Darum: Was oberhalb der Form ist, heißt der SINN, was innerhalb der Form ist, heißt das Ding.


Hier ist gezeigt, wie die Kräfte, die die sichtbare Welt konstituieren, jenseitige sind. Der SINN, Tao, ist hier ganz in der Bedeutung einer Ganzheitsentelechie genommen. Er ist oberhalb der Welt der Räumlichkeit, aber er wirkt – wie wir an anderer Stelle genauer sehen, durch die ihm innewohnenden »Bilder«, Ideen – auf die Sichtbarkeit; und was hier entsteht, sind die Dinge. Ein Ding ist räumlich also durch seine körperliche Begrenzung erfaßt. Aber es kann nicht begriffen werden ohne Kenntnis des ihm zugrunde liegenden SINNS.

Der Paragraph hat auch einen Zusatz wie § 2, der zum großen Teil mit geringer Textabweichung im Schlußparagraphen wieder vorkommt.


(Was die Dinge umgestaltet und zusammenfügt, heißt die Veränderung; was sie antreibt und gehen macht, heißt der Zusammenhang. Was sie aufhebt und darstellt für alle Menschen auf Erden, das heißt das Wirkungsfeld.)


§ 5

Darum, was die Bilder anlangt: Die Heiligen und Weisen vermochten all die wirren Mannigfaltigkeiten unter dem Himmel zu übersehen. Sie beobachteten die Formen und Erscheinungen und bildeten die Dinge und ihre Eigenschaften ab. Das nannte man: die Bilder. Die heiligen Weisen vermochten all die Bewegungen unter dem Himmel zu übersehen. Sie betrachteten, wie sie zusammentrafen und zusammenhingen,[299] um nach ihren ewigen Ordnungen zu laufen. Da fügten sie Urteile bei, um ihr Heil und Unheil zu unterscheiden. Das nannte man: die Urteile.


§ 5 ist eine wörtliche Wiederholung von Kap. VIII, § 1 und 2.


§ 6

Die erschöpfende Darstellung der wirren Mannigfaltigkeiten unter dem Himmel beruht auf den Zeichen. Der Antrieb aller Bewegungen unter dem Himmel beruht auf den Urteilen.


Auch dieser Paragraph steht mit Kap. VIII, § 3 irgendwie in Zusammenhang, während das Folgende eine Parallelstelle der zweiten Hälfte von § 4 enthält.


§ 7

Die Umgestaltung und Zusammenfügung beruht auf den Veränderungen. Der Antrieb und das Gehenmachen beruht auf dem Zusammenhang. Die Geistigkeit und Klarheit beruht auf dem rechten Mann. Schweigendes Vollenden, wortloses Zutrauen beruht auf tugendvollem Wandel.


Hier ist zum Schluß das Ineinandergreifen von Buch und Mensch zur Darstellung gebracht. Nur durch die lebendige Persönlichkeit gewinnen die Worte des Buchs jeweils volles Leben und üben dann ihre Wirkung auf die Welt aus.

Bemerkung: Es scheint sich hier um einen Gedankengang zu handeln, dessen Reste in Kapitel VIII und hier zerstreut sind. Das Problem ist, ob bei der Mangelhaftigkeit unserer Verständigungsmittel überhaupt Kontakt über die Schranke der Zeit hinaus möglich sei, ob eine spätere Zeit eine frühere überhaupt verstehen könne. Die Antwort lautet – am Beispiel des Buchs der Wandlungen durchgeführt – bejahend. Gewiß sind Wort und Schrift unvollkommene Gedankenvermittler; aber vermittels der Bilder – wir würden sagen »Ideen« – und der in ihnen liegenden Bewegungsantriebe wird eine geistige Kraft in Bewegung gesetzt, die über die Zeit hinauswirkt und, wenn sie auf den rechten Menschen trifft, der innere Verwandtschaft zu jenem SINN hat, von ihm ohne weiteres aufgenommen und aufs neue zum Leben erweckt werden kann. Das ist der Gedanke des übernatürlichen Zusammenhangs der Auserwählten aller Zeiten.

Quelle:
I Ging. Köln 141987, S. 297-300.
Lizenz:

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