5. Wirkung der Musik - Yüo Yen

[80] Die Musik ist es, woran die Heiligen sich freuen, und man kann damit die Gesinnung der Menschen bessern. Sie beeinflußt die Menschen tief, sie ändert die Bräuche und wandelt die Gewohnheiten. Darum bewirkten die früheren Könige durch sie ihre Erziehung.

Die Menschen haben eine Seele aus Blutkraft und Sinnesbewußtsein, aber sie haben kein festes Gesetz für Trauer und Freude, Lust und Zorn. Diese entsprechen den Anregungen durch die äußeren Dinge, die sie erregen. Dadurch erst gewinnt des Herzens Fähigkeit Gestalt.

Darum: Wenn die Ziele eines Herrschers klein sind, so macht er Töne von leise ersterbender Art, und des Volkes Gedanken werden dadurch traurig. Wenn er edel, harmonisch und ruhig behaglich ist, so macht er eine Musik mit verschlungener Linienführung und gemischtem Rhythmus, und das Volk wird dadurch stark und froh. Wenn er roh und grausam ist und leicht erregbar, so macht er eine Musik, die im Beginn erregt und am Ende breit und kühn ist, und das Volk wird wild und entschlossen. Wenn er bescheiden und recht, stark und gerade ist, so macht er eine kräftige und ehrliche Musik, und das Volk wird ernst und achtungsvoll. Wenn er großmütig, ruhig und gütig ist, so macht er eine zusammenhängende und harmonische Musik, und das Volk wird liebevoll. Wenn er verkommen und zerstreut ist, so macht er eine verwirrte und unregelmäßige Musik, und das Volk wird zuchtlos und aufrührerisch. Darum gründeten die früheren Könige die Musik auf die Gefühle und die Seele; sie[80] prüften sie nach dem Maß des Rhythmus; sie schufen sie nach dem Sinn der Sitte, um dadurch die Harmonie der Lebenskraft zu bewirken und den Wandel in den fünf dauernden Regeln6 zu leiten. Sie bewirkten, daß die Musik licht war, ohne sich zu zerstreuen, schattig, ohne geheimnisvoll zu sein; in der Kraft ihrer Stärke war sie nicht zornig, und in der Kraft ihrer Weichheit war sie nicht feige. Diese vier Dinge wirkten aufeinander im Innern und äußerten sich im Äußeren darin, daß jeder mit seinem Platz zufrieden war und keiner dem anderen das Seine nahm.

Darauf richteten sie Schulen ein. Sie verbreiteten den Rhythmus der Musik und beschränkten ihren Schmuck, um der Lebenskraft Fülle zu regulieren. Sie ordneten die kleinen und großen Intervalle nach den zugehörigen Zeichen und verglichen die Reihenfolge von Ende und Anfang, um die Handlungen dadurch abzubilden. So bewirkten sie, daß die Verhältnisse von naher und ferner Verwandtschaft, von vornehm und gering, von Alter und Jugend, von Mann und Frau alle in der Musik ihre sichtbare Gestalt gewannen. Darum heißt es: Bei der Musik muß man auf ihre Tiefe sehen.

Wenn die Erde dürr ist, so wachsen Kräuter und Bäume nicht. Wenn das Wasser aufgeregt ist, so werden Fische und Schildkröten nicht groß. Wenn die Kraft im Verfall ist, so werden die lebendigen Dinge nicht voll erzeugt. Wenn ein Geschlecht in Verwirrung ist, so wird die Sitte vergessen, und die Musik wird unmäßig.

Darum wird der Laut traurig und nicht stark, lustig und nicht ruhig, nachlässig und unrhythmisch. Man läßt sich dahintreiben und vergißt die Grundlagen. Und wenn ein Mensch von weitherziger Art ist, so werden seine Wünsche zuchtlos, und wenn er engherzig ist, so werden seine Gedanken gierig. Die Kraft zur ausgelassenen Lust wird erregt, und die Geisteskraft der ruhigen Harmonie wird vernichtet. Darum verachtet der Edle das.

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die fünf gesellschaftlichen Beziehungen

Quelle:
Li Gi. Düsseldorf/Köln 1981, S. 80-81.
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