8. Fürst Wen von We / We Wen Hou

[85] Fürst Wen von We fragte den Dsï Hia und sprach: »Wenn ich in Feiergewand und Krone die alte Musik höre, so muß ich mich immer in acht nehmen, daß ich nicht einschlafe. Wenn ich aber die Töne von Dschong und We höre, so kenne ich keine Müdigkeit. Darf ich fragen, warum mich die alte Musik so langweilt und die neue Musik so amüsiert?«

Dsï Hia erwiderte: »Bei der alten Musik treten die Tänzer zusammen auf und treten zusammen ab. Die Töne sind harmonisch, schlicht und tief. Die Saiteninstrumente und die Kürbisinstrumente, die Mundorgeln und die Flöten richten sich im Takt nach der Pauke. Man beginnt mit dem Friedenstanz beim ersten Klang der Pauken. Man endigt mit dem Kriegstanz beim vollen Klang der Glocken. Man ordnet den Wirbel nach dem Taktstock und mäßigt die Schnelligkeit nach dem Plektron. Die Edlen unterhalten sich darüber und beginnen vom Altertum zu reden, wie die persönliche Bildung[85] auf die Familie wirkt und schließlich auf diese Weise die ganze Welt in Frieden und Ordnung kommt. Das sind die Wirkungen der alten Musik. Bei der neuen Musik kommen die Tänzer gebückt herein und ziehen sich gebückt zurück. Wilde Laute ertönen rauschend und betäuben das Ohr ohne Aufhören. Gaukler kommen herein und Zwerge, die aussehen wie Affen, Männer und Frauen treten durcheinander auf, und man weiß nicht, wer Vater ist und wer Sohn. Wenn die Musik zu Ende ist, so kann man nicht darüber reden und kann nicht im Zusammenhang damit vom Altertum sprechen.

Wonach Ihr gefragt habt, o Fürst, das ist die Kunst der Musik, aber was Ihr liebt, das sind nur Töne. Töne und Musik haben eine gewisse Verwandtschaft miteinander, aber sie sind nicht das gleiche.«

Der Fürst Wen sprach: »Darf ich fragen, wieso das?«

Dsï Hia erwiderte: »In jenen alten Zeiten hatten Himmel und Erde ihren rechten Gang, und die vier Jahreszeiten trafen die rechte Zeit. Die Menschen hatten Tugend, und die fünf Kornarten gediehen. Krankheiten und Fieber erhoben sich nicht, und es gab keine Zeichen und Wunder. Das ist's, was man das große Zusammentreffen nennt. Darauf erstanden die Heiligen und machten das Verhältnis zwischen Vater und Sohn, zwischen Fürst und Diener zum allgemeinen Maßstab der gesellschaftlichen Beziehungen. Da diese Maßstäbe die rechten waren, kam die Welt in feste Geleise. Nachdem die Welt in festen Geleisen war, begann man die sechs Rohre zu ordnen und die fünf Klänge in Harmonie zu bringen und unter Saitenspiel Lieder und Psalmen zu singen. Das ist es, was man die Töne der Geisteskraft nennt. Die Töne der Geisteskraft heißen Musik. Im Buch der Lieder (III, I, 7, 4) heißt es: ›In der Stille erklang der Ton seiner Geisteskraft. Seine Geisteskraft war klar, und weil sie klar war, so konnte er unterscheiden, konnte er erziehen, konnte er herrschen. Herrschend über dieses große Land konnte er es zum Gehorsam bringen und zur Liebe. Der König Wen, auf den diese Liebe kam, führte ein Leben ohne Makel. Er empfing die Gnade des Herrn und teilte sie seinen Söhnen und Enkeln mit.‹ Das bezieht sich darauf.[86]

Was Ihr, o Fürst, liebt, sind das nicht die versinkenden Töne?«

Fürst Wen sprach: »Darf ich fragen, woher diese versinkenden Töne stammen?«

Dsï Hia erwiderte: »Die Töne von Dschong sind geschickt, durch Überströmen den Willen mitzureißen. Die Töne von Sung ertränken durch Gelage und Weiber den Willen. Die Töne von We sind rasch und aufgeregt und verwirren den Willen. Die Töne von Tsi sind stolz und hochmütig und betören den Willen. Alle diese Töne reißen fort zur Sinnlichkeit und schaden der Geisteskraft. Darum kann man sie beim Opfer nicht brauchen.

Im Buch der Lieder heißt es (IV, II, 5, 2): ›Ernste und harmonische Klänge, die sind es, die die verewigten Ahnen hören.‹ Ernst bedeutet Sorgfalt, Harmonie bedeutet Eintracht. Mit Sorgfalt und Eintracht läßt sich alles machen.

Wer über die Menschen herrscht, muß über seine Zu- und Abneigungen wachen. Was der Fürst liebt, das führen die Minister aus. Was die Oberen tun, das macht ihnen das Volk nach. Das ist gemeint, wenn es im Buch der Lieder heißt (III, II, 10, 6): ›Das Volk zu leiten ist sehr leicht.‹

Daraufhin erst machten die Heiligen Handtrommeln und Trommeln, Rasseln und Klappern, Okarinas und Querflöten. Die Töne dieser sechs Instrumente sind die Töne der Lebenskraft. Danach kamen die Glocken und Klingsteine, die Pansflöten (Yü) und Harfen (Se), um die Harmonie herzustellen, die Schilde und Beile, die Stierschwänze und Federn für die Pantomimen. Das waren die Geräte, die bei den Opfern in den Tempeln der verewigten Könige gebraucht wurden und bei dem Zutrinken und Erwidern der Becher bei Festmählern und bei der Sorge für die Rangordnung, so daß vornehm und gering, jeder das Seine erhielt, um auf diese Weise der Nachwelt zu zeigen, daß es eine Abstufung von Geehrten und Geringen, Alter und Jugend gibt.

Der Klang der Glocken hallt; er erinnert an Erteilen von Befehlen, durch die Begeisterung geweckt wird für den Krieg. Wenn der Edle daher den Klang der Glocken hört, so denkt er an seine Offiziere.

Der Stein gibt einen klirrenden Klang, der an die Unerbittlichkeit[87] der Pflicht erinnert, die bis zum Tode nicht wankt. Wenn daher der Edle den Klang des Klingsteins hört, so denkt er an seine Krieger, die bei der Verteidigung der Reichsgrenzen sterben.

Der Klang der Saiteninstrumente ist gefühlvoll; er erinnert an Demut bei der Fassung von Entschlüssen. Wenn daher der Edle den Klang von Zithern und Harfen vernimmt, so denkt er an seine Beamten, die ihm in Entschlossenheit und Pflichttreue dienen.

Der Klang des Bambusrohres ist überströmend; er erinnert an große Versammlungen, bei denen sich die Scharen treffen. Wenn daher der Edle den Klang der Pansflöten (Yü), der Mundorgeln (Schong), der Oboen (Siau) und Flöten (Guan) hört, so denkt er an seine Beamten, die sich in Scharen versammeln.

Der Klang der Trommeln und Pauken ist rollend; er erinnert an Bewegung, die die Scharen vorwärtstreibt. Wenn daher der Edle den Klang der Trommeln und Pauken hört, so denkt er seiner Feldherren und Generale.

Wenn der Edle Töne hört, so hört er nicht das Geräusch, das sie machen, sondern sie erwecken in ihm die Gedanken, die damit verbunden sind.«

Quelle:
Li Gi. Düsseldorf/Köln 1981, S. 85-88.
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