9. Gespräch über die Wu-Musik - Bin Mou Gia

[88] Bin Mou Gia saß zu den Füßen des Meisters Kung. Meister Kung redete mit ihm und kam auf die Musik zu sprechen. Er sprach: »Was bedeutet es, daß bei der Wu-Musik der warnende Trommelwirbel so lange dauert?« Jener erwiderte: »Es ist die Besorgnis, die Massen zu gewinnen.«

»Und warum sind die Töne so schmerzlich langgezogen?«

Jener erwiderte: »Das stellt die Befürchtung dar, die Landesfürsten möchten nicht zu der Unternehmung herbeikommen.«

»Und warum fangen die Tänzer so früh an, die Arme zu schwingen und mit den Füßen auf die Erde zu stampfen?«

Jener erwiderte: »Das bedeutet, daß die Zeit gekommen ist und die Handlung beginnt.«

»Und warum setzen die Tänzer das rechte Knie zur Erde und stützen sich aufs linke Knie?«[88]

Jener erwiderte: »Das ist nicht die ursprüngliche Bewegung zur Wu-Musik.«

»Und warum wird der Ton so ungezügelt gegen die Schangdynastie?«

Jener erwiderte: »Das ist kein ursprünglicher Bestandteil der Wu-Musik11

Meister Kung sprach: »Wenn es kein Bestandteil der Wu-Musik ist, was ist es dann?«

Jener erwiderte: »Die Musiker haben die rechte Überlieferung verloren. Wenn die Musiker nicht die Überlieferung verloren hätten, so wäre die Gesinnung des Königs Wu ja maßlos gewesen.«

Meister Kung sprach: »Ja, ich habe von Tschang Hung Ähnliches gehört wie das, was du sagst.«

Bin Mou Gia erhob sich von der Matte und fragte: »Über die Bedeutung des langen Paukenwirbels zu Beginn der Wu-Musik habe ich Eure Belehrung empfangen. Darf ich fragen, was es zu bedeuten hat, daß die Tänzer nach der ersten Pause so lange in der ersten Stellung verharren?«

Der Meister sprach: »Setze dich, ich will dir's sagen. Die Musik stellt die Vollendung des Werks des Königs Wu dar. Die Stellung, wo sie dastehen auf die Schilde gestützt wie Berge so fest, das stellt den König Wu dar. Das wilde Schwingen der Arme und das heftige Stampfen der Füße, das stellt die Gesinnung des großen Herzogs12 dar. Daß beim Schlußteil der Wu-Musik alle knien, das stellt die Ordnung und den Frieden dar, die die Fürsten Schau und Dschou13 geschaffen haben. Der erste Satz stellt den Auszug nach Norden dar, der zweite Satz die Vernichtung des Hauses Schang, der dritte Satz die Rückkehr nach Süden, der vierte Satz, wie die Staaten im Süden ihre Grenzen erhielten, der fünfte Satz, wie die Aufsicht über das Reich verteilt wurde an den Fürsten Dschou im Osten und den Fürsten Schau im Westen, der sechste Satz kehrt wieder zur ersten Stellung zurück, um zu zeigen, wie sie den Himmelssohn verehrten. Alle umringten ihn, um die vier Himmelsgegenden zu richten und seiner Herrlichkeit im Reich der Mitte Einfluß zu verschaffen. Die Teilung der ihn Umringenden bedeutet seinen Wunsch, daß die Unternehmung bald beendigt werden möchte. Das lange Beisammenstehen[89] der Pantomimen bedeutet die Spannung in der Erwartung der Fürsten. Hast du denn die Erzählung von der Schlacht auf dem Hirtenfeld (Mu Ye) noch nicht gehört? Als König Wu das Haus Yin besiegt hatte, kehrte er zurück nach der Hauptstadt Schang. Noch ehe er vom Wagen gestiegen war, belehnte er die Nachkommen des Huang Di mit Gi, die Nachkommen des Herrschers Yau mit Dschu, die Nachkommen des Herrschers Schun mit Tschen. Nachdem er vom Wagen gestiegen war, belehnte er die Nachkommen der Herrscher von Hia mit Ki, versetzte die Nachkommen von Yin nach Sung, errichtete eine Erdpyramide über dem Grab des Prinzen Bi Gan, befreite den Gi Dsï aus dem Kerker und ließ durch ihn die alten Zeremonienbeamten von Schang wieder in ihre Stellungen einsetzen. Das Volk wurde von dem Druck der Regierung befreit, und die Staatsmänner erhielten verdoppelte Einkünfte. Dann überschritt er den Gelben Fluß und ging nach Westen, wo er die Pferde im Süden des Berges Hua laufen ließ, ohne daß sie je wieder angespannt wurden, und die Zugochsen im Feld des Pfirsichwaldes (Tau Lin), ohne daß sie je wieder ins Joch kamen; die Wagen und Rüstungen wurden mit Blut geweiht und in den Rüstkammern geborgen, ohne daß sie je wieder gebraucht wurden; die Schilde und Speere wurden umgekehrt und in Tigerfelle gewickelt; die Feldherren wurden zu Lehensfürsten ernannt. Bei ihrer Ernennung sprach er: Haltet (die Waffen) unter Schloß und Riegel. Danach erkannte die Welt, daß König Wu nie wieder zu den Waffen greifen würde.

1. Das Heer wurde aufgelöst und die Sitte der Schützenfeste auf dem Anger eingerichtet. Auf dem östlichen Schießplatz spielte man dazu das Lied vom Fuchskopf (Li Schou) und auf dem westlichen Schießplatz das Lied Dsou Yü, und die Sitte, mit den Pfeilen die Häute der Zielscheibe alle zu durchdringen, hörte auf. 2. Man trug (statt des Helms) den Hut und steckte (statt des Schwerts) die Audienztafel in den Gürtel, und die Soldaten der Leibwache legten ihre Schwerter ab. 3. Er opferte im Lichtschloß (Ming Tang), und das Volk lernte die Kindesehrfurcht. 4. Er veranstaltete Reichstage und Audienzen, und die Fürsten lernten die Mannestreue. 5. Er pflügte selber das Opferfeld, und die Fürsten[90] lernten, was sie wichtig zu nehmen hatten. Diese fünf Maßregeln sind die großen Erziehungsmittel auf Erden.

Bei der Speisung der drei Arten von Greisen14 und der fünf Erfahrenen in der Hochschule trat der Himmelssohn mit entblößtem Arm vor sie und schlachtete ein Tier für sie; er bot ihnen die Brühe dar und reichte ihnen den Becher. Dann trat er in der Krone mit einem Schild (unter die Pantomimen und machte die heiligen Tänze mit), um dadurch die Lehensfürsten in der brüderlichen Unterordnung unter das Alter zu unterweisen.

Auf diese Weise breiteten sich die Wege von Dschou nach allen vier Himmelsrichtungen aus, und Sitte und Musik durchdrangen einander gegenseitig. Ist es von hier aus betrachtet nicht erklärlich, weshalb die Wu-Musik dieses Zögern (zu Beginn) hat?«

11

Hier die Erklärung, warum die Wu-Musik die höchste Schönheit erreicht, aber nicht die höchste Güte.

12

Tai Gung, genauer Tai Gung Wang, »die Hoffnung des Großvaters«, auch Schang Fu genannt, ist der Feldherr des Königs Wu, durch dessen Verdienste er das Reich gewonnen hatte. Er war der Stammvater der alten Dynastie von Tsi.

13

die Verwandten des Königs, die ihm bei der Ordnung des Reichs halfen

14

frühere Großwürdenträger, Älteste aus dem Volk, Männer, deren Söhne fürs Vaterland gestorben waren

Quelle:
Li Gi. Düsseldorf/Köln 1981, S. 88-91.
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