5. Furcht und Liebe

[188] Der Meister hat gesagt: »Was der Edle Güte nennt, wie ist das schwer! In den Liedern heißt es (III, II, 6, 1):


›Ein gütiger und milder Fürst

ist Vater und Mutter des Volks.‹


Gütig ist er in der Kraft, mit der er sie erzieht, milde ist er in der Freude, mit der er ihnen Ruhe gibt. Er ist heiter, ohne sich gehen zu lassen, hält sich an die Sitte und ist dabei liebevoll; er ist ernst und streng und doch ruhig; er ist ehrfürchtig und liebevoll und doch sorgfältig, so daß das Volk ihn ehrt wie einen Vater und liebt wie eine Mutter. Nur so kann einer Vater und Mutter des Volkes sein. Aber wer, außer einem Manne von höchster Geisteskraft, könnte das erreichen!

Ein Vater wird in seiner Liebe zu seinen Söhnen die tüchtigen bevorzugen und die unfähigen geringer achten. Eine Mutter liebt ihre Söhne so, daß sie anhänglich ist an die tüchtigen und mit den unfähigen Mitleid hat. Darum wird die Mutter von ihren Kindern mehr geliebt als verehrt und der Vater mehr verehrt als geliebt, wie das Wasser von den Menschen mehr geliebt als geehrt und das Feuer mehr geehrt als geliebt wird, wie die Erde von den Menschen mehr geliebt als geehrt und der Himmel mehr geehrt als geliebt wird, wie das Leben von den Menschen mehr geliebt als geehrt und die Geister mehr geehrt als geliebt werden.«

Der Meister sprach: »Die Kultur (Tao) der Hia schätzte das Leben, diente den Geistern, ehrte die Götter und hielt sich fern von ihnen. Die Herrscher standen den Menschen nahe und waren gewissenhaft, sie stellten das Einkommen voran und die Scheu hintan, sie stellten die Belohnung voran und die Strafe hintan. So wurden sie mehr geliebt als geehrt. Die Fehler des Volkes waren Dummheit und Torheit, Stolz und eine rohe Ehrlichkeit ohne Form. Die Herrscher von Yin ehrten die Götter und leiteten das Volk an, den Göttern zu dienen. Sie stellten die Geister in den Vordergrund und die Sitten in den Hintergrund. Sie stellten die Strafen voran und die Belohnungen hintennach. So wurden sie mehr geehrt als geliebt.[188] Die Fehler des Volkes waren Zerstreutheit und Unruhe, Sucht, sich hervorzutun, und Mangel an Schamgefühl. Die Herrscher von Dschou ehrten die Sitte und schätzten das Wirken; sie dienten den Geistern, verehrten die Götter und hielten sich fern von ihnen. Sie standen den Menschen nahe und waren gewissenhaft. Lohn und Strafe waren nach dem Rang geordnet. Sie wurden mehr geliebt als geehrt. Die Fehler des Volkes waren Gewinnsucht und Gewandtheit, gute Form und Mangel an Echtheit, Betrug und Hinterlist.«

Der Meister sprach: »Die Kultur der Hia fiel nicht lästig durch vieles Reden; sie verlangte keine Vollkommenheit, erwartete nichts Großes von dem Volk, und das Volk fürchtete seine Eltern noch nicht. Die Herrscher von Yin fielen nicht lästig durch viele Sittenregeln, aber sie verlangten Vollkommenheit von den Leuten. Die Herrscher von Dschou mußten das Volk bezwingen. Sie fielen nicht lästig durch Gottesdienste und leisteten das Äußerste an der Ordnung der Belohnungen und Strafen.«

Der Meister sprach: »Die Kultur der Herrscher von Yü (Schun) und Hia fand wenig Groll beim Volk. Die Kultur der Herrscher von Yin und Dschou wurde mit den Fehlern des Volks nicht fertig.«

Der Meister sprach: »Die Herrscher von Yü und Hia waren an Gehalt, die Herrscher von Yin und Dschou in den Formen vollendet. Aber die Formen der Kultur von Yü und Hia waren ihrem Gehalt nicht ebenbürtig. Der Gehalt der Kulturen von Yin und Dschou war ihren Formen nicht ebenbürtig.«

Quelle:
Li Gi. Düsseldorf/Köln 1981, S. 188-189.
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