König Siuân's Klagelied über die Dürre.1

[442] Hoch schimmerte die Milchstraß' her,

Und dreht' am Himmel sich mit Prangen,

Da sprach der König: Wehe, weh!

Was haben wir Jetztlebenden begangen?

Der Himmel sendet Tod und Wirren,

Stets wird des Hungerns mehr verhangen.

Kein Geist ist, den ich nicht verehrt,

Kein Opfer, deß ich mich erwehrt,

Halbscepter, Scepter sind zu Ende, –2

Weswegen werd' ich nicht gehört?


Die Dürr' ist über Maßen groß;

Stets wächst des heißen Dunstes Wallen.

Kein reines Opfer ward versäumt

Vom Gränzherd bis zur Ahnenhallen.

Auf-, abwärts opfert' ich, grub ein;3

Ohn' Ehren blieb kein Geist von allen.

Doch auch Héu-tsĭ vermochte nichts;4

Dem Höchsten Herrn hat nichts gefallen.

Des Landes Schwinden und Vergeh'n,

O wär's auf mich allein gefallen!
[443]

Die Dürr' ist über Maßen groß,

Ich kann's nicht von mir wälzen wollen.

Ich bin erschrocken, bin entsetzt,

Wie beim Gekrach, beim Donnerrollen.

Vom Rest aus Tschēu's schwarzhaar'gem Volk

Wird auch nicht Einer bleiben sollen.

Vor'm Höchsten HErrn in Himmelshöh'n

Werd' ich ja selbst nicht bleiben sollen.

Wie fürchteten wir alle nicht,

Daß auch die Ahnen bald verschollen?5


Die Dürr' ist über Maßen groß,

Und ihr ist nicht zu widerstehn.

Und diesem Brennen, diesem Glühen,

Mir bleibt kein Ort ihm zu entgehn.

Mein letztes Schicksal ist mir nahe,

Kein Aufschau'n hilft, kein Hülfeflehn.

Die vielen Fürsten, vor'gen Großen,6

Auch sie thun nichts, mir beizustehn.

O Vater, Mutter, all' ihr Ahnen,

Wie könnt ihr so mich leiden sehn?


Die Dürr' ist über Maßen groß,

Verdorrend lechzen Flüss' und Flühen.

Der Trockniß Dämon treibt es wild,

Wie Feuerbrand, wie Flammensprühen.

Mein Herz ergrauset vor der Gluth,

Mein banges Herz ist wie im Glüchen.

Die vielen Fürsten, vor'gen Großen,

Sie haben mir kein Ohr geliehen.

O Höchster HErr in Himmelshöh'n,

Daß du hinweg mich ließest fliehen!
[444]

Die Dürr' ist über Maßen groß;

Ich ring' aus Furcht, mich's zu entbinden.

Warum ward ich geschlagen mit der dürren Zeit?

Ich kann die Ursach nicht ergründen.

Gar zeitig betet' ich für's Jahr,

Verspätet's nicht bei Erd' und Winden.7

Der Höchste HErr in Himmelshöh'n,

Er läßt mich nicht Beachtung finden.

Ehrt' ich die lichten Geister treu,

Sollt' ihren Grimm ich nicht empfinden.


Die Dürr' ist über Maßen groß;

Die Ämter geh'n aus Rand und Band;

O wie erschöpft sind all' die Großen,

Wie lahm mein höchster Rath im Land, –

Stallmeister, Gardencommandant,

Truchseß, und wer mir sonst zur Hand, –

Nicht Einer, der nicht gern geholfen,

Und nicht sich machtlos abgewandt.

Ich schau' empor zum hohen Himmel:

Warum ward mir dieß Leid gesandt?


Ich schau' empor zum hohen Himmel,

Hell schimmert seiner Sterne Licht.

Ihr Großen und ihr hohen Männer,

Ihr kamet glänzend, nichts gebricht;

Doch mag das letzte Schicksal nahen,

Entzieht euch der Vollbringung nicht.8

Strebt ihr denn nur für mich alleine?

Nein, ihr ermuthigt jede Pflicht.

Ich schau' empor zum hohen Himmel,

Ob seine Gnad' uns Trost verspricht.

1

König Siuân regierte von 826 bis 780 v. Chr. – Als Verfasser des Liedes wird ein gewisser Sjîn Schŭ genannt.

2

Beide Arten von Würdenzeichen wurden mit ihrer Höhlung zu den Trankopfern gebraucht.

3

Er opferte den himmlischen und den irdischen Geistermächten und vergrub dann das als Opfer Ausgestellte.

4

Aus III. 2, 1 ersehen wir, daß der Ahnherr des Hauses Héu-tsĭ, Schutzpatron des Ackerbaues war.

5

Ihr Andenken wird auf Erden erlöschen, weil keine Nachkommen mehr ihnen opfern können.

6

Die Geister der fürstlichen Vorfahren und ihrer Minister.

7

Für »Winde« genauer »Himmelsgegenden«.

8

Dem Vollbringen der Opfer und Gebete, wozu die hohen Würdenträger erschienen waren.

Quelle:
Schī-kīng. Heidelberg 1880, S. 442-445.
Lizenz:

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