Lied des neunzigjährigen Fürsten Wù von Wéi.1

[434] Des feinen Anstands edle Würde

Tritt aus der Tugend nur hervor.

Doch ist ein Spruch auch bei den Leuten.

Kein Weiser, der nicht auch ein Thor.

Zeigt des gemeinen Mannes Thorheit

Daß seine Bildung mangelhaft,

So ist des weisen Mannes Thorheit

Ein Zeichen seiner Leidenschaft.


Nichts ist so mächtig als ein Mann,

Das ganze Reich vermag er zu belehren;

Und ist sein Tugendwandel ächt,

Wird jedes Land ihn folgsam ehren.

Durch reifen Rath, benimmt Geheiß,

Durch weiten Zweck, rechtzeitig Reden,

Durch wolbewahrten würd'gen Ernst

Steht er als Richtmaß da für Jeden.


Und du, in gegenwärt'ger Zeit,

Bringst Irrung und Verwirrung in's Verwalten;

Kehrst deine Tugend gänzlich um,

Schwelgst in berauschenden Getränken?

Wenn du auch schwelgend nur Vergnügen suchst,

Mußt du nicht deiner Herkunft denken?

Siebst du nicht mehr den frühern Kön'gen nach,

Ihr einsichtsvoll Gesetz zu halten?
[435]

Die nicht beim hohen Himmel steh'n in Ehren,

Die fließen wie ein Quell hinab;

Sieht man nicht All' in ihr Verderben kehren? –

Steh' zeitig auf, bei Nacht schlaf' aus,

Bespreng' und fege Hof und Haus,

Dem Volk ein Vorbild zu gewähren.

Die Ross' und Vagen rüste zu,

Die Bogen, Pfeile, Kriegeswehren,

Um Kriegesläuften vorzubau'n,

Und um das Mân-Volk abzuwehren.2


Das Volk und deine Leute förd're,

Auf deine Fürstenpflichten achte,

Um vorzubau'n auf's Ungedachte.

Nimm sorgsam deiner Worte wahr.

Des Anstands Würdigkeit behüte,

Und nie sei ohne Mild' und Güte.

Des weißen Sceptersteines Fleck

Kann wieder weggerieben werden.

Des ausgesproch'nen Wortes Fleck

Kann nimmermehr vertrieben werden.


Nie nimm es leicht mit deinen Worten,

Und sage nie: So geht es schon.

Niemand kann meiner Zunge wachen,

Und Worte sind nie ungesagt zu machen.

Kein Wort, dem nicht Antworten droh'n,

Und keine Gutthat ohne Lohn.

Wer gütig sich den Freunden zeigt,

Zum Volk sich als zu Kindern neigt,

Dem werden Enkel stets sich reih'n

Und nie die Völker ungehorsam sein.
[436]

Und siehst du deine Freund' und hohen Männer,

Sei hold und mild von Angesicht.

Versiehst du's auch worinnen nicht?

Erblickst du dich bei dir zu Haus,

Ob's am geheimsten Ort auch unbeschämt geschähe,

Sprich nie: »Hier bin ich ungeseh'n,

Und Keiner ist in meiner Nähe«.

Der Geister Nahesein indessen

Ist nicht im Voraus zu ermessen,

Und um so minder zu vergessen.


Beweise deine Tugend, Fürst,

Und zeige dich voll Güt' und Adel.

Bewache dein Verhalten wol,

Sei im Benehmen ohne Tadel.

Kein Unrecht thu', nichts dir zur Schmach;

Nur Wenig' ahmen nicht dir nach.

Beschenkt mich wer mit Pfirsichen,

So biet' ich Pflaumen ihm zum Lohn,

Doch erst ein Lamm, und schon gehörnt,

Verwirrt dich nur, du kleiner Sohn.3


Ein saftiges und weiches Holz

Wird schon ein Seidenfaden beugen.

Ein gütiger und ernster Mann

Wird seiner Tugend Grund bezeugen.

Das aber ist ein weiser Mann,

Den wir mit einem Spruche mahnen

Und er befolgt der Tugend Bahnen.

Das aber ist ein thör'ger Mann,

Der einspricht, wir sei'n irrig dran.

Doch seinen Sinn hat Jedermann.
[437]

O aber, o du junger Wicht,

Der noch nicht weiß, was gut, was nicht!

Nicht an der Hand nur führt' ich dich,

Ich wies dich hin auf jede Pflicht;

Nicht in's Gesicht nur hieß ich's dir,

Zog dich beim Ohr zum Unterricht;

Doch scheint's, noch immer weißt du's nicht,

Da längst dein Arm den Sohn umflicht.

Ist man von sich nicht eingenommen,

Wie weiß man denn so früh, und wird so spät vollkommen?


Klar sieht's der Himmel, hoch und hehr,

Mein Leben ist gar freudeleer.

Daß ich dich so verfinstert sehe,

Das macht das Herz mir kummerschwer.

Mit allem Ernst belehrt' ich dich,

Du hörtest nur verdrossen her.

Du hieltst es nicht für eine Lehr',

Hieltst es für Quälerei vielmehr.

Es scheint, noch immer weißt du's nicht,

Und bist gealtert schon so sehr.


O liebes Söhnlein, immer neu

Mahn' ich an's Alterthum dich treu.

Hör' und befolge meinen Rath,

Dann sparest du dir große Reu'.

Nun drücket uns der Himmel schwer,

Und stürzt das Land in Traurigkeit;

Weit hol' ich den Beweis nicht her;

Der Himmel irrt zu keiner Zeit.

Wer mit der Tugend sich entzweit,

Der thut dem Volke großes Leid.

1

Es wird angenommen, daß dieses Gedicht Selbstermahnungen des Hochbejahrten enthalte.

2

Die Mân sind die schon früher vorgekommenen wilden Horden im Süden des damaligen Reichs.

3

Dem guten Beispiele wird gute Nachfolge entsprechen; das sich selbst widersprechende verwirrt nur.

Quelle:
Schī-kīng. Heidelberg 1880, S. 434-438.
Lizenz:

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