Warnungen an König Lí.1

[432] Erhaben ist der Höchste HErr,

Des Untervolks Obwaltender.

Erschrecklich ist der Höchste HErr,

Deß Will' ein viel verfälscheter.2

Der Himmel schaffet alles Volk;

Sein Will' ist nicht verläss'ge Spende.3

Es mangelt nie beim Anbeginn,

Doch Wenige besteh'n am Ende.


Der König Wên sprach: Wehe dir,

O, wehe dir, du Jīn und Schâng,4

Wo solche grausame Bedrücker,

Wo solche harte Zinseinpfänder;

Wo solche hoch in Würden steh'n.

Wo solche walten deiner Länder!

Der Himmel schuf die Tugendschänder,

Doch du bist ihrer Vollmacht Spender
[432]

Der König Wên sprach: Wehe dir,

O, wehe dir, du Jîn und Schāng!

Du hältst als Leute guter Sinnen

Tyrannen, die nur Haß gewinnen,

Die dich mit Redefluß umspinnen

Und Dieb' und Räuber sind da drinnen.5

Drum das Verfluchen, das Verschwören

Ohn' alle Gränz', ohn' aufzuhören.


Der König Wên sprach: Wehe dir,

O, wehe dir, du Jīn und Schāng!

Du blähst dich übermüthig in der Landesmitte,

Und Haß zu ernten dünkt dir Tugendsitte.

Du kennst nicht deine Tugendsitte,

Drum fehlet, der dir nach und mit dir schritte;

Kennst deine Tugendsitte nicht,

Drum Helfer und Berather dir gebricht.


Der König Wên sprach: Wehe dir,

O, wehe dir, du Jīn und Schāng!

Der Himmel ist es nicht, der dich mit Wein berauscht,

Und dich verführt zu Ärgerniß;

Du bist's, der sich der Zucht entriß,

Nicht achtet Licht noch Finsterniß,

Und bei Geschrei und Jauchzen macht

Das helle Tageslicht zur Nacht.


Der König Wên sprach: Wehe dir,

O, wehe dir, du Jīn und Schāng!

Es ist wie wirrer Grillensang,

Wie Sprudelbrüh' im Siededrang;

Und Klein und Groß naht Untergang,

Und doch zieh'n Jene stets denselben Strang.[433]

Inwendig wächst der Grimm im Mittellande,

Bis zum Dämonenland entlang.6


Der König Wên sprach: Wehe dir,

O, wehe dir, du Jīn und Schāng!

Nicht kommt vom Höchsten HErrn die böse Zeit:

Jīn läßt das Alterthum beiseit.

Und hat es auch nicht alterfahr'ne Männer,

So hat es doch Gesetz und Lehren;

Allein es will auf sie nicht hören;

Das wird sein großes Amt zerstören.


Der König Wên sprach: Wehe dir,

O, wehe dir, du Jīn und Schāng!

Die Leute haben einen Spruch:

»Wo etwas sich zum Fallen kehrt,

Und Zweig' und Blätter sind noch unversehrt,

Da ist die Wurzel schon zerstört.«

Jīn hat den Spiegel nah' genug;

Die Zeit der Herrscher Hiá's hat ihn gewährt.7

1

König Lí, welcher von 878 v. Chr. an regierte und sich großer Willkür, Erpressungen und Ausschweifungen schuldig machte, wird von dem Verfasser des Liedes, als welcher Fürst Mŭ von Scháo gilt, auf eine geistreiche Weise gewarnt, indem er den König Wên dieselben Fehler dem letzten König der Schāng-Dynastie vorwerfen läßt, die schließlich auch Lí den Thron kosteten.

2

Indem die Könige, denen die Ausführung des göttlichen Willens aufgetragen ist, ihn vermehren und verfälschen.

3

Ein Herrscher darf sich nicht bloß darauf verlassen; daß ihm die Ausführung des göttlichen Willens, d.h. sein Königsamt, ein für alle Mal verliehen sei.

4

Beides Namen der letzten Dynastie.

5

D.h. im Palaste selbst.

6

Bis zum fernsten Auslande.

7

Die Hiá-Dynastie war (1765 v. Chr.) durch König Kuèi's (oder Kiĕ's Ausschweifungen, Verschwendung und Grausamkeit gleichfalls zu Grunde gegangen.

Quelle:
Schī-kīng. Heidelberg 1880, S. 432-434.
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