4.

[720] Aber warum heisst er der Laut Om? – Weil er, wenn ausgesprochen, die Lebenshauche in die Höhe steigen macht, darum heisst er der Laut Om.

Und warum heisst er der heilige Ruf (praṇava)? – Weil er, wenn ausgesprochen, das aus Riç, Yajus, Sâman, Atharvâ giras bestehende Brahman den Brahmanen zuneigt (praṇâmayati) und geneigt macht, darum heisst er der heilige Ruf.

Aber warum heisst er alldurchdringend? – Weil er, wenn ausgesprochen, gleichsam wie mit Öl einen Sesamteigklumpen, das Ruheartige (Kâṭh. 3,13), das Eingewobene und Verwobene (Bṛih. 3,6) durchdringt und durchsetzt, darum heisst er alldurchdringend.

Aber warum heisst er unendlich? – Weil, wenn er ausgesprochen, in die Quere, nach oben und nach unten kein Ende desselben zu finden ist, darum heisst er unendlich.

Aber warum heisst er das Rettende? – Weil er, wenn ausgesprochen, aus der grossen Furcht vor Empfängnis, Geburt, Krankheit, Alter, Tod und Seelenwanderung Rettung schafft und errettet, darum heisst er das Rettende.

Aber warum heisst er das Reine (çu-klam)? – Weil er, wenn ausgesprochen, lärmt (klandate) und müde macht (klâmayati), darum heisst er das Reine.

Aber warum heisst er das Feine? – Weil er, wenn ausgesprochen, in feiner Gestalt sich der Leiber bemächtigt und alle Glieder überstreicht, darum heisst er das Feine.

Aber warum heisst er das Blitzartige? – Weil er, wenn ausgesprochen, es in der unoffenbaren (avyakte) grossen Finsternis aufleuchten macht, darum heisst er das Blitzartige.

Aber warum heisst er das höchste Brahman? – Weil er das Höchste des Höchsten, das höchste Ziel, das Starke (bṛihat)[720] ist und durch starke [Zauberkraft] erstarken macht (bṛihatyâ bṛiṅhayati), darum heisst er das höchste Brahman.

Aber warum heisst er der Eine? – Er der, alle Lebenskräfte (prâṇâḥ) verschlingend, indem er sie verschlingt, als ewiger sie zusammenfasst und wieder auseinanderbreitet, also dass zu ihrem Meister die einen eilen und zu ihrem Meister wieder einige, und nach Süden, Westen, Norden und Osten wieder andere [als die den Prâṇa's entsprechenden Naturkräfte] hineilen, er ist ihrer aller Sammelplatz hier, und zusammenfassend einer geworden, streicht er hin [als der Lebenshauch] der Geschöpfe, – darum heisst er der Eine.

Aber warum heisst er Rudra? – Weil nur von den Sehern (ṛi-shi), nicht von andern Verehrern, flugs (dru-tam) seine Wesenheit (rû-pam) erfasst wird, darum heisst er Ru-dra.

Aber warum heisst er der Herr? – Weil er der ist,


Der alle Götter mit seinen Herrscherkräften,

Mit Zeugungskräften auch beherrscht (vgl. Çvet. 3,1), –


Zu dir, o Held, aufschreien wir,

Wie Kühe, die zur Melkung gehn,

Dem Herrn des, das sich regt, dem himmelschauenden,

Dem Herrn, o Indra, des, das steht (Ṛigv. 7,32,22), –


darum heisst er der Herr.

Aber warum heisst er der erhabene Maheçvara? – Weil er die Verehrer (bhaktân) an der Erkenntnis teilnehmen lässt und mit ihr begnadigt; weil er die Rede [des Veda] in sich zurücknimmt und wieder ausströmen lässt (Bṛih. 2,4,10); weil er, alle Wesenheiten aufgebend, durch die Erkenntnis des Âtman und die Herrschaft des Yoga sich erhebt und erhaben ist, darum heisst er der erhabene Maheçvara.

Dieses ist die Kunde des Rudra.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 720-721.
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