Haṅsa-Upanishad.

[672] Diese, auch im Oupnekhat als Hensnad (d.i. Haṅsanâda) enthaltene Upanishad gehört, wie schon ihre Stellung in den Sammlungen Colebrooke's und Nârâyaṇa's, noch mehr aber ihr Inhalt zeigt, einer spätern Entwicklungsstufe als die bisher behandelten Yoga-Upanishad's an. Die Aufstellung der Worte haṅsa haṅsa als Mantrarâja (Spruchkönig, d.h. als ein durch die ganze Upanishad sich hindurchziehender Leitspruch) und die Art, wie an demselben Anfang, Mitte und Ende (vîjam, kîlaka, çakti) unterschieden und die Auftragung des Spruches als Diagramm gelehrt wird, lassen unsere Upanishad in nächster Verwandtschaft mit dem Gedankenkreise von Nṛisiṅhatâpanîya und Râmatâpanîya erscheinen.

Als Grundgedanke kann man bezeichnen, dass der Haṅsa (die individuelle Seele) durch Meditation des Lautes Om und namentlich seines Nachhalls zum Paramahaṅsa (der höchsten Seele) wird.

Der Hauptinhalt ist folgender. Die Paragrapheneinteilung rührt von uns her, da die in der Calcuttaer und den beiden Punaer Ausgaben (mit Nârâyaṇa's und Ça karânanda's Kommentar) widersprechend und unzweckmässig sind.

1. Einleitung. Die Verse zu Eingang sowie die am Schlusse fehlen in Ça karânanda's Rezension.

2. Die individuelle Seele wird, durch Zusammenfassung der Laute des Ausatmens (han) und Einatmens (sa), als Haṅsa bezeichnet.

3. Ähnlich wie die Kshurikâ-Upanishad ein sukzessi ves Sichloslösen von den einzelnen Gliedern, lehrt unsere Upanishad ein Emporsteigen durch die sechs mystischen, am Körper unterschiedenen Kreise bis hinauf zum Brahmarandhram. Dieses Aufsteigen wird bewerkstelligt durch Meditation der Silbe Om und besonders ihres Nachhalls.

4. Das in Tag und Nacht durch das Atemholen des (fünffachen) Prâṇa 21606 mal wiederholte haṅsa haṅsa erscheint als Hymnus (als der Mantrarâja), dessen Dichter, Metrum und Gottheit bestimmt, und an welchem vîjam (Keim, Anfangssilbe), kîlaka (Stamm, Mittelsilben) und çakti (Kraft, Schlusssilbe) unterschieden werden.

[673] 5. Dieser Spruchkönig, welcher als solcher sechs »Glieder« (Herz, Kopf, Haarlocke, Panzer, Dreiauge und Waffe) hat (vgl. Nṛisiṅhap. 2,2. Râmap. 61), wird unter bestimmten (aus dem Kommentar zu ergänzenden) Anrufungen dieser Glieder als Diagramm (vermutlich um dasselbe als Amulett zu tragen) niedergeschrieben (die nähere Art der Ausführung wird nicht angegeben) und ausserdem noch, wie es scheint, auf den Händen aufgetragen.

6. Symbolische Ausdeutung des, als Haṅsa (Gans) in Vogelgestalt aufgefassten, individuellen Âtman.

7. Identität des Haṅsa und Paramahaṅsa (des individuellen und höchsten Âtman).

8. Schilderung des noch nicht zum Paramahaṅsa erhobenen Haṅsa.

9. Einswerden desselben mit dem Paramahaṅsa.

10. Auf zehn Arten kann der Nachhall hervorgebracht werden (vgl. Chând. 2,22. Maitr. 6,22, oben S. 95. 346); die zehnte derselben wird zur Übung empfohlen. Anders die nachfolgenden Verse.

11. Schwinden des Mana und Einswerdung mit dem höchsten Âtman.

Der Zusammenhang lässt als denkbar erscheinen, dass diejenigen Abschnitte, welche diese Upanishad so viel moderner als die übrigen Yoga-Upanishad's erscheinen lassen (namentlich 3-5) auf späterer Einschiebung beruhen.


1. Gautama sprach:


Des Brahmanwissens Aufweckung,

Die aller Pflichten kundig ist,

Aller Lehrbücher Sinn einschliesst,

Wodurch, o Herr, wird die bewirkt?


Sanatsujâta sprach:


Alle Veden durchdacht habend

Und erfasst habend ihren Sinn,

Çiva der Pârvatî vortrug

Die Wahrheit; – sie vernimm von mir.


Unsagbar und verhüllt gleichsam,

Ist der Yogin's Geheimnis sie;

Die dem Haṅsa den Weg auslegt,

Freude schenkt und Erlösungsfrucht.


Nunmehr wollen wir über den Haṅsa und Paramahaṅsa das Genaue mitteilen für den Brahmanschüler, welcher beruhigt, bezähmt und dem Lehrer ergeben ist.

2. Mit dem Laute haṅ-sa haṅ-sa [aushauchend und einhauchend] weilt er [der Odem] immerfort in allen Leibern,[674] sie ganz erfüllend, wie das Feuer in dem Brennholze oder das Öl in den Sesamkörnern. Wer ihn erkennt, der verfällt nicht dem Tode.

3. Die Afteröffnung verschliessend, soll man den Wind von dem Unterleibskreise (âdhâra) in die Höhe treiben, indem man dabei den Sexualkreis (svâdhishṭhânam) dreimal nach rechts umfährt, zu dem Nabelkreise (maṇipûrakam) aufsteigen, den Herzkreis (anâhatam) überschreiten, im Halskreise (viçuddhi) die Lebenshauche anhalten, den Zwischenbrauenkreis (âjñâ) überdenken, die Brahmanöffnung meditieren und dabei allezeit das Wort »ich bin der aus den drei Moren bestehende [Omlaut]«, dazu auch, vom Unterleibskreise an bis zur Brahmanöffnung hin, den Nachhall überdenken, welcher einem reinen Bergkristalle gleicht, denn er ist es, welcher Brahman, der höchste Âtman genannt wird.

4. Bei diesem Spruche [nämlich haṅso haṅsa] ist der Dichter der Haṅsa, das Metrum die Pa kti1, die Gottheit der Paramahaṅsa, das Wort ham der Keim (die Anfangssilbe), sa die Kraft (die Schlusssilbe), so 'ham der Stamm (die zwischenliegenden Silben). Es sind aber ihrer [der haṅ-sa, d.h. Aus- und Einatmungen] in Tag und Nacht einundzwanzigtausend sechshundert und sechs.2

5. Mit den Worten: »der Sonne (om sûryâya hṛidayâya namaḥ), dem Monde (om somâya çirase svâhâ), dem Fleckenlosen (om nirañjanâya çikhâyai vashat), dem Glanzlosen (om nirâbhâsâya kavacây ¾ hum), tanu-sûkshma (om tanusûkshma netratrayâya vaushaṭ) und pracodayât (om pracodayâd astrâya phat)« und dem [jedesmaligen] Zusatze: »dem Agni und Soma vaushaṭ«, werden die Gliedersprüche an Herz usw. [Herz, Kopf, Haarlocke, Panzer, Dreiauge und Waffe des Spruchkönigs] aufgetragen [als Diagramm] und auch auf die Hände aufgetragen.

6. Nachdem dies geschehen, soll man im Herzen in der [dort befindlichen] achtblätterigen [Lotosblume] das Wesen des Haṅsa überdenken. [Als Haṅsa, Gans, denkt man ihn in[675] Vogelgestalt:] Agni und Soma sind seine Flügel, der Om-Laut sein Kopf, der Anusvârakreis sein Auge [oder auch] sein Mund; Rudra und Rudrâṇî seine Füsse und Arme, Kâla und Agni seine beiden Seiten [rechts und links], »erschaut« und »heimatlos« sind die beiden übrigen Seiten [oben und unten].

7. Und dieser [Haṅsa, d.h. die individuelle Seele] ist jener Paramahaṅsa [die höchste Seele], welcher leuchtet wie zehn Millionen Sonnen und diese ganze Welt durchzieht.

8. Sein Verhalten aber [sofern er in der achtblätterigen Lotosblume des Herzens weilt] ist ein achtfaches: an dem östlichen Lotosblatte ist sein Sinn auf heiliges Werk gerichtet, an dem südöstlichen überkommen ihn Schlaf und Schlaffheit, an dem südlichen ist sein Sinn grausam, an dem südwestlichen trachtet er nach Bösem, an dem westlichen nach Spiel, an dem nordwestlichen steht sein Verlangen nach Gehen und dergleichen, an dem nördlichen begehrt er nach Liebeslust, an dem nordöstlichen nach Erwerb von Gütern. In der Mitte herrscht die Entsagung, an den Staubfäden der Zustand des Wachens, an der Samenkapsel der Schlaf, an dem Stengel der Tiefschlaf, wo die Lotosblume nach oben aufhört das Turîyam.

9. Wenn aber der Haṅsa in dem Nachhalle hingeschwunden ist, dann tritt das ein, was Turîya-erhaben, Undenken, Abschluss im Nichtmurmeln heisst. Dies alles geschieht um des Haṅsa willen. Darum wird das Manas laufen gelassen; er aber [der Verehrer] geniesst in zehn Millionen Murmelungen den Nachhall. Dies alles geschieht um des Haṅsa willen.

10. Der Nachhall aber kann zehnfach hervorgebracht werden: der erste klingt wie ciṇî, der zweite wie ciñciṇî, der dritte wie Glockenton, der vierte wie Muschelblasen, der fünfte wie Saitenspiel, der sechste wie Händeklatschen, der siebente wie Flötenton, der achte wie Trommelschall, der neunte wie Paukenschlag, der zehnte wie Donnerhall. Den neunten [und die vorhergehenden] meide man und übe den zehnten nur allein.


Beim ersten ciñciṇî nachmacht

Sein Leib, beim zweiten krümmt er ihn,

Beim dritten wird er sehr müde,

Beim vierten schüttelt er den Kopf,
[676]

Beim fünften fliesst ihm sein Gaumen,

Beim sechsten trinkt er Amṛitam,

Beim siebten wird Geheimwissen

Beim achten ihm der Rede Kunst,


Beim neunten Unsichtbarmachung

Und hellsehender Götterblick,

Beim zehnten wird er zum Brahman, –

Brahman und Âtman werden eins.


11. In ihm schwindet das Manas, und in dem Manas werden Wunsch und Zweifel, Gutes und Böses verbrannt. Er aber, ewig selig, kraftdurchdrungen, allgegenwärtig, leuchtet durch sein eignes Licht als rein, weise, ewig, fleckenlos und beruhigt.

Om! Das ist Veda-Erklärung, – Veda-Erklärung!

Fußnoten

1 Die Punaer Ausgabe liest: »die unoffenbare Gâyatrî«.


2 Über diese Zahl vgl. oben S. 656.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 672-677.
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