Kâlâgnirudra-Upanishad.

[734] Jedem, der nach Indien kommt, wird es auffallen, dass die Eingeborenen vielfach auf der Stirn ein mit roter oder andrer Farbe aufgetragenes Abzeichen tragen, bestehend in einem kleinen runden Fleck oder auch in mehreren vertikal oder horizontal gezogenen Strichen, welche oft die ganze Stirn überdecken und für unser Gefühl nicht gerade zur Erhöhung der Schönheit beitragen. Biese, tilaka oder puṇḍra genannten Zeichen sind (abgesehen von ihrer Verwendung als Schmuck der Frauen) Sektenzeichen, welche allmorgendlich nach dem Bade unter gewissen Zeremonien neu aufgetragen werden; durch sie legt der Inder offen vor aller Welt gleichsam ein schweigendes Bekenntnis seiner Religion ab, während in andern Ländern oft selbst die Geistlichen gern verbergen, was an ihren Stand erinnern könnte. – Ein solches Zeichen einer çivaitischen Sekte ist auch das unsere Upanishad beschäftigende Tripuṇḍram, nach der Beschreibung aus drei horizontalen Strichen bestehend, welche mit Asche an Stirn, Schädel, Schultern und Brust, im ganzen also fünfmal, unter Anwendung gewisser Sprüche aufgetragen werden, und es ist ein Beweis für die grosse Akkomodationsfähigkeit der Vedântalehre, wenn sie auch dieser Äusserlichkeit einen allegorischen Sinn unterzulegen weiss, indem sie in den drei Strichen die drei Opferfeuer, drei Laute der Silbe Om, drei Guṇa's, drei Welträume, drei Âtman's, drei Kräfte, drei Veden, drei Kelterungen und drei Formen des Gottes Çiva versinnbildlicht sieht und dem Träger des Tripuṇḍram, sofern er solches weiss, mancherlei religiöse Verdienste zuerkennt. – So wird hier bei einem gedankenlos geübten Brauche dem Gemüt eine Richtung auf das Höhere, Geistige und damit eine Anregung zur weitern Beschäftigung mit demselben gegeben.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 734-735.
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