Nṛisiṅhapûrvatâpanîya-Upanishad.

Erste Upanishad.

[754] Heilvolles lasst mit Ohren hören, Götter,

Heilvolles uns mit Augen sehn, ihr Heil'gen;

Mit festen Gliedern, preisend, lasst uns leibhaft

Das gottgesetzte Lebensziel erreichen! (Ṛigv. 1,89,8).


Heil schenke Indra uns, der hochberühmte,

Heil Pûshan uns, der alles Reichtums Herr ist,

Heil Târkshya uns, des Radkranz unversehrt bleibt,

Heil möge auch Bṛihaspati uns schenken! (Ṛigv. 1,89,6).


Om, Friede! Om, Friede! Om, Friede!


1,1.

[754] Prajâpati hat vermittelst der Nṛisiṅhaformel die Welt erschaffen.


Om!


»Wasser, fürwahr, war diese Welt, ein Gewoge, da entstand Prajâpati allein auf einem Lotosblatte. In dessen Geiste (manas) ging hervor ein Verlangen (kâma): ›Ich will diese Welt schaffen!‹ Darum, was ein Mann in seinem Geiste erstrebt, das spricht er aus durch die Rede, das vollbringt er durch die Tat. Darüber ist dieser Vers (Ṛigv. 10,129,4):


›Da ging aus ihm zuerst hervor Verlangen,

Des Geistes erster Samenguss war dieses. –

Des Daseins Wurzelung im Nichtsein fanden

Die Weisen forschend in des Herzens Triebe‹


Dem neigt sich zu, wonach er Verlangen trägt [wer solches weiss]! – Er (Prajâpati) übte Tapas; nachdem er Tapas geübt« (von Anfang bis hierher = Taitt. Âr. 1,23, Gesch. d. Phil. I, 196), so schaute er jenen, auf Nṛisiṅha bezüglichen, im Anushṭubh-Metrum abgefassten Mantrarâja (Spruchkönig); mit dem schuf er diese ganze Welt, was irgend vorhanden ist. Darum sagen sie: Anushṭubh ist diese ganze Welt, was irgend vorhanden ist. »Denn aus der Anushṭubh entstehen ja diese Wesen, durch die Anushṭubh, nachdem sie entstanden, leben sie, und in die Anushṭubh gehen sie, dahinscheidend, wieder ein« (nach Taitt. 3,1-6). Darüber ist dieser [Vers]: »Die Anushṭubh ist das Erste, und die Anushṭubh ist das Letzte; denn die Anushṭubh ist Rede; durch die Rede aber vergehen und durch die Rede entstehen [die Kreaturen]«; und es heisst ja: »die Anushṭubh ist das höchste unter den Versmassen« (Taitt. Samh. 5,4,12,1).


1,2.

Die vier Zeilen der Formel befassen die vier Weltgebiete mit allem ihrem Inhalte, sowie auch die vier Veden.


Die Erde mit ihren Ozeanen, ihren Bergen, ihren sieben Inseln, die wisse man als jenes Sanges [des Mantrarâja] erste Zeile.[755]

Den Luftraum, wie er von den Scharen der Yaksha's Gandharva's, Apsaras' bevölkert wird, den wisse man als des Sanges zweite Zeile.

Den Himmel, wie er von den Vasu's, den Rudra's, den Âditya's und allen Göttern bevölkert wird, den wisse man als des Sanges dritte Zeile.

Die lautere, »im höchsten Raume« (Taitt. 2,1) weilende Selbstwesenheit des Brahman, die wisse man als des Sanges vierte Zeile.

Und wer es weiss, geht zur Unsterblichkeit ein.

Die vier Veden, Ṛig-, Yajur-, Sâma- und Atharvaveda mit ihren A ga's (Gesch. d. Phil. I, 51) und Çâkhâ's (Gesch. d. Phil. I, 65), das sind die vier Zeilen.

Welches ist die Meditation [dieses Sanges], welches seine Gottheit, welches seine Glieder, welches deren Gottheiten, welches sein Metrum, welches sein Dichter1, so [frage man sich unablässig].


1,3.

Vorläufiges über die drei ersten der vier Gliedersprüche des Spruchkönigs.


Also sprach Prajâpati: Fürwahr, wer jene achtsilbige, schönheitgesalbte Zeile des Savitarspruches als ein Glied [einen A gamantra] jenes Sanges weiss, der wird dafür mit Schönheit gesalbt.

Alle Veden haben den Praṇava [den heiligen Laut Om] als Anfang; weiss er auch diesen Praṇava als jenes Sanges Glied [als A gamantra], so ersiegt er die drei Welten.

Einen Opferspruch gibt es, die aus vierundzwanzig Silben bestehende grosse Lakshmî (Glück); weiss er auch diesen als jenes Sanges Glied, so wird er reich an Leben, Ruhm, Ehre, Wissen und Herrschaft.

Darum soll man diesen Sang mitsamt seinen Gliedern [den A gamantra's] wissen; und wer ihn weiss, geht zur Unsterblichkeit ein.

Den Savitarspruch, den heiligen Laut und die Spruch-Lakshmî[756] gestatten die Lehrer keinem Weibe, keinem Çûdra. Wohl soll man den zweiunddreissigsilbigen Sang wissen, und wer ihn weiss, geht zur Unsterblichkeit ein, – aber wenn den Savitarspruch, den Lakshmî-Spruch, den Praṇava ein Weib weiss oder ein Çûdra, mit dem geht es nach dem Tode abwärts. Darum verkündige man ihnen dieselben nimmermehr! Wenn einer ihnen sie verkündigt, mit dem Lehrer geht es dafür nach dem Tode abwärts!


1,4.

Nach nochmaliger Identifikation der Formel mit den höchsten Gottheiten wird das erste Silbenpaar jeder ihrer vier Zeilen eingeschärft.


Also sprach Prajâpati:

Den Agni, fürwahr, die Veda's, dieses Weltall und alle Wesen, die Lebenshauche und Organe, die Tiere, die Nahrung, das Unsterbliche, den Allherrn, Selbstherrn, Weitherrn, – dieses wisse man als des Sanges erste Zeile.

Die als Ṛic, Yajus, Sâman und Atharvan gestaltete Sonne, »den goldnen Mann im Innern der Sonne« (Chând. 1,6,6), – dieses wisse man als des Sanges zweite Zeile.

Der über die Kräuter herrscht, der Sterneherr, der Soma, – diesen wisse man als des Sanges dritte Zeile.

»Das ist Brahmán, Çiva, Hari, Indra, Agni, der ewige, der höchste Herr« (Taitt. Âr. 10,11,12, oben S. 252), – diesen wisse man als des Sanges vierte Zeile.

Und wer es weiss, geht zur Unsterblichkeit ein.

Om! ugram wisse man als den Anfangssang der er sten, jvalan- als der zweiten, nṛisiṅ- als der dritten, mṛityu- als der vierten Zeile.

Und wer es weiss, geht zur Unsterblichkeit ein.

Darum soll man diesen Sang nicht überall kund machen; will man ihn mitteilen, so teile man ihn nur einem Sohne, wenn er lernbegierig, oder sonstigen Schüler mit.


1,5.

Das zweite Silbenpaar jeder der vier Zeilen, unter vorhergehender und nachfolgender Verherrlichung der Formel.
[757]

Den im Milchmeere ruhenden Mannlöwen, den von den Yogin's zu meditierenden »höchsten Schritt« (Ṛigv. 1,22,20) wisse man als den Sang.

Und wer es weiss, geht zur Unsterblichkeit ein.

vîram wisse man als den Endsang der Hälfte der ersten, -tam sa- als der zweiten, -ham bhî- als der dritten, -mṛityum als der vierten Zeile.

Und wer es weiss, geht zur Unsterblichkeit ein.

Darum wer diesen Sang erlernt durch irgendeines Lehrers Mund, der wird dadurch erlöst vom Samsâra, hilft zur Erlösung, trachtet nach Erlösung; wer ihn murmelt, gelangt in diesem seinem Leibe zur Anschauung Gottes. Darum ist dieses die Erlösungspforte im Weltalter Kali, keinem andern wird Erlösung zuteil. Darum soll man den Sang nebst seinen Gliedern wissen. Wer ihn weiss, der trachtet nach Erlösung.


1,6.

Das dritte Silbenpaar jeder der vier Zeilen, nebst Verherrlichungen.


Om!


»Als Recht, Wahrheit, höchstes Brahman,

Den« mannlöwegestaltigen, »schwarzbräunlichen Purusha,

Den keuschen, seltsamaugigen« (Taitt. Âr. 10,12, oben S. 252),

Den schwarz-und-roten Ça kara,


den Umâ-Gatten, den Herrn der Tiere, den Bogenträger, den unermesslich glänzenden [rufe ich an, ihn der da ist] »der Beherrscher aller Weisheit, der Herr aller Geschöpfe, Brahman als Oberherr, des Brahman Oberherr« (Taitt. Âr. 10,47), der nach dem Yajurveda zu preisen ist, – diesen wisse man als den Sang.

Und wer es weiss, geht zur Unsterblichkeit ein.

mahâ- wisse man als den Anfangssang der Schlusshälfte der ersten, -rvato- als der zweiten, -shaṇam als der dritten, namâ- als der vierten Zeile.

Und wer es weiss, geht zur Unsterblichkeit ein.

Darum ist dieser Sang das aus Sein, Denken und Wonne2[758] bestehende höchste Brahman; wer ihn als solchen weiss, der wird schon hier unsterblich. Darum soll man den Sang nebst seinen Gliedern wissen.

Und wer es weiss, geht zur Unsterblichkeit ein.


1,7.

Das vierte Silbenpaar jeder der vier Zeilen, nebst Verherrlichungen. Vorbereitendes über die Einflechtung des Om-Lautes.


»Mit diesem, fürwahr [d.h., an der ursprünglichen Stelle, mit dem tausendjährigen Opfer], haben die Allschöpfer diese ganze Welt erschaffen; weil sie alles erschufen, darum heissen sie Allschöpfer. Alles entsteht hinter denen her, und mit Brahman zu Lebensgemeinschaft, Weltgemeinschaft gelangen sie [die das tausendjährige Opfer vollbringen oder auch nur lehren]« (Taitt. Br. 3,12,9,8), – darum soll man diesen Sang nebst seinen Gliedern wissen.

Und wer es weiss, geht zur Unsterblichkeit ein.

vishṇum wisse man als den Endsang der ersten, -mukham als der zweiten, bhadram als der dritten, -myaham als der vierten Zeile.

Und wer es weiss, geht zur Unsterblichkeit ein.

Er selbst [Prajâpati] hat alles dieses offenbart. Auf den Âtman, auf das Brahman bezüglich wisse man die Verehrung durch jene Anushṭubh.

Und wer es weiss, geht zur Unsterblichkeit ein.

Und wenn einer, sei es Weib [nur die A gamantra's, nicht der Mantrarâja war oben 1,3 den Weibern verboten worden] oder Mann, hienieden zu bleiben gedenkt, dem verleiht der [Mantrarâja] Allherrschaft, und wo er auch immer sterben mag, da teilt ihm am Ende des Lebens der Gott [des Mantrarâja] das höchste, erlösende Brahman mit, durch welches, [schon vorher] unsterblich seiend, er dann auch zur Unsterblichkeit gelangt. Darum murmelt man dieses [Brahman in Gestalt des Lautes Om] zwischendurch in dem Sang; darum ist dieses Glied des Sanges Prajâpati, und darum wird zu diesem Gliede des Sanges, wird zu Prajâpati, wer solches weiss.

So lautet die grosse Upanishad. Und wer diese grosse[759] Upanishad weiss, der wird, wenn er die vorbereitende Verehrung vollzogen, auch zum grossen Vishṇu, – zum grossen Vishṇu.

Fußnoten

1 Als dieser ist wohl Prajâpati zu verstehen.


2 Sad-cid-ânanda; dies könnte (abgesehen von Taitt. 2,1, worüber oben S. 225) möglicherweise das erste Vorkommen der berühmten Formel sein.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 754-760.
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