Nṛisiṅha-pûrva-tâpanîya-Upanishad.

[751] Tapanam ist das Glühen, Schmerzleiden, asketische Sichentäussern, Nṛisiṅha-tapanam das asketische Sichhingeben an Nṛisiṅha, also Nṛisiṅha-tâpanîya-Upanishad »die Geheimlehre, betreffend die asketische Hingabe an Nṛisiṅha«. Dieselbe liegt vor in zwei Hälften, einer mehr exoterischen (Nṛisiṅhapûrvatâpanîyopanishad), welche der früheren, elementaren, und einer mehr esoterischen (Nṛisiṅhottaratâpanîyopanishad), welche der nachfolgenden, höheren Hingebung an Nṛisiṅha gewidmet ist; erstere besteht aus fünf Teilen, letztere aus einem Hauptteile; beide werden zusammen als sechs Upanishad's gerechnet.

Während die Upanishadlehre zur Erkenntnis des einen Brahman-Âtman gelangt war, hatte die monistische Tendenz, welche in aller Religion liegt, dahin geführt, dass auch das populäre religiöse Denken und Verehren, ähnlich wie es sich in Griechenland in der nachhomerischen Zeit um Ζεύς konzentrierte, in Indien zwei räumlich oder zeitlich verschiedene Spitzen gewann, die eine in dem aus dem vedischen Rudra und Agni hervorgegangenen Çiva (Mahâdeva, Îçvara), die andere in dem altvedischen Sonnengotte Vishṇu, welcher dann wieder in verschiedenen Formen, so namentlich als Nṛisiṅha, Râma, Kṛishṇa verehrt wurde (die eine spätere Zeit als verschiedene Avatâra's des einen Vishṇu zusammenfasste). Während die beiden letzteren aus der Vergottung menschlicher, historischer Personen hervorgegangen zu sein scheinen, ist Nṛisiṅha, der »Mannlöwe«, d.h. der »Götterlöwe« (nṛi »Mann, Held, Gott«; vgl. z.B. Ṛigv. 4,25,4: Indrâya nare naryâya, nṛitamâya nṛiṇâm), ursprünglich wohl nur »der gewaltige Götterheld«, zu welchem die Sonnenkraft personifiziert wurde. (Die Gestalt als halb Mensch halb Löwe dürfte weder mit assyrischen noch mit irgend welchen andern Bildwerken etwas zu tun haben, ist vielmehr wohl blosse Ausdeutung dieses Namens). In dieser Form als Nṛisiṅha (Narasiṅha, gelegentlich auch Nârasiṅha, vgl. nara und daneben nârâyaṇa) wurde Vishṇu von einer ziemlich exklusiven und daher, wie es scheint, wenig verbreiteten Sekte verehrt, deren symbolisches Buch die vorliegende Upanishad in ihren beiden Teilen ist; man kann dieselben füglich (mit Weber) als exoterischen und esoterischen Teil unterscheiden; beide huldigen dem Nṛisiṅha-Glauben und beide stehen dabei unter dem Einflusse der Upanishadlehre; der Unterschied lässt sich am kürzesten dahin bezeichnen, dass im ersten Teile die Upanishadlehre in den[752] Dienst des Nṛisiṅhaglaubens (philosophia ancillatur theologiae), im zweiten Teile der Nṛisiṅhaglaube in den Dienst der Upanishadlehre gestellt wird (theologia ancillatur philosophiae).

Der erste Teil (Nṛisiṅha-pûrva-tâpanîyâ), mit dem wir es zunächst zu tun haben, lehrt die Verehrung des Vishṇu als Nṛisiṅha durch eine heilige, im Anushṭubh-Metrum abgefasste Formel, wobei jedoch die Verehrung mehr der Formel als dem Gotte gilt, und diese eine ähnliche, und nur weit übertriebenere Rolle spielt als in andern Texten etwa die Vyâhṛiti's, die Sâvitrî (vgl. z.B. Maitr. 6,6-7), und als in so vielen Âtharvaṇa-Upanishad's der heilige Laut Om. Ähnlich wie in dem Om-Laute, fasst sich auch in der Nṛisiṅhaformel der ganze Veda zusammen; sie ist unter allen Mantra's der Mantrarâja der »König der Sprüche«, diente bei der Weltschöpfung (1,1), befasst alle Welten und alle Veden (1,2), ist identisch mit den vier Moren des Lautes Om (2,1); hat, wie Brahman, die Mâyâ als Schöpferkraft çakti) und den Âkâça als Samen (vîjam), d.h. als Ausgangspunkt der Schöpfung (»aus diesem Âtman ist der Âkâça entstanden, aus dem Âkâça der Wind« usw. Taitt. 2,1), und die unablässige Wiederholung und kunstgemässe Niederschreibung dieser (als Amulett getragenen) Formel sichert überschwänglichen Lohn. Wie ein Fürst nicht ohne Begleitung auftritt, so hat der Mantrarâja drei (1,3) oder nachher (4,1-2) vier A gamantra's »Nebensprüche« in seinem Geleite, an welche sich 4,3 als weitere Korona, entsprechend den 32 Silben des Spruchkönigs, noch ein Schwarm von 32 Sprüchen schliesst. Da es zum Verständnisse beider Nṛisiṅha-Werke erforderlich ist, den Mantrarâja immer vor Augen zu haben, so wollen wir ihn hier, nebst den vier A gamantra's, in Text und Übersetzung vorausschicken.


Der Mantrarâja.

Ugram vîram, mahâ-Vishṇum,

Jvalantam, sarvatomukham

Nṛisiṅham, bhîshaṇam, bhadram,

Mṛityu-mṛityum namâmy aham.


Der schrecklich, mächtig, gross, Vishṇu,

Flammend nach allen Seiten ist,

Als Mannlöwen, furchtbar und hold,

Als Todes Tod verehr' ich ihn.


Die vier A gamantra's.

I. Der Praṇava:

Om!


II. Die Sâvitrî:

Ghṛiṇiḥ, sûrya', Âdityaḥ,

die Glut, die Sonne, Âditya.


III. Das Lakshmîyajus (auch Yajurlakshmî).

der Schönheitsspruch:

[753] Om! bhûr lakshmîr, bhuvar lakshmîḥ,

suvaḥ kâlakarṇî, tan no

mahâlakshmîḥ pracodayât.


Om! Erde Glück und Luftraum Glück,

Und Himmel Glück, schwarzohriges, –

Drum fördre uns das grosse Glück!


IV. Die Nṛisiṅha-gâyatrî.

Om! Nṛisiṅhâya vidmahe,

vajranakhâya dhîmahi,

tan naḥ siṅhaḥ pracodayât.


Om! Lasst, Nṛisiṅha's, wohlbewusst

Des Blitzbekrallten denken uns,

Der Löwe fördre unsern Geist.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 751-754.
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