Fünfte Upanishad.

[770] Ist schon die Ersetzung des Denkens durch die Formel ein Zeichen der Decadence, so bedeutet es den letzten Schritt in dieser Richtung, wenn die Formel, wie hier gelehrt, kunstvoll niedergeschrieben und als zauberkräftiges Amulett an Hals, Arm oder Haarlocke getragen wird; – und die Wehmut darüber, die geistigste und sublimste aller Religionen in dieser Weise zu Grabe gehen zu sehen, wird nicht gelindert durch die Erwägung, dass wir auf andern Gebieten der religiösen und philosophischen Entwicklung ganz analoge Erscheinungen auftreten sehen. – In grellem Gegensatze zu diesen Symptomen des Marasmus stehen die masslosen Verheissungen, in denen die zweite Hälfte des Abschnittes schwelgt.


5,1.

Om!


Es geschah, dass die Götter zu Prajâpati sprachen: Erkläre uns, o Erhabener, den Kreis (das Diagramm), der da heisset der grosse Kreis; ihn, den als die allwunscherfüllende Erlösungspforte die Yogin's bezeichnen. – Und Prajâpati sprach:

Sechs Speichen, fürwahr, hat jener grosse Kreis Sudarçanam [der Diskus des Vishṇu; ursprünglich der »schön anzuschauende« Sonnendiskus]; darum hat auch er sechs Speichen, und hat sechs Flächen. Nämlich sechs sind der Jahreszeiten; den Jahreszeiten ist er entsprechend. In der Mitte ist die Nabe; denn in der Nabe sind die Speichen gegründet. Und umgeben ist dieses Ganze von der Mâyâ; nicht aber berührt die Mâyâ sein Selbst (âtman); darum ist es von aussen umgeben von der Mâyâ.

Weiter ist da ein Kreis mit acht Speichen und acht Flächen; denn acht Silben hat die Gâyatrî; der Gâyatrî ist er entsprechend. Darum ist er von aussen umgeben von der Mâyâ. Nämlich Feld für Feld tritt diese Mâyâ [als äussere Umgebung desselben] auf.

Weiter ist da ein Kreis mit zwölf Speichen und zwölf Flächen; denn zwölf Silben hat die Jagatî; der Jagatî ist er entsprechend. Von aussen ist er umgeben von der Mâyâ.

Weiter ist da ein Kreis mit sechzehn Speichen und sechzehn Flächen; denn »aus sechzehn Teilen besteht der Purusha«[771] (Chând. 6,7,1, aber in anderm Sinne), Purusha aber ist diese ganze Welt; und dem Purusha ist er entsprechend. Von aussen ist er umgeben von der Mâyâ.

Weiter ist da ein Kreis mit zweiunddreissig Speichen und zweiunddreissig Flächen; denn zweiunddreissig Silben hat die Anushṭubh; der Anushṭubh ist er entsprechend. Von aussen ist er umgeben von der Mâyâ.

Durch die Speichen wird dieser Sudarçana-Kreis gebildet; die Speichen, fürwahr, sind die Veda's; in Flächen läuft er rings herum; die Flächen, fürwahr, sind die Lieder.


5,2.

Dieser Kreis also ist der grosse Kreis Sudarçanam. In seiner Mitte, in der Nabe, steht das Rettungszeichen (târakam); die Silbe, welche den Narasiṅha bedeutet [nämlich Om], diese eine Silbe ist es.

Auf den sechs Flächen steht das sechssilbige Sudarçanam [»ein sechssilbiger Sudarçana-mantra«, Schol.; welcher, wird nicht gesagt; vielleicht: om namaç cakrâya].

Auf den acht Flächen steht das achtsilbige Nârâyaṇam [wohl: om namo Nârâyaṇâya].

Auf den zwölf Flächen steht das zwölfsilbige Vâsudevam [vielleicht: om namo bhagavate Vâsudevâya].

Auf den sechzehn Flächen stehen die Erstlinge der Buchstaben [nach dem Scholiasten »die Anfangszeichen eines Buchstabenspruches«, mâtṛikâ-mantrasya, d.h. wohl eines Spruches, dessen Zeilen oder Worte mit den vierzehn Vokalen a â i î u û ri rî li lî e ai o au anfangen] nebst den Punkten [Anusvâra und Visarga] als die sechzehn Teile.

Auf den zweiunddreissig Flächen steht der zweiunddreissigsilbige, auf Narasiṅha bezügliche, in Anushṭubh verfasste Spruchkönigsang.

Das ist der grosse Kreis, welcher die allwunscherfüllende Erlösungspforte ist und aus den Ṛic's, den Yajus', den Sâman's, dem Brahman, der Unsterblichkeit besteht.

Im Osten von ihm thronen die Vasu's, im Süden die Rudra's, im Westen die Âditya's, im Norden die Viçve devâḥ,[772] in der Nabe Brahmán, Vishṇu und Maheçvara, an seinen Seiten Sonne und Mond.1 Darüber ist der Vers (Ṛigv. 1,164,39):


Des Hymnus Laut im höchsten Himmelsraume,

Auf dem gestützt die Götter alle thronen,

Wenn man den nicht kennt, wozu hilft der Hymnus dann? –

Wir, die ihn kennen, haben uns versammelt hier.


Weiss einer diesen grossen Kreis, sei er auch ein Kind oder ein Jüngling, der ist gross, der ist Lehrer, der ist aller Mantra's (vedischer Lieder und Sprüche) Unterweiser. Durch die Anushṭubh [indem man sie weiss und hersagt] opfert man, durch die Anushṭubh bringt man Lobpreis.[773]

Dieses [Diagramm], welches die bösen Geister vernichtet und vor dem Tode errettet, soll man sich, nachdem man es vom Lehrer erhalten hat, an den Hals, oder den Arm, oder an die Haarlocke binden.

Dieser Spruch hilft soviel, als hätte man die Erde mit ihren sieben Inseln als Dakshiṇâ (Opferlohn) gegeben. – Darum wenn einer, an ihn glaubend, was es auch immer sei, spendet, das gilt als [genügende] Dakshiṇâ.


5,3.

Es begab sich, dass die Götter zu Prajâpati sprachen: Erkläre uns, o Erhabener, den Lohn dieses in Anushṭubh-Mass verfassten, an Nṛisiṅha gerichteten Spruchkönigs. – Und Prajâpati sprach:

Wer diesen an Nṛisiṅha gerichteten, in Anushṭubh-Mass verfassten Spruchkönig allezeit studiert, der wird durch Agni geläutert2, durch Vâyu geläutert, durch Âditya geläutert, durch Soma geläutert, durch die Wahrheit geläutert, durch die Welträume geläutert, durch Brahman geläutert, durch Vishṇu geläutert, durch Rudra geläutert, durch die Veden geläutert, durch das All geläutert, – durch das All geläutert.


5,4.

Wer diesen an Nṛisiṅha gerichteten, in Anushṭubh-Mass verfassten Spruchkönig allezeit studiert, der kommt hinaus über das Übel, über den Tod, über Embryo-Mord, Brahmanen-Mord, Männer-Mord, allen Mord, über den Samsâra, über das All, – über das All.


5,5.

Wer diesen an Nṛisiṅha gerichteten, in Anushṭubh-Mass verfassten Spruchkönig allezeit studiert, der bannt den Agni fest, bannt den Vâyu fest, bannt den Âditya fest, bannt den[774] Soma fest, bannt das Wasser fest, bannt alle Götter fest, bannt alle bösen Geister fest, bannt das Gift fest, – bannt das Gift fest.


5,6.

Wer diesen an Nṛisiṅha gerichteten, in Anushṭubh-Mass verfassten Spruchkönig allezeit studiert, der gewinnt die Welt bhûr, gewinnt die Welt bhuvar, gewinnt die Welt svar, gewinnt die Welt mahar, gewinnt die Welt jana, gewinnt die Welt tapas, gewinnt die Welt satyam, gewinnt die ganze Welt, – gewinnt die ganze Welt.


5,7.

Wer diesen an Nṛisiṅha gerichteten, in Anushṭubh-Mass verfassten Spruchkönig allezeit studiert, der zaubert die Menschen herbei, zaubert die Götter herbei, zaubert die Schlangen herbei, zaubert, die bösen Geister herbei, zaubert die Genien (yaksha) herbei, zaubert alle herbei, – zaubert alle herbei.


5,8.

Wer diesen an Nṛisiṅha gerichteten, in Anushṭubh-Mass verfassten Spruchkönig allezeit studiert, der bringt damit den Agnishṭoma3 dar, den Ukthya dar, den Shoḍaçin dar, den Vâjapeya dar, den Atirâtra dar, den Aptoryâma dar, bringt damit alle Opfer dar, – alle Opfer dar.


5,9.

Wer diesen an Nṛisiṅha gerichteten, in Anushṭubh-Mass verfassten Spruchkönig allezeit studiert, der studiert damit4 die Ṛic's, die Yajus', die Sâman's, den Atharvan, den A giras, die Çâkhâ's, die Purâṇa's, die Kalpa's (rituellen Sûtra's), die Singverse, die Mannpreisverse und den Praṇava, wer aber den Praṇava studiert, der studiert damit alles, – der studiert damit alles.


5,10.

[775] Hundert Nichteingeführte sind soviel wie ein Eingeführter [d.h. ein Brahmacârin]; hundert Eingeführte sind soviel wie ein Hausvater (Gṛihastha); hundert Hausväter sind soviel wie ein Waldeinsiedler (Vânaprastha); hundert Waldeinsiedler sind soviel wie ein Asket (Yati d.h. Sannyâsin); ganze hundert Asketen sind soviel wie einer, der den Rudrajapa [wohl das Çatarudriyam oder die aus ihm entlehnte Nîlarudropanishad] murmelt; hundert, die den Rudrajapa murmeln, sind soviel wie einer, der das Atharvaçiras und die Atharvaçikhâ studiert; und hundert, die das Atharvaçiras und die Atharvaçikhâ, studieren, sind soviel wie einer, der den Mantrarâja murmelt.

Dieses, fürwahr, ist die höchste Stätte des, der den Mantrarâja studiert, wo keine Sonne glüht, kein Wind weht, kein Mond scheint, keine Sterne leuchten, kein Feuer brennt, kein Tod eindringt, kein Schmerz aufkommt, das Wahrwonnige, Höchstwonnige, Ewige, Ruhige, Stetsselige, von allem von Brahmán an Verherrlichte, von den Yogin's zu Überdenkende, wohin eingehend die Yogin's nicht wieder zurückkehren.

Darüber ist der Vers:


Und dieses Vishṇu höchsten Schritt

Schaun allezeit die Opferherrn

Als Auge, das am Himmel steht.


Und dieses Vishṇu höchsten Schritt

Bewundernd, zünden Priester hier

Wachsam das Opferfeuer an

(Ṛigv. 1,22,20-21).


Und dieses wird dem Begierdelosen zuteil, – dieses wird dem Begierdelosen zuteil, der solches weiss. So lautet die grosse Upanishad.

Fußnoten

1 Hiernach würde das ganze Mahâcakra-Diagramm etwa folgendes Aussehen haben:


Fünfte Upanishad

Bemerkenswert ist, dass die altvedischen Götter ausserhalb des Kreises, im Bereiche der Mâyâ liegen.


2 Dieselbe oder eine ähnliche Formel findet sich häufig in späteren Upanishad's. Vgl. Ramottaratâp. Anhang, p. 381. Kaivalya, Schluss, p. 464. Atharvaçiras 7. Mahâ 4, p. 96 (Jacob). Mudgala 4 (Telugudruck p. 529,14).


3 Über diese Formen des eintägigen Somaopfers vgl. z.B. Ait. Br. 3,39 fg. (oben S. 9).


4 Zur folgenden Aufzählung vgl. Taitt, Âr. 2,10 (p. 240 fg.).

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 770-776.
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