Vierte Upanishad.

[766] Wie ein König nicht ohne Gefolge auftritt, so wird auch der Spruchkönig (mantrarâja), d.h. die Nṛisiṅhaformel, begleitet von vier Nebensprüchen, welche hier (nachdem die ersten drei schon 1,3 vorgreifend erwähnt worden waren) ihrem Wortlaute nach vorgeführt werden. Bemerkenswert ist dabei die Unbefangenheit, mit welcher, zur Erklärung des Om-Lautes, die Mâṇḍûkya-Upanishad geplündert wird. Auf die vier Nebensprüche folgt § 3 noch ein Schwarm von zweiunddreissig Sprüchlein, welche ganz nach dem Schema von Atharvaçiras 2 gedichtet sind.


4,1.

[766] Om!


Und die Götter sprachen zu Prajâpati: Lehre uns, o Ehrwürdiger, von dem in Anushṭubh verfassten, auf Nṛisiṅha bezüglichen Mantrarâja die A gamantra's (Geleitsprüche). – Und Prajâpati sprach:

Den Praṇava, die Sâvitrî, die Yajurlakshmî und die Nṛisiṅhagâyatrî, – diese soll man wissen als die A ga's. Und wer es weiss, geht zur Unsterblichkeit ein.


Erster A ga: der Praṇava.


»Om! Diese Silbe ist die ganze Welt. Ihre Erläuterung ist wie folgt.

Das Vergangene, das Gegenwärtige und das Zukünftige, dieses alles ist der Laut Om. Und was ausserdem noch über die drei Zeiten hinausliegend ist, auch das ist der Laut Om.

Denn dies alles ist Brahman, Brahman aber ist dieser Âtman (Seele), und dieser Âtman ist vierfach.

Der im Stande des Wachens befindliche, nach aussen erkennende, siebengliederige, neunzehnmündige, das Grobe geniessende Vaiçvânara ist sein erstes Viertel.

Der im Stande des Träumens befindliche, nach innen erkennende, siebengliederige, neunzehnmündige, das Auserlesene geniessende Taijasa ist sein zweites Viertel.

Der Zustand, wo er eingeschlafen keine Begierde mehr empfindet und kein Traumbild schaut, ist der Tiefschlaf. Der im Stande des Tiefschlafes befindliche, einsgewordene, durch und durch ganz aus Erkenntnis bestehende, aus Wonne bestehende, die Wonne geniessende, das Bewusstsein als Mund habende Prâjña ist sein drittes Viertel. – Er ist der Herr des Alls, er ist der Allwissende, er ist der innere Lenker, er ist die Wiege des Weltalls, denn er ist Schöpfung und Vergang der Wesen.

Nicht nach aussen erkennend und nicht nach innen erkennend, noch nach beiden Seiten erkennend, weder bewusst noch unbewusst, auch nicht durch und durch aus Erkenntnis bestehend, – unsichtbar, unbetastbar, ungreifbar, uncharakterrisierbar,[767] undenkbar, unbezeichenbar, nur in der Gewissheit des eigenen Selbstes gegründet, die ganze Weltausbreitung auslöschend, selig, zweitlos, – das ist das vierte Viertel, das soll man als den Âtman erkennen.« (Diese ganze Betrachtung über den Praṇava ist fast völlig unverändert aus Mâṇḍûkya-Up. 1-7 entlehnt).


4,2.

Zweiter A ga: die Sâvitrî.


Ferner die Sâvitrî, nämlich die Gâyatrî, welche durch den Opferspruch [ghṛiṇiḥ sûrya' âdityaḥ Taitt. Âr. 10,15] gebildet wird, von der ist diese ganze Welt durchdrungen; ghṛiṇiḥ das sind zwei Silben, sûria sind drei und âditya sind drei; das ist jene achtsilbige, mit Schönheit gesalbte Zeile des Savitarspruches; und wer sie also weiss, der wird dafür mit Schönheit gesalbt. Dieses besagt der Vers (Ṛigv. 1,164,39):


Des Hymnus Laut im höchsten Himmelsraume,

Auf dem gestützt die Götter alle thronen,

Wenn man den nicht kennt, wozu hilft der Hymnus dann? –

Wir, die ihn kennen, haben uns versammelt hier.


Fürwahr, der braucht weiter keine Ṛic, kein Yajus, kein Sâman, wer die Sâvitrî weiss.


Dritter A ga: das Lakshmî-yajus oder die Yajur-lakshmî.


Om! bhûr lakshmâr, bhuvar lakshmîḥ,

suvaḥ kâlakarṇî, tan no

mahâlakshmîḥ pracodayât!


(Om, Erde Glück, und Luftraum Glück,

Und Himmel Glück, schwarzohriges1, –

Drum fördre uns das grosse Glück!)


Dieses ist der Opferspruch Mahâlakshmî, eine vierundzwanzigsilbige Gâyatrî. Fürwahr, die Gâyatrî ist alles dieses, was[768] irgend vorhanden ist. Darum wer diese in einen Opferspruch gefasste Mahâlakshmî weiss, der erlangt grosses Heil.


Vierter A ga: die Nṛisiṅhagâyatrî.


Om! Lasst Nṛisiṅha's, wohlbewusst,

Des Blitzbekrallten denken uns,

Der Löwe fördre unsern Geist

(nach Taitt. Âr. 10,1, v. 31).


Fürwahr, diese Nṛisiṅha-Gâyatrî ist die Grundwesenheit der Götter und der Veden. Wer solches weiss, der ist grundwesenhaft.


4,3.

Und die Götter sprachen zu Prajâpati: Durch welche Sprüche muss der Gott gepriesen werden, damit er befriedigt wird und sein Wesen zu schauen gibt? das sage uns, o Erhabener!

Da sprach Prajâpati2:

Om! ihm, der der erhabene Gott Nṛisiṅha und der auch Brahmán ist, ihm sei Ehre, Ehre!

Om! ihm, der der erhabene Gott Nṛisiṅha und der auch Vishṇu ist, ihm sei Ehre, Ehre!

Om! ihm, der der erhabene Gott Nṛisiṅha und der auch Maheçvara ist, ihm sei Ehre, Ehre!

Om! ihm, der der erhabene Gott Nṛisiṅha und der auch Purusha ist, ihm sei Ehre, Ehre!

Om! ihm, der der erhabene Gott Nṛisiṅha und der auch Îçvara ist, ihm sei Ehre, Ehre!

Om! ihm, der der erhabene Gott Nṛisiṅha und der auch Sarasvatî ist, ihm sei Ehre, Ehre!

Om! ihm, der der erhabene Gott Nṛisiṅha und der auch Çrî ist, ihm sei Ehre, Ehre!

Om! ihm, der der erhabene Gott Nṛisiṅha und der auch Gaurî ist, ihm sei Ehre, Ehre!

Om! ihm, der der erhabene Gott Nṛisiṅha und der auch Prakṛiti ist, ihm sei Ehre, Ehre!

Om! ihm, der der erhabene Gott Nṛisiṅha und der auch das Nichtwissen3 ist, ihm sei Ehre, Ehre!

Om! ihm, der der erhabene Gott Nṛisiṅha und der auch der Laut Om ist, ihm sei Ehre, Ehre![769]

Om! ihm, der der erhabene Gott Nṛisiṅha und der auch die Veden mit A ga's und Çâkhâ's ist, ihm sei Ehre, Ehre!

Om! ihm, der der erhabene Gott Nṛisiṅha und der auch die fünf Feuer ist, ihm sei Ehre, Ehre

Om! ihm, der der erhabene Gott Nṛisiṅha und der auch die sieben Vyâhṛiti's ist, ihm sei Ehre, Ehre!

Om! ihm, der der erhabene Gott Nṛisiṅha und der auch die acht Welthüter ist, ihm sei Ehre, Ehre!«

Om! ihm, der der erhabene Gott Nṛisiṅha und der auch die acht Vasu's ist, ihm sei Ehre, Ehre!

Om! ihm, der der erhabene Gott Nṛisiṅha und der auch die Rudra's ist, ihm sei Ehre, Ehre!

Om! ihm, der der erhabene Gott Nṛisiṅha und der auch die Âditya's ist, ihm sei Ehre, Ehre!

Om! ihm, der der erhabene Gott Nṛisiṅha und der auch die acht Greifer (Bṛih. 3,2) ist, ihm sei Ehre, Ehre!

Om! ihm, der der erhabene Gott Nṛisiṅha und der auch die fünf Elemente ist, ihm sei Ehre, Ehre!

Om! ihm, der der erhabene Gott Nṛisiṅha und der auch die Dreiwelt ist, ihm sei Ehre, Ehre!

Om! ihm, der der erhabene Gott Nṛisiṅha und der auch die Zeit ist, ihm sei Ehre, Ehre!

Om! ihm, der der erhabene Gott Nṛisiṅha und der auch Manu ist, ihm sei Ehre, Ehre!

Om! ihm, der der erhabene Gott Nṛisiṅha und der auch der Tod ist, ihm sei Ehre, Ehre!

Om! ihm, der der erhabene Gott Nṛisiṅha und der auch Yama ist, ihm sei Ehre, Ehre!

Om! ihm, der der erhabene Gott Nṛisiṅha und der auch der Todesgott ist, ihm sei Ehre, Ehre!

Om! ihm, der der erhabene Gott Nṛisiṅha und der auch der Prâṇa ist, ihm sei Ehre, Ehre!

Om! ihm, der der erhabene Gott Nṛisiṅha und der auch Sûrya ist, ihm sei Ehre, Ehre!

Om! ihm, der der erhabene Gott Nṛisiṅha und der auch Soma ist, ihm sei Ehre, Ehre!

Om! ihm, der der erhabene Gott Nṛisiṅha und der auch der Jîva (Seele) ist, ihm sei Ehre, Ehre!

Om! ihm, der der erhabene Gott Nṛisiṅha und der auch die Virâj ist, ihm sei Ehre, Ehre!

Om! ihm, der der erhabene Gott Nṛisiṅha und der auch das Weltal ist, ihm sei Ehre, Ehre!

Und [weiter] sprach Prajâpati zu ihnen: Mit diesen zweiunddreissig Sprüchen sollt ihr immerfort den Gott preisen, damit er befriedigt wird und sein Wesen zu schauen gibt.

Darum, wer mit diesen Sprüchen immerfort den Gott preist, der bekommt den Gott zu schauen und geht zur Unsterblichkeit ein, – und [so auch] geht zur Unsterblichkeit ein, wer solches weiss. So lautet die grosse Upanishad.

Fußnoten

1 Schwarze Ohren bedeuten sonst in der Regel Unglück. Wir haben also hier, als Gegenstück zum Euphemismus, einen Dysphemismus, welcher psychologisch nicht so leicht zu verstehen ist wie jener. (Analog ist es, wenn man als Ausdruck der Zärtlichkeit Schimpfworte gebraucht).


2 Die ganze folgende Formel ist gebildet nach Atharvaçiras 2, oben S. 718.


3 Den fünf ersten sind die fünf folgenden als Gattinnen beigegeben, wie Weber treffend bemerkt, mit dem wir daher auch in avidyâ auflösen; der Scholiast freilich liest vidyâ.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 766-770.
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