Neunter Khaṇḍa.

[797] Der Âtman allein ist real, alles andere, auch der Jîva (die individuelle Seele) und der Îçvara (der persönliche Gott) beruhen nur auf der Mâyâ. Nach dem Wesen der Mâyâ aber ist nicht zu fragen, da sie keine Realität hat. Der Âtman hingegen kann zwar nicht auf dem Wege der Erkenntnis erfasst werden, die sich ihr Objekt als ein anderes gegenüberstellt, wohl aber durch unmittelbare Innewerdung (anubhava), sofern er unser eigenes Selbst ist. Dieses innere Schauen findet seinen Ausdruck in der Silbe Om, welche der Âtman selbst ist.


Es begab sich, dass die Götter zu Prajâpati sprachen: unterweise uns, o Erhabener, über jenen Âtman als den Om-Laut. – So sei es, sprach er.

Zuschauer und Einwilliger ist jener Âtman, der Löwe; aus Denken bestehend und unwandelbar ist er der Wahrnehmer allerwärts. Denn es ist kein Beweis möglich für das Vorhandensein einer Zweiheit, und nur der zweitlose Âtman ist beweisbar. Nur durch die Mâyâ ist gleichsam ein anderes; aber der Âtman allein ist das Höchste, und er ist auch alles Vorhandene; denn dies ergibt sich aus den Zuständen des Tiefschlafes (prâjñaiḥ). Die ganze Welt aber ist Nichtwissen, ist jene Mâyâ. Der Âtman aber ist das höchste Selbst und durch sich selbst leuchtend. Er erkennt und erkennt doch nicht; denn sein Erkennen ist objektlos, ist Innewerdung (anubhûti).

Aber auch die dunkelgestaltige Mâyâ wird erkannt durch Innewerdung [des Âtman als des allein Realen] als jenes[797] Starre, Wahnartige, unendlich Leere; dies ist ihre Gestalt. Aber obgleich sie bald dies, bald das zur Erscheinung bringt und beständig vergehend ist, so wird sie doch von den Toren angesehen als der Âtman. Aber sie lässt ihn nur erscheinen als seiend und wieder nichtseiend [vergehend], indem sie ihn aufzeigt und wieder nicht aufzeigt und zwar im Stande der Freiheit [als Gott] und der Unfreiheit [als Seele]. Nämlich wie der in sich gleiche Kern des Feigenbaumes das Vermögen zu vielen Feigenbäumen, so trägt auch sie, obwohl sie eine ist, [das Vermögen der Vielheit in sich]. Denn gleichwie der in sich gleiche Feigenbaumkern, obwohl er einer ist, viele über ihn hinausreichende Feigenbäume, welche alle ihn als Kern haben, hervorbringt und in jedem von ihnen voll und ganz besteht, so bringt auch die Mâyâ viele, über sie hinausreichende, voll und ganz bestehende Standorte [der Seele] zur Erscheinung und schafft so scheinbar den Jîva und den Îçvara (die individuelle und die göttliche Seele), und bleibt doch dabei nur Täuschung und Nichtwissen. Sie ist vielfältig aber fest gefügt und reich an Sprossen; und wie sie selbst von ihren Guṇa's [Sattvam, Rajas, Tamas] nicht verschieden ist, so ist sie auch in ihren Sprossen von den Guṇa's nicht verschieden, sondern allenthalben als Brahmán, Vishṇu und Çiva von Geist durchleuchtet. Nur aus jenem Âtman stammt ihre Dreifachheit und ihr Ursprungsein allerwärts. Ferner ist er als der ichbewusste Jîva, als der regierende Îçvara und als der allichbewusste Hiraṇyagarbha dreigestaltig. Denn dieser letztere, wie der Îçvara offenbarer Geistigkeit und allgegenwärtig, ist der Îçvara als Beseeler des Tuns und Erkennens, alles und aus allem bestehend. Aber auch die Jîva's sind alle aus allem bestehend, nur dass sie in allen ihren Zuständen beschränkt sind.

Jener Âtman also, nachdem er die Elemente, die Organe, die Virâj, die Naturgötter und die Hüllen (Taitt. 2) erschaffen und in dieselben eingegangen, bleibt unverwirrt und in Ruhe und erscheint verwirrt gleichsam und in Tätigkeit nur durch die Mâyâ.

Darum wird dieser zweitlose Âtman als nur aus Sein bestehend, ewig, rein, weise, real, erlöst, lauter, alldurchdringend, zweitlos, Selbstwonne, höchster, durch und durch Inneres erkannt[798] durch diese Beweise: nur aus Seiendheit bestehend ist die ganze Welt, das Seiende aber ist das von jeher vorhandene Brahman; denn nichts anderes wird hienieden durch Innewerdung (anubhava) erkannt; aber kein Nichtwissen ist möglich in dem durch Innewerdung erkannten Âtman, dem selbstleuchtenden, Allzuschauer seienden, unwandelbaren, zweitlosen. Schaut schon hienieden das reine Sein, und dass alles andere nichtseiend ist, denn es ist die Wahrheit! Also ist das von jeher, als Ursprungloser, in sich selbst Ruhende, ganz aus Wonne und Denken Bestehende bewiesen [durch Innewerdung], da es doch unbeweisbar ist [durch Reflexion].

Dieses ist Vishṇu, Îçâna, Brahmán, ist auch alles andere und allgegenwärtig. Darum ist alles der reine, nicht äusserlich geartete, weise, lustgeartete Âtman. Denn diese Welt ist nicht âtmanlos und doch auch nicht der Âtman; denn der war schon vor ihr vorhanden. Aber dieses Weltall ist überhaupt niemals, sondern nur der in seiner eigenen Majestät ruhende, unbedingte, einzige, Zuschauer seiende, selbstleuchtende Âtman.

– Aber entspringt dieses beharrende [Weltganze] aus dem Âtman?

Ohne Zweifel! Denn er ist es, der dieses alles, wie es ist, hervorbringt, der im Sehenden Sehende, der Zuschauer, wandellos, vollkommen, nichtwissenlos, für die nicht äussere, sondern innere Betrachtung sehr deutlich, erhaben über die Finsternis. So sprecht, seht Ihr ihn wohl jetzt?

– Wir sehen ihn, obwohl er unfassbar klein ist.

Er ist nicht klein, aber er ist der Zuschauer [das Subjekt des Erkennens], ohne Unterschiede, der nichtandere; ohne Lust und Schmerz und ohne Zweiheit ist er der höchste Âtman, allwissend, unendlich, unteilbar, zweitlos, allerwärts Bewusstsein [der Dinge] vermöge der Mâyâ, aber doch nicht Unbewusstsein, weil selbstleuchtend. – Ihr selbst seid er! Wird er nun wohl gesehen von [sich selbst als] dem zweitlosen? Gewiss nicht! Denn er wäre ein zweites, wäre nicht Ihr selbst!

– Erkläre uns das, o Erhabener! so sprachen die Götter.

Ihr selbst seid er, sage ich. Würde er von Euch geschaut, so würdet Ihr nicht den Âtman [da er das Selbst,[799] nicht ein anderes ist] erkennen. Denn der Âtman ist ohne Weltanhaftung. Darum seid Ihr selbst er, und das Licht, mit dem Ihr leuchtet, ist Euer eigenes. Ja, diese Welt, da sie ganz aus Sein und Bewusstsein besteht, ist nur Ihr selbst.

– Doch nicht! sprachen sie; denn dann wären wir ja ohne Weltanhaftung, so sprachen sie.

Wie könnte man ihn sonst schauen? sprach er.

– Wir wissen es nicht, sprachen sie.

Darum also seid Ihr selbst er, und das Licht, mit dem Ihr leuchtet, ist Euer eigenes. Als solche seid Ihr nicht einmal aus Sein und Bewusstsein bestehend. Denn diese zwei sind nur [das Brahman], wie es vor Zeiten herrlich aufleuchtete, [in Wahrheit aber] ist es unfassbar, zweitlos. – So sagt nun: kennt Ihr ihn [den Âtman]?

– Wir erkennen, dass er höher als das Gewusste und Ungewusste ist, sprachen sie.

Und er sprach: fürwahr, dieses Zweitlose, von dem Grosssein (bṛihat) Brahman Benannte ist ewig, rein, weise, erlöst wahrhaft, fein, vollständig, zweitlos, nur aus Sein, Wonne und Denken bestehend, ist der Âtman selbst und unfassbar für jeden.

Darum sollt ihr den Âtman, obwohl ihr ihn nicht schaut, durch das Wort Om schauen. Dieses ist die Wahrheit, ist der Âtman, ist das Brahman, denn das Brahman ist der Âtman. Ja, daran ist nicht zu zweifeln: Om ist die Realität; das ist es, was die Weisen schauen. Ja, dieses tonlose, gefühllose, gestaltlose, geschmacklose, geruchlose, unsprechbare, unnehmbare, ungehbare, unentleerbare, unzeugbare, ohne Manas, ohne Buddhi, ohne Aha kâra, ohne Cittam (oben S. 623, Anm)., ohne Prâṇa, Apâna, Vyâna, Udâna, Samâna, ohne Sinnesorgane, Objekte und Werkzeuge, ohne Merkmal, ohne Anhaftung, ohne Eigenschaften, ohne Veränderung, ohne Bezeichnung, ohne Sattvam, Rajas und Tamas, das ungeborne, Mâyâlose, das ist es, was die Upanishad's lehren als das herrlich leuchtende, mit eins erglänzende, vor dieser ganzen Welt herrlich aufleuchtende, zweitlose, – seht, ich bin er, und er ist ich!

Und weiter sprach er: seht Ihr ihn jetzt oder seht Ihr ihn nicht?[800]

– Wir sehen, sprachen sie, dass er höher als das Gewusste und Ungewusste ist. – Aber wo bleibt jene [Mâyâ], und wie steht es mit ihr? fragten sie weiter.

Wozu diese Frage?

– Zu gar nichts, sprachen sie. [Wir sehen jetzt ein, dass die Mâyâ nichts ist.]

Ihr seid ein Wunder [da Ihr den Âtman erkennt, Kâṭh. 2,7], und doch auch wieder nicht [denn jeder ist, wie Ihr, der Âtman], so sprach er. So bejaht ihn denn mit Om und sprecht ihn aus!

– Wir erkennen ihn und erkennen ihn doch nicht, so sprachen sie. Aber auch so ist es nicht [auch über diese Gegensätze des Erkanntseins und Unerkanntseins ist der Âtman erhaben], fügten sie hinzu.

So sprecht ihn doch nur aus, denn von selbst [auch ohne ihn zu erkennen] ist er bekannt, sprach er.

– Wir schauen ihn, o Erhabener, und schauen ihn doch nicht. Wir können nicht aussprechen, wie es damit ist. Verehrung sei Dir! sei uns gnädig! so sprachen sie.

Fürchtet Euch nicht, sprach er, fragt was Ihr wollt.

– Wie steht es mit jener Bejahung [durch den Laut Om]?

Sie ist der Âtman selbst, sprach er.

– Da sprachen sie: Verehrung bringen wir Dir alle, wie wir da sind!

So geschah es, dass Prajâpati die Götter belehrte, – belehrte.

Darüber ist dieser Vers:


Einwob'nes durch den Einwob'nen,

Zuzweit dann den Bejaher wisst,

Bejahung dann und Zweitloses

Fassend, geht zum Beschauer ein!

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 797-801.
Lizenz:

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