Sechster Khaṇḍa.

[790] Es gibt zwei Stufen, eine niedere, auf der die Zweiheit – das Böse – noch nicht völlig überwunden ist, sondern innerhalb des Âtman bestehen bleibt, und eine höhere, auf welcher der Âtman, nach Auslöschung aller Zweiheit, rein negativ, als die Leere (çûnyam) besteht. Letztere Stufe betätigt sich praktisch in der Loslösung von der Welt und allen ihren Interessen. – Der ganze Abschnitt unterbricht die Belehrung der Götter durch Prajâpati und nimmt auch dem Gedanken nach eine isolierte Stellung ein.


Die Götter begehrten, den Âtman zu erkennen. Da wollte das dämonische Böse dieselben verschlingen. Da erwogen sie: Wohlan! wir wollen jenes dämonische Böse verschlingen! – Da geschah es, dass sie jenen an des Om-Lauts Spitze erglänzenden Âtman, der [eigentlich nur] das Vierte des Vierten ist1,[790] als ugra und nicht-ugra, vîra und nicht-vîra, mahân und nicht-mahân, vishṇu und nicht-vishṇu, jvalan und nicht-jvalan, sarvatomukha und nicht-sarvatomukha, nṛisiṅha und nicht-nṛisiṅha, bhîshaṇa und nicht-bhîshaṇa, bhadra und nicht-bhadra, mṛityumṛityu und nicht-mṛityumṛityu, namâmi und nicht-namâmî, aham und nicht-aham durch die Nṛisiṅha-Anushṭubh erkannten. Da wandelte sich ihnen jenes dämonische Böse in das aus Sein, Wonne und Denken bestehende Licht. Darum mag derjenige2, dessen Sünde noch nicht ausgetilgt ist, jenen an des Om-Lauts Spitze erglänzenden Âtman, der das Vierte des Vierten ist, durch die Nṛisiṅha-Anushṭubh in solcher Weise erkennen. Ihm wandelt sich dann jenes dämonische Böse in das aus Sein, Wonne und Denken bestehende Licht.

Die Götter aber, über dieses Licht hinausstrebend und bei der Zweiheit Bedenken habend3, indem sie weiter nach jenem an des Om-Lauts Spitze erglänzenden Âtman, der das Vierte des Vierten ist, durch die Nṛisiṅha-Anushṭubh suchten, gelangten mittels des Praṇava in ihm zum Ziele. Da wurde ihnen jenes vor dieser ganzen Welt herrlich aufleuchtende Licht zum lichtlosen, zweitlosen, undenkbaren, attributlosen, selbstleuchtenden, ganz aus Wonne bestehenden Leeren (çûnyam). – Wer solches weiss, der wird zu dem selbstleuchtenden höchsten Brahman.

Die Götter aber »standen ab von dem Verlangen nach Kindern, von dem Verlangen nach Besitz, von dem Verlangen nach Welt« (Bṛih. 3,5,1. 4,4,22) und den Hilfsmitteln dazu, und indem sie ohne Selbstgefühl, ohne Wohnung, ohne Familie, ohne Haarlocke, ohne Opferschnur gleichwie Blinde, Taube, Toren, Verschnittene, Stumme, Unsinnige umherwanderten, wurden sie »beruhigt, bezähmt, entsagend, geduldig und gesammelt« (Bṛih. 4,4,23), »an dem Âtman sich freuend, mit ihm spielend, mit ihm sich paarend und ergötzend« (Chând. 7,25,2), und indem sie den Praṇava als das höchste Brahman, als das[791] durch sich selbst leuchtende Leere erkannten, wurden sie in ihm vollendet.

Darum, wer dem Wandel der Götter nachfolgt, der kommt zur Vollendung in dem Om-Laute, dem höchsten Brahman. Er sieht in seinem Selbste das (höchste) Selbst, das höchste Brahman. Darüber ist dieser Vers:


In drei Hörner (a, u, m) den Hornlosen (turîya),

In drei Hörner den Löwen fasst! –

Zu zwei Hörnern (a, u) das Horn (m) fügend,

Sitzen müssig der Götter drei (Brahman, Vishṇu, Rudra).


Fußnoten

1 Von den vier Eigenschaften des Turîyam, Eingewoben, Bejaher, Bejahung, Indifferenz, kommt im strengsten Sinne dem Âtman nur die letzte zu; die drei ersten sind nur »Tiefschlaf, Traum und blosse Täuschung« (oben S. 781).


2 Meine Vermutung, dass statt apakvakashâyam (Bibl. Ind., Weber) der Nominativ zu lesen sei, fand sich hinterher durch den Telugudruck bestätigt.


3 bhayam paçyantas, vgl. Chând. 8,9,1 bhayam dadarça. Dem dort erzählten Mythus ist der unsere nachgebildet.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 790-792.
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