Zweiter Khaṇḍa.

[781] Der Om-Laut, wie er vorher das Bindeglied zwischen Âtman und Brahman war, ist auch das Bindeglied zwischen dem Âtman und der materiellen Welt, einerseits durch seine drei Moren (a, u, m), anderseits als Ganzes (om). Jeder der drei Zustände des Âtman (Wachen, Traum, Tiefschlaf) ist Grobes, Feines, Einheit und Zuschauer; ebenso enthält jede der drei Moren (a, u, m) Grobes, Feines, Einheit und Zuschauer, so dass a dem Wachen, u dem Traum, m dem Tiefschlafe entspricht. Ebenso entspricht der Om-Laut als Ganzes dem Turîya, sofern er dessen vier Bestimmungen (ota, anujñâtṛi, anujñâ, avikalpa) an sich trägt. Durch diese vier Bestimmungen aber wird die Welt zu einem Realen (nâmarûpa-âtmakam); durch sie ragt der Turîya, mittels des Om-Lautes, in die Dinge hinein. – Zum Schluss wird die Nṛisiṅhaformel als das Mittel bezeichnet, sich zum Turîya zu erheben, womit das weiter Folgende vorbereitet wird.
[781]

Von diesem Âtman soll man wissen, dass er in dem Wachenden traumlos und tiefschlaflos, im Traume wachend und tiefschlaflos, im Tiefschlafe wachend und traumlos, im Turîyam wachend, traumlos und tiefschlaflos ist, dass er unveränderlich, ewige Wonne, allezeit den einzigen Geschmack [des Denkens] habend ist, so soll man ihn wissen.

Er ist der das Auge Sehende, das Ohr Sehende, die Rede Sehende, das Manas Sehende, die Buddhi Sehende, den Prâṇa Sehende, die Finsternis Sehende, das All Sehende. Darum ist er diesem Weltenall gegenüber ein anderer, wesensverschiedener.

Er ist des Auges Zuschauer (sâkshin), des Ohres Zuschauer, der Rede Zuschauer, des Manas Zuschauer, der Buddhi Zuschauer, des Prâṇa Zuschauer, der Finsternis Zuschauer, des Alls Zuschauer. Darum ist er das unwandelbare grosse Geistige, ist von dieser ganzen Welt das Teuerste, denn als durch und durch ganz aus Wonne bestehend soll man ihn wissen. Vor dieser ganzen Welt herrlich aufleuchtend1, nur den einen Geschmack [des Denkens] habend, nicht alternd und nicht welkend, unsterblich und furchtlos, ist er [der Âtman] das Brahman.

Und auch mit der Ungebornen [Prakṛiti, Mâyâ, Avidyâ] soll man ihn, sofern er aus vier Vierteln besteht, mittels der Moren und ferner mittels des [ganzen] Om-Lautes zu eins verbinden.

»Der im Stande des Wachens befindliche«2 vierwesentliche Viçva »Vaiçvânara ist der« vierförmige »a-Laut«; denn vierförmig ist der a-Laut vermöge der Formen des a-Lautes: Grobes, Feines, Same und Zuschauer, »von dem Erlangen« oder von dem Erstersein« und von dem Grobessein, Feinessein, Samesein und Zuschauersein; »der, fürwahr, erlangt« diese ganze Welt »und wird zum Ersten, der solches weiss«.

»Der im Stande des Träumens befindliche« vierwesentliche »Taijasa«, Hiraṇyagarbha »ist der« vierförmige »u-Laut«; denn vierförmig ist der u-Laut vermöge der Formen des [782] u-Lautes: Grobes, Feines, Same und Zuschauer, »von dem Hochhalten oder von dem Beiderseitssein« und von dem Grobessein, Feinessein, Samesein und Zuschauersein; »der, fürwahr, hält hoch die Tradition des Wissens und wird von beiden Seiten gleichgeachtet, der solches weiss.«

»Der im Stande des Tiefschlafes befindliche« vierwesentliche »Prâjña«, Îçvara »ist der« vierförmige »m-Laut«; denn vierförmig ist der m-Laut vermöge der Formen des m-Lautes: Grobes, Feines, Same und Zuschauer, »von dem Aufbauen oder auch von dem Vernichtetwerden« und von dem Grobessein, Feinessein, Samesein und Zuschauersein; »der, fürwahr, baut diese ganze Welt auf und ist ihre Vernichtung, der solches weiss.«

So soll man alle Mâtrâ's in jeder einzelnen Mâtrâ wiederfinden.3

Weiter der Turîya, welcher auch den Îçvara (den persönlichen Gott) verschlingt als Selbstherr, selbst Îçvara, selbstleuchtend, ist vierwesentlich als ota, anujñâtṛi, anujñâ und avikalpa.

Denn ota [»eingewoben« der Welt] ist der Âtman ähnlich wie die ganze Welt zur Endzeit den Gluten des Zeitfeuers und der Sonne (lies kâlâgni-sûrya-usraiḥ).

Und anujñâtṛi (Bejaher) dieser Welt ist der Âtman, weil er ihr sein Selbst hingibt und [dadurch] diese Welt sichtbar macht – nämlich zu seinem Selbste [welches lichtartig ist] macht – wie die Sonne das Dunkle.

Und anujñâ (Bejahung) als einzigen Geschmack hat der Âtman, weil er seiner Natur nach reines Denken ist, vergleichbar dem Feuer, nachdem es den Brennstoff verzehrt hat.

Und avikalpa (Indifferenz) ist der Âtman, sofern er von Worten und Gedanken nicht erreichbar ist.

Denkförmig, vierförmig ist auch der Om-Laut; und dieser vierförmige Om-Laut ist vermöge Eingewoben, Bejaher, Bejahung[783] und Indifferenz als Om-Laut-Formen der Âtman selbst. Namen und Formen als Wesen habend aber ist diese Welt nur vermöge des [im Om-Laut einbegriffenen] Turîyaseins oder Denkförmigseins, sowie auch vermöge des Eingewobenseins, Bejaherseins, Bejahungseins und Indifferenzseins, – denn auch das ganze Weltall ist [seinem Wesen nach] indifferenzförmig, und da ist keine Verschiedenheit [zwischen Âtman, Om-Laut, Weltall]. Und darüber ist diese Unterweisung.

»Moralos ist der Vierte, unbetastbare, die ganze Weltausbreitung auslöschende, selige, zweitlose, – die Silbe Om, der Âtman selbst. Der geht mit seinem Selbste in das Selbst ein, wer solches weiss« (Mâṇḍ. 12).

Ein solcher Mann möge durch die auf Nṛisiṅha bezügliche Anushṭubh, den Spruchkönig, den Turîya erkennen. Denn dieser [Spruchkönig] offenbart den Âtman, ist aller [Zweiheit-]Zusammenraffung fähig, Überhebung nicht duldend, Herr, durchdringend, stets aufflammend, vom Nichtwissen und seinen Wirkungen frei, die Bindung des eigenen Selbstes aufhebend, allezeit zweitlos, wonnegestaltig, Allgrundlage, reines Sein, er ist das von Nichtwissen, Finsternis und Verblendung völlig befreite eigene Ich.

Darum soll man in dieser Weise jenen Âtman und das höchste Brahman einsmachen; wer das vollbringt, ist ein Mann, ist Nṛisiṅha selbst!

Fußnoten

1 Vgl. Taitt. Br. 2,8,8,8: brahma jajñânam prathamam purastâd (Gesch. d. Phil. I, 251).


2 Alles im folgenden zwischen Anführungszeichen Stehende ist aus Mâṇḍûkya-Upanishad entlehnt.


3 Die vom Schol. nicht unterstützte Lesart: amâtramâtrâyâm pratimâtrâḥ kuryâd, »in der moralosen Mora soll man jede einzelne Mora wiederfinden«, welcher Weber folgt, ist, wie dieser mit Recht bemerkt, auch sprachlich bedenklich, würde aber in erwünschter Weise auf das nun Folgende hinweisen.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 781-784.
Lizenz:

Buchempfehlung

Raabe, Wilhelm

Die Akten des Vogelsangs

Die Akten des Vogelsangs

Karls gealterte Jugendfreundin Helene, die zwischenzeitlich steinreich verwitwet ist, schreibt ihm vom Tod des gemeinsamen Jugendfreundes Velten. Sie treffen sich und erinnern sich - auf auf Veltens Sterbebett sitzend - lange vergangener Tage.

150 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon