Sechster Adhyâya.

[306] Vers 1-4. Das Brahman und kein andrer ist das Prinzip der Dinge. Periodische Wiederkehr des Schöpfungswerkes und Exemption des Erlösten von demselben.


1. Die einen Lehrer reden von Natur uns,

Von Zeit die andern (1,2); sie gehn völlig irre;

Nein, es ist Gottes Allmacht, die im Weltall

Lässt jenes Brahmanrad (1,6) im Kreis sich drehen.


2. Durch ihn regiert, der stets bedeckt (Ṛigv. 10,90,1) das Weltall,

Als Geist, Zeitschöpfer, guṇahaft, allwissend,[306]

Entrollt dies Schöpfungswerk sich, das sich darstellt

Als Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther.


3. Was er erschuf, nimmt dann zurück er wieder,

Zur Einheit werdend mit des Wesens Wesen1;

Um dann, mit einem, zweien, dreien, achten2,

Mit Zeit und feinen Guṇa's, die er selbst sind (1,3),


4. Das guṇahafte Werk neu zu beginnen,

Verteilend einzeln die Beschaffenheiten (5,5). –

Wo sie nicht sind, da wird das Werk zunichte,

Hin geht er werklos, wesentlich ein andrer.


Vers 5-10. Schilderung des Brahman und seiner Herrlichkeit.


5. Anfang und Grund, bewirkend die Verbindung,

Drei-Zeit-erhaben3, ohne Teile4 ist er.

Den allgestalt'gen Werdegrund, preiswürdig

Als Gott, der in uns wohnt, zuerst verehrend, –


6. Höher als Weltbaum (3,9), Zeit und alle Formen

Ist er, aus dem entspringt die Weltausbreitung, –

Und ihn, der Recht schafft, Bösem wehrt, Glück austeilt,

Den ew'gen Allbefasser in uns wissend,


7. So lasst uns ihn, der Herren höchsten Grossherrn,

Die höchste Gottheit unter allen Göttern,

Als höchsten Fürst der Fürsten, jenseits thronend,

Als Gott auffinden, als preiswerten Weltherrn.


8. Nicht gibt es an ihm Wirkung noch Organe auch,

Nicht ist ihm einer gleich noch überlegen auch,

Sein höchstes Können wird gelehrt als mannigfach,

Des Wissens, Tuns Werk sind ihm eingeboren.5
[307]

9. Kein Fürst ist über ihm in allen Welten

Und kein Gebieter, kein Kennzeichen6 trägt er;

Ursache ist er, Herr des Herrn der Sinne,

Ihn zeugte keiner, niemand ist sein Oberherr.


10. Der spinnegleich durch Fäden, die aus ihm als Stoff (pradhânam)

Entsprungen, sich verbarg nach seinem Sein, der Gott

Verleih' Eingang in Brahman uns.


Vers 11-20. Die Grösse Gottes und die Erlösung als Zuflucht zu ihm. Unmöglichkeit einer atheistischen Heilslehre.


11. Der eine Gott, verhüllt in allen Wesen,

Durchdringend alle, aller inn're Seele,

Des Werks Aufseher, alles Sein durchduftend (vgl. Sâ khya-K. 40),

Zuschauer, blosser Geist und frei von Guṇa's,


12.7 Der eine Freie, der den einen Samen

Vielfach macht vieler von Natur Werkloser,

Wer den, als Weiser, in sich selbst sieht wohnen,

Der nur ist ewig selig, und kein andrer.


13.8 Der, als der Ew'ge den Nichtew'gen, Freude,

Als Geist den Geistern schafft, als Einer Vielen,

Wer dies Ursein durch Prüfung (Sânkhyam) und Hingebung (yoga)

Als Gott erkennt, wird frei von allen Banden.


14.9 Dort leuchtet nicht die Sonne, nicht Mond noch Sternenglanz,

Noch jene Blitze, geschweige irdisch Feuer.

Ihm, der allein glänzt, nachglänzt alles andre,

Die ganze Welt erglänzt von seinem Glanze.
[308]

15. Der eine Schwan in dieses Weltalls Mitte,

Als Feuer ging er ein in das Gewoge10,

Nur wer ihn kennt, entrinnt dem Reich des Todes,

Nicht gibt es einen andern Weg zum Gehen.


16. Allmächtig und allweise, selbstentsprungen,

Als Geist, Zeitschöpfer, guṇahaft, allwissend (6,2),

Des Urstoffs (pradhânam) Herr, der Einzelseele und Guṇa's,

Wirkt Stillstand, Wanderung er, Erlösung, Bindung.11


17. Aus ihm besteht, unsterblich, in Gott ruhend,

Der Geist12, der überall, des Weltalls Hüter,

Und ewig über diese Welt gebietet,

Nur dies verleiht ihm seiner Herrschaft Rechte.


18. Zu ihm, der den Gott Brahmán schuf zu Anfang,

Und der ihm auch die Veden überliefert,

Dem Gott, der sich erkennen lässt aus Gnade13,

Nehm' ich, Erlösung suchend, meine Zuflucht, –


19. Der teillos, wirkungslos, ruhig,

Ohne Tadel und fleckenlos,

Höchste Unsterblichkeitsbrücke,

Feuer gleich, wenn das Holz verbrannt.14


20. Ja, wenn man sich erst wird wickeln

In den Luftraum wie in ein Kleid, –[309]

Dann wird auch ohne Gottwissen

Des Leids Ende erreichbar sein.15


Vers 21-23. Epilog.


21. Gestärkt durch Busse, mit dem Veda begnadigt,

Fand Brahman Çvetâçvatara und lehrt' es,

Als höchstes Heiligungsmittel gern genossen,

Dem Ṛishi-Kreis der Âçrama-Erhabnen.


22. Vor Zeiten ward im Vedânta

Höchstes Geheimnis ausgebracht;

Keinem gebt es, der nicht ruhig,

Der nicht Sohn oder auch Schüler ist.


23. Doch wer zuhöchst an Gott gläubig,

Wie an Gott an den Lehrer auch,

Dem, wenn er hohen Sinns, werden

Diese Lehren Erleuchtung sein,

– diese Lehren Erleuchtung sein.


Fußnoten

1 Zu tattvasya tattvena vgl. Bṛih. 2,1,20. 2,3,6 satyasya satyam.


2 Mutmasslich: einer, der Purusha; zwei, Avyaktam und Vyaktam; drei, Sattvam, Rajas, Tamas; acht, Buddhi, Aha kâra, Manas, Tañmâtra's.


3 Die drei Zeiten sind: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft.


4 Auch der Telugudruck liest akalo.


5 Gott durchläuft nicht, wie der Mensch, mancherlei Zustände, weil die ganze Mannigfaltigkeit schon in ihm liegt; er braucht nicht, wie der Mensch, durch Erkenntnisorgane und Tatorgane die entsprechenden Wirkungen erst zu vollbringen, weil ihm die Wirkungen des Erkennens und Tuns schon angeboren sind.


6 Oder: keinen feinen Leib (li gam), weil er der Herr des feinen Leibes (des »Herrn der Sinne«) ist. Vgl. ali ga Kâṭh. 6,8.


7 Der Vers ist Kâṭh. 5,12, angepasst an die Çvet. 5,5. 6,4 herrschende Vorstellung des Îçvara als dessen, der die Werke der (ihrem ursprünglichen, gottgleichen Wesen nach) werklosen Seelen zur Entwicklung bringt.


8 Die erste Hälfte = Kâṭh. 5,13. Unter Sânkhyam und yoga können hier, wie schon die Parallele 1,3 dhyâna-yoga-anugatâḥ zeigt, nicht die spätern Systeme dieses Namens verstanden werden, da sie ja den Lehren unsrer Upanishad vielfach widersprechen, sondern nur, mit Ça kara (ad Brahmasûtra p. 417,6) zu reden, vaidikam jñânam dhyânañ ca.


9 Dieser schöne Vers erscheint hier abrupt, während er Kâṭh. 5,15 in seinem natürlichen Zusammenhange, als Antwort auf die vorhergehende Frage, steht. Er wird also mitsamt den vorhergehenden Versen wohl von dort herübergenommen sein.


10 Das Bild soll den Gegensatz zwischen Brahman und Welt (Subjekt und Objekt) zur Anschauung bringen. Ursprünglich mögen allerdings die Zeilen 1-2 einem Liede angehören, welches von dem Untergang der Sonne im Meere redete. Zeile 3-4 sind wieder (wie Çvet. 3,8) = Vâj. Samh. 31,18.


11 sthiti ist hier der Gegensatz zu samsâra, wie moksha der zu bandha.


12 Nach der ganzen Beschreibung kann auch hier schon, wie im nächsten Verse, nur der Erstgeborne des Brahman, der Weltintellekt (buddhi, mahad der Sâ khya's), theologisch gesprochen, Hiraṇyagarbha, der persönliche Brahmán, gemeint sein. Dass er aus dem Urwesen besteht, ist der Grund seiner Weltherrschaft.


13 âtma-buddhi-prasâdam, wie Çâ kara liest und auch der Zusammenhang vorziehen lässt; oder: âtma-buddhi-prakâçam, »dem Gotte, dessen eigner Geist sein Licht ist« (svayamjyotis Bṛih. 4,3,9).


14 Dasselbe wie die Kâṭh. 4,13 vorkommende »Flamme ohne Rauch«.


15 Dieser Vers weist unverkennbar auf Richtungen hin, welche, wie später Sânkhyam und Buddhismus, nach einem Ende der Leiden ohne Anlehnung an theologische Vorstellungen suchten.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 306-310.
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