Fünfter Adhyâya.

[304] Vers 1. Die drei Themata des gegenwärtigen Adhyâya, das Nichtwissen, d.h. die in ihm befangene Seele (Vers 7-12), das Wissen, d.h. die Erlösung (Vers 13-14) und das beide in sich befassende, aber über beide erhabene Brahman (Vers 2-6), werden hier kurz einander gegenübergestellt.


1. Zwei sind im ewig, endlos, höchsten Brahman

Latent enthalten, Wissen und Nichtwissen;

Vergänglich ist Nichtwissen, ewig Wissen,

Doch der als Herr verhängt sie, ist der Andre.


Vers 2-6. Das höchste Brahman.


2. Der jedem Mutterschoss als der Eine vorsteht (4,11),

Allen Gestalten, allen Ursprungsstätten,

Der mit jenem (4,12) ersterzeugten, roten Weisen1

Im Geist ging schwanger und ihn sah geboren,


3. Der Gott, der vielfach ein Netz nach dem andern

Im Raum ausbreitet hier und wieder einzieht,[304]

Durch seine Helfer2 fortschaffend, hochsinnig,

Betätigt so als Herrscher seine Allmacht.


4. Wie alle Weiten, oben, unten, querdurch,

Erleuchtend, strahlt der Sonnenstier am Himmel,

So lenkt der Gott, der heilige, liebwerte,

Als einer alles Mutterschossentsprungne.


5. Wenn seinem Wesen zureift aller Ursprung3,

Was reifen soll, er macht es alles wachsen,

Er lenkt als einer alles hier und jedes,

Verteilend einzeln alle Sonderheiten.


6. Was im Veda-Geheimteil Upanishad-Geheimnis,

Gott Brahmán kennt es als des Veda Urquell;

Die das erkannt, der Vorzeit Götter, Weise,

Zu ihm geworden, sind unsterblich worden.


Vers 7-12. Brahman als individuelle Seele (»der Andre«).


7. Bestimmtheithaft, fruchtreicher Werke Täter

Und eben dessen, was er tat, Geniesser,

So wandert er als Lebensherr allformig,

Drei-Guṇa-haft, dreipfadig4, je nach seinem Werk.


8. Zollhoch an Grösse, sonnenähnlich leuchtend,

Mit Vorstellung und Ichheit ausgestattet,

Erscheint, kraft seiner Buddhi, seines Âtman,

Wie einer Ahle Spitze gross der Andre.


9. Spalt' hundertmal des Haars Spitze

Und nimm davon ein Hundertstel,

Das denk' als Grösse der Seele,

Und sie wird zur Unendlichkeit.
[305]

10. Er ist nicht weiblich, nicht männlich,

Und doch ist er auch sächlich nicht;

Je nach dem Leib, den er wählte,

Steckt er in diesem und in dem.


11. Durch Wahn des Vorstellens, Berührens, Sehens,

Fährt er als Seele, seinem Werk entsprechend,

Durch Essens, Trinkens, Zeugens Selbsterschaffung,

Abwechselnd hier und dort in die Gestalten.


12. Als Seele wählt viel grobe und auch feine

Gestalten er, entsprechend seiner Tugend;

Und was ihn band, kraft seines Werks und Selbstes,

In diese, bindet wieder ihn in andre.


Vers 13-14. Die Erlösung.


13.5 Wer ihn, anfanglos, endlos, in dem Gemenge

Als Weltenschöpfer vielfach sich gestaltend,

Den Einen, der das Weltall hält umschlossen,

Als Gott kennt, wird befreit von allen Banden (1,8. 2,15. 4,16. 6,13).


14. Wer im Herzen den nestlosen (leiblosen),

Sein und Nichtsein bewirkenden,

Die [sechzehn] Teile6 bindenden

Sel'gen Gott sucht, verlässt den Leib.


Fußnoten

1 Der ganze Zusammenhang und die parallelen Stellen 3,4. 4,12 (auf welche das tam zurückweist) beweisen, dass unter »jenem roten Weisen« (kapila ṛishi) Hiraṇyagarbha, der »goldne (daher rote) Embryo« zu verstehen ist. Es ist auch gar nicht abzusehen, wie hier, in dem Zusammenhange einer Vedântaschrift als Erstgeborener des Urwesens auf einmal Kapila – der Begründer eines gegnerischen Systems! – proklamiert werden sollte. – Allenfalls könnte man, aber auch dies schwerlich, eine Anspielung auf denselben annehmen in dem Sinne: »Hiraṇyagarbha ist der Urheber aller Weisheit, ist der wahre Kapila«. – Möglich auch, dass der ganze Kapila auf unsrer Stelle beruht.


2 Wörtlich »als seine Helfer«; er verwandelt sich selbst in sie. Vgl. über diese, schon im Ṛigveda vorkommenden, Helfer bei der Schöpfung Gesch. d. Phil. I, 137 und zu ihrem Namen yati »die sich Anstrengenden« Ṛigv. 10,129,5: svadhâ avastât, prayatiḥ parastât.


3 viçvayoniḥ soviel wie »alles Entsprungene«. Der îçvara hat im Vedântasystem die Aufgabe, die Werke der Seelen wachsen und reifen zu machen, wie der Regen die Pflanzen, und ferner, die Vergeltung, den Werken entsprechend, zu verteilen; Brahmasûtra 2,1,34. 2,3,42 (S. 312. 431 meiner Übersetzung).


4 Vgl. 1,4 und die Anmerkungen dazu.


5 Vgl. 4,14 und Anmerkung.


6 Vgl. hierüber die Einleitung zu Praçna 6.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 304-306.
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