Vierter Adhyâya.

[300] Vers 1-4. Brahman und das Weltall.


1. Er, der, selbst farblos, vielfach versehn mit Kräften,

Die vielen Farben verleiht zu bestimmten Zwecken,

Bis endlich das All zergeht in ihm, dem Anfang,

Der Gott begabe uns mit edler Einsicht (3,4).


2.1 Das ja ist Agni, Âditya,

Das ist Vâyu und Candramas,

Das ist das Reine, das Brahman,

Die Wasser und Prajâpati.


3.2 Du bist das Weib, du bist der Mann,

Das Mädchen und der Knabe,

Du wächst, geboren, allerwärts,

Du wankst als Greis am Stabe.


4. Schwarz bist als Vogel du, grün mit roten Augen3,

Blitzschwanger als Wolke, Jahreszeiten, Meere,[300]

Das Anfanglose bist du, das Allverbreitete,

Aus dem geworden sind die Wesen alle.


Vers 5-8. Brahman als individuelle und als höchste Seele.


5.4 Die eine Ziege, rot und weiss und schwärzlich,

Wirft viele Junge, die ihr gleichgestaltet;

Der eine Bock in Liebesbrunst bespringt sie,

Der andre Bock verlässt sie, die genossen.


6.5 ›Zwei schönbeflügelte, verbundene Freunde

Umarmen einen und denselben Baum;

Einer von ihnen speist die süsse Beere,

Der andre schaut, nicht essend, nur herab.‹


7. Zu solchem Baum der Geist, herabgesunken,

In seiner Ohnmacht grämt sich wahnbefangen;

Doch wenn er ehrt und schaut des andern Allmacht

Und Majestät, dann weicht von ihm sein Kummer.


8. ›Des Hymnus Laut im höchsten Himmelsraume,

Auf dem gestützt die Götter alle thronen,

Wenn man den nicht kennt, wozu hilft der Hymnus dann? –

Wir, die ihn kennen, haben uns versammelt hier.‹


Vers 9-10. Wie schon Vers 7 andeutete (muhyamânaḥ), beruht die Gebundenheit der individuellen Seele nur auf Täuschung (daher zur Erlösung nur die richtige Erkenntnis erforderlich ist). Dies zu erläutern, wird Brahman als Zauberer (mâyin, später gewöhnlich mâyâvin) und[301] die Welt als das von ihm hervorgezauberte, an sich wesenlose, Blendwerk (mâyâ) dargestellt. (Ältestes Vorkommen dieses wichtigen Vedântabegriffes). Die nachdrückliche Erklärung, Vers 10, dass die prakṛiti nur mâyâ sei, lässt vermuten, dass der Realismus der Sâ khyalehre im Aufkommen war.


9. Aus dem die Hymnen, Opfer, Werk, Gelübde.

Vergangnes, Künft'ges, Vedalehren stammen,

Der hat als Zauberer diese Welt geschaffen,

In der der andre6 ist verstrickt durch Blendwerk.


10. Als Blendwerk die Natur wisse.

Als den Zaub'rer den höchsten Gott;

Doch7 ist von seinen Teilstoffen

Durchdrungen diese ganze Welt.


Vers 11-22 feiern Rudra als das personifizierte Brahman. Wie der verwandte Abschnitt 3,1-6, besteht auch dieser Teil vorwiegend aus Zitaten.


11. Der jedem Mutterschoss als der Eine vorsteht (5,2),

In dem die Welt zergeht und sich entfaltet (Mahân. 1,2),

Wer den als Herrn, als Gott, reichspendend, preiswert

Erkennt, geht ein in jene Ruh für immer (Kâṭh. 1,17).


12.8 Er, der der Götter Ursprung und Hervorgang,

Der Herr des Alls, Rudra, der grosse Weise,

Der selbst entstehen sah Hiraṇyagarbha,

Der Gott begabe uns mit edler Einsicht.


13.9 Er, der der Götter Oberherr,

In dem die Welt gegründet ist,

›Zweifüssler hier beherrschend und Vierfüssler, –

Wer ist der Gott, dass wir ihm opfernd dienen?‹
[302]

14.10 Wer ihn fein, überfein in dem Gemenge,

Als Weltenschöpfer vielfach sich gestaltend,

Den Einen, der das Weltall hält umschlossen (3,7. 4,16),

Als Seligen (çiva) weiss, geht ein zur Ruh für immer (4,11).


15. Er in der Zeitlichkeit ist der Welt Behüter,

Der Herr des Alls, versteckt in allen Wesen;

In ihn vertieft sind Brahmanweise und Götter,

Wer ihn erkennt, zerreisst des Todes Stricke.


16. Feiner als Butter, überfein wie Sahne11,

Weilt selig (çiva) er versteckt in allen Wesen.

Den Einen, der das Weltall hält umschlossen (3,7. 4,14),

Wer den als Gott weiss, wird frei von allen Banden.


17.12 Ja, dieser Gott, allschaffend, hohen Sinnes,

Ist stets zu finden in der Geschöpfe Herzen;

Nur wer an Herz und Sinn und Geist bereitet, –

Unsterblich werden, die ihn also kennen.


18. Das Dunkel weicht; nun ist nicht Tag noch Nacht mehr13,

Nicht seiend noch nichtseiend, selig (çiva) nur ist er;

Er ist der Om-Laut, ›Savitar's liebwertes Licht‹ (Ṛigv. 3,62,10),

Aus ihm erfloss das Wissen uranfänglich.14


19.15 ›Nicht in der Höhe, noch Breite,

Noch Mitte ist umspannbar er.

Nicht ist ein Ebenbild dessen,

Der da heisst: grosse Herrlichkeit.‹


20.16 Nicht ist zu schauen die Gestalt desselben;

Nicht sieht ihn irgendwer mit seinem Auge;

Ihn, der im Herzen weilt, mit Herz und Sinnen, –

Unsterblich werden, die ihn also kennen.
[303]

21. Er ist der Ew'ge! so denkend

Mag man furchtsam ihm nahen wohl; –

O Rudra! mit deinem huldreichen Antlitz,

Mit dem schütz' mich allezeit!


22.17 ›An Kindern und Nachkommen und am Leben auch,

An Rindern und an Rossen nicht verletze uns!

Erschlage nicht in deinem Grimm die Mannen uns,

Mit Opfern rufen wir dich auf der Stätte an.‹


Fußnoten

1 Der Anfangsvers des Tadeva-Liedes, Vâj. Samh. 32,1 (Gesch. d. Phil. I, 291).


2 = Atharvav. 10,8,27 (Gesch. d. Phil. I, 322).


3 Unter den, in Indien überaus zahlreichen, Vögeln treten besonders hervor die Krähen, die man allmorgendlich scharenweise und krächzend von einem der Riesenbäume zum andern fliegen sieht, und die kleinen, grünen Papageichen, die oft dutzendweise auf einem Baume zusammensitzen, und an deren liebliches, süsses Gezwitscher man sich nicht erinnern kann, ohne Heimweh nach Indien zu empfinden.


4 Lies lohita-çukla-kṛishṇâm und sarûpâḥ (wie auch der Telugudruck hat). Dass, wie Ça kara, und höchst wahrscheinlich auch schon Bâdarâyaṇa, annehmen (Brahmasûtra 1,4,8-10), die Stelle ursprünglich auf das Seiende und seine Produkte, Glut, Wasser, Nahrung, Chând. 6,2, zu beziehen ist, dafür sprechen sowohl die Ausdrücke lohita, çukla, kṛishṇa (siehe Chând. 6,4,1) als auch ihre Reihenfolge, die nach dem Sâ khyasystem eine andre sein müsste. Auf der andern Seite ist die Beziehung von Bock und Ziege auf Purusha und Prakṛiti (mit ihren drei Guṇa's, Rajas, Sattvam, Tamas) der Sâ k hya's zu treffend, um abgewiesen zu werden. – Wir haben hier eine der Stellen, in denen wir aus dem Monismus der Upanishadlehre die dualistische Sâ khyatheorie hervorwachsen sehen (vgl. oben S. 290).


5 Der Vers Ṛigv. 1,164,20 wird als Vers 6 zitiert und (Vers 7) im Sinne der Vedântalehre (vgl. namentlich Kâṭh. 3,1, oben S. 276) interpretiert. Die ursprüngliche Bedeutung ist eine ganz andre (vgl. darüber Gesch. d. Phil. I, 112). Vers 6-7 kehren Muṇḍ. 3,1,1-2 wieder. – Hieran schliesst sich, etwas unvermittelt, Vers 8 = Ṛigv. 1,164,39, wohl um den Om-Laut als den Weg zu Gott durch Berufung auf denselben Ṛigvedahymnus zu erweisen.


6 Der andre, anya, kann nur die Vers 6-7 erwähnte individuelle Seele sein.


7 Die Natur ist doch nicht völlig wesenlose Mâyâ, sofern sie von den (individuellen) Seelen durchzogen wird, welche hier wie öfter (Bṛih. 2,1,20. Muṇḍ. 2,1,1 etc). bildlich als Teile des Brahman vorgestellt werden und an seiner Realität teilhaben.


8 Die dritte Zeile stimmt mit Mahânâr. 10,19, die drei übrigen mit Çvet. 3,4 überein; im wesentlichen ist der Spruch an allen drei Stellen derselbe.


9 Die zweite Vershälfte ist ein Zitat aus dem Prajâpatiliede (Ṛigv. 10,121,3), gleichsam als Autorität dafür, dass das in der ersten Vershälfte geschilderte Brahman als persönlicher Gott zu verehren sei.


10 Der ganze Vers kehrt mit Modifikationen 5,13 wieder. Zu kalilasya madhye vgl. (eventuell) salile Bṛih. 4,3,32.


11 Man muss nicht daran denken, dass die Butter (ghṛitam) erst aus Sahne (maṇḍam) bereitet wird, sondern an die Milch, in welcher die Butterkügelchen fein, aber die Sahne noch viel feiner verteilt wie der Âtman in den Wesen, enthalten ist.


12 Bis auf die erste Zeile = Çvet. 3,13, wo man sehe.


13 Vgl. Chând. 3,11,3. 8,4,1-2 (oben S. 105. 192).


14 Vgl. Bṛih. 2,4,10 und Çvet. 6,18.


15 = Vâj. Samh. 32,2-3 (Gesch. d. Phil. I, 292).


16 = Kâṭh. 6,9. Mahânâr. 1,11 (verändert); vgl. oben zu 3,13.


17 = Ṛigv. 1,114,8. Taitt. Samh, 4,5,10,3. Vâj. Samh. 16,16 (mit Varianten).

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 300-304.
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