Zweite Vallî.

[271] Vers 1-6. Das Nichtwissen und das Wissen, gegenübergestellt als das Liebere und das Bessere.


Yama:


1. »Ein andres ist das Bessere, und ein andres

Das Liebere, die, verschiednen Ziels, euch fesseln; –

Wer sich das Bessere wählt, dem ist's zum Heile,

Des Zwecks geht, wer das Liebere wählt, verlustig.


2. Das Bessere und das Liebere naht dem Menschen;

Umwandelnd beide, scheidet sie der Weise;

Das Bessere zieht der Weise vor dem Liebern,

Erwerbend, wahrend, wählt der Tor das Lieb're.


3. Du hast die holden, scheinbar holden Lüste

Erwägend, Naciketas, abgewiesen;

Nicht hat gefesselt dich des Reichtums Kette,

In die verstrickt so viele untersinken.
[271]

4. Ja, weit verschieden und entgegenstehend

Ist, was genannt wird Wissen und Nichtwissen;

Nach Wissen seh' ich Naciketas trachten,

Der Lüste Heerschar hat dich nicht zerrüttet.


5. In des Nichtwissens Tiefe hin sich windend,

Sich selbst als Weise, als Gelehrte wähnend,

So laufen ziellos hin und her die Toren,

Wie Blinde, die ein selbst auch Blinder anführt.1


6. Das Sterbenmüssen geht nicht ein dem Toren,

Dem Taumelnden, durch Reichtums Blendung Blinden;

›Dies ist die Welt, kein Jenseits gibt's!‹ so wähnend

Verfällt er immer wieder meiner Herrschaft.


Vers 7-9. Schwierigkeit der Erkenntnis; sie ist nicht erreichbar durch Nachdenken, sondern nur durch Offenbarung; diese aber erfordert, zu ihrer Vermittlung, einen geeigneten Lehrer.


7. Von dem auch zu hören, vielen nicht beschieden,

Den viele, von ihm hörend, nicht begriffen, –

Ein Wunder, wer ihn lehrt, kundig, wer ihn auffasst,

Ein Wunder, wer ihn kennt, belehrt von Kund'gen.


8. Nicht, wenn verkündigt von gemeinen Menschen,

Ist leicht er fassbar, selbst bei vielem Sinnen;

Und ohne Lehrer ist hier gar kein Zugang:

Zu tief ist er für eignes tiefes Denken.


9. Nicht ist durch Grübeln dieser Sinn zu fassen,

Doch fassbar wohl, wenn einer dir ihn lehrt, Freund;

Dir ward er jetzt, denn treu war dein Beharren;

Ja, solche Frager wünschen wir, wie du bist!


Vers 10-11. Vergänglichkeit des Schatzes der guten Werke und Wertlosigkeit irdischer Güter.


10. Ich weiss etwas, Schatz heisst es, doch vergänglich;

Das Wechselnde kann Bleibendes nicht wirken.[272]

Darum baut' ich das Nâciketa-Feuer;

Nichtew'gen Stoffs erschloss es mir das Ew'ge.2


11. Was Wunschvollendung, was der Welten Grund ist,

Des Werks Unendlichkeit, das Rettungsufer,

Des Ruhmes Grossheit, Weitverbreitung, Gründung,

Du (sahst und) hast mit Festigkeit sie abgewiesen.


Vers 12-13. Nochmals von der Schwierigkeit der Erkenntnis. Der Âtman ist (als Subjekt des Erkennens) in der Höhle versteckt; hier kann er nur, nachdem man alles Äusserliche (Objektive, dharmyam) von ihm abgezogen (pravṛihya, vgl. die Hüllen, Taitt. 2), »durch Erlan gung des auf das eigne Selbst bezüglichen (in das eigne Selbst sich vertiefenden) Yoga« erkannt werden.


12. Den schwer zu schauenden, geheimnisvollen,

Den in der Höhle tief versteckten Alten,

Wer den durch Hingebung (yoga) im eignen Innern

Als Gott erfasst, lässt Lust und Leid dahinten.


13. Der Sterbliche, der dies vernahm und fasste,

Abtat was äusserlich (dharmyam), ergriff das Feine,

Der wird sein froh; ja, er besitzt was froh macht!

Naciketas ist als Wohnung ihm bereitet.3


Vers 14-17. Zunächst wird in Vers 14 die allem Endlichen (allen moralischen, kausalen und zeitlichen Bestimmungen) gegenüber negative Natur des Âtman auf das schärfste hervorgehoben. Dieser Vers (ursprünglich wohl eine alte Rätselfrage der Âtmanlehre, die hier dem Zusammenhang eingeflochten wurde) pflegt seit Ça kara (zur Stelle und zu Brahmasûtra p. 348. 780) dem Naciketas zugeteilt zu werden; es ist aber besser, in ihm eine Frage des Lehrers an den Schüler zu sehen, was er sich unter diesen negativen Bestimmungen wohl vorstellen könne? Auf sein ratloses Schweigen reicht ihm dann der Lehrer als Vehikel (als »Stütze«, âlambanam) der Brahmanerkenntnis den (bedeutungslosen und eben darum allein geeigneten) Laut Om dar.
[273]

14. Was frei von Gutem und Bösem,

Frei von Geschehn und Nichtgeschehn,

Frei von Vergangnem und Künft'gem –

Was du als solches siehst, – sag' an! –


(Naciketas schweigt).


15. Das Wort, das alle Veden uns verkünden,

Das sich in jeglicher Kasteiung ausdrückt,

Um das in Brahmanschülerschaft sie leben,

Dies Wort vernimm in einem Inbegriffe:


Om! so lautet es.


16. Ja, diese Silbe ist Brahman,

Diese Silbe das Höchste ist;

Wer dieser Silbe ist kundig,

Was er wünschen mag, fällt ihm zu,


17. Dies ist der Stützen vornehmste,

Diese Stütze die höchste ist;

Wer dieser Stütze ist kundig,

Lebt selig in der Brahmanwelt.


Vers 18-22 folgt nun eine glänzende Schilderung der aller empirischen Weltordnung widersprechenden Natur des »Sehers« (vipaçcit) d.h. des Âtman.


18. Nicht wird geboren und nicht stirbt der Seher,

Stammt nicht von jemand, wird auch nicht zu jemand.

Von ewig her, bleibt ewig er der Alte,

Wird nicht getötet, wenn den Leib man tötet.


19. Wer, tötend, glaubt, dass er töte,

Wer, getötet, zu sterben glaubt,

Irr gehen dieser wie jener:

Der stirbt nicht, und der tötet nicht!


20. Des Kleinen Kleinstes und des Grossen Grösstes (Chând. 3,14,3),

Wohnt er als Selbst hier dem Geschöpf im Herzen;

Frei von Verlangen schaut man, fern von Kummer,

Gestillten Sinnendrangs4 des Âtman Herrlichkeit.
[274]

21. Er sitzt und wandert doch fernhin,

Er liegt und schweift doch allerwärts,

Des Gottes Hin- und Her-Wogen,

Wer verstände es ausser mir?5


22. In den Leibern den Leiblosen,

Im Unsteten den Stetigen,

Den Âtman, gross, alldurchdringend,

Schaut der Weise und grämt sich nicht.


Vers 23-25. Den Abschluss dieser metaphysischen Betrachtungen bildet wieder (wie Vers 7-9. 12-13) die Frage nach den Bedingungen der Erkenntnis des Âtman. Dieselbe ist nicht durch individuelle Bemühungen, sondern nur durch eine Art Gnadenwahl zu erlangen (Vers 23); diese wird aber auf keinen fallen, der nicht die sittlichen Vorbedingungen erfüllt (Vers 24-25).


23. Nicht durch Belehrung wird erlangt der Âtman,

Nicht durch Verstand und viele Schriftgelehrtheit;

Nur wen er wählt, von dem wird er begriffen:

Ihm macht der Âtman offenbar sein Wesen.6


24. Nicht wer von Frevel nicht ablässt,

Unruhig, ungesammelt ist,

Nicht, dessen Herz noch nicht stille,

Kann durch Forschen erlangen ihn.


25. Er, der Brahmanen und Krieger

Beide aufzehrt, als wär' es Brot,

Eingetaucht in des Tod's Brühe, –

Wer, der ein solcher (Vers 24), fände ihn?


Fußnoten

1 Ev. Matth. 23,24: ὁδηγοὶ τυφλοί. Jedem, der im Orient gereist ist, werden die Ketten der sich aneinander haltenden Blinden erinnerlich sein, wie sie auf den Jahrmärkten bettelnd umherziehen. – Derselbe Spruch Muṇḍ. 1,2,8, vermutlich (vgl. den Vers vorher) aus unsrer Stelle herübergenommen. Direkt zitiert werden Vers 4 und 5 Maitr. 7,9.


2 Im Gegensatze zu dem vergänglichen Schatze der übrigen Opferwerke ist das Nâciketa-Feuer zwar auch nur mit vergänglichen Stoffen geschichtet, ist aber doch als vorbereitendes Mittel (vgl. 3,2) des Âtmanwissens anzuerkennen. – Andre Auswege wären, prâptavân asmi nityam als Frage oder als neuen Satz zu nehmen, oder nityam von relativer Ewigkeit zu verstehen, oder prâptavân asmy anityam zu konjizieren.


3 Die beste Interpretation liefert Muṇḍ. 3,2,4: »in dessen Brahmanheim (das Haus des Herzens, Chând. 8,1,1) geht ein der Âtman«.


4 dhâtu-prasâdâd; oder dhâtuḥ prasâdâd »durch des Schöpfers Gnade«; die Handschriften schwanken an den drei Stellen, wo der Ausdruck vorkommt. Sâyaṇa zu Taitt. Âr. 10,10,1 gibt die zweite, Ça kara zu unsrer Stelle die erste Erklärung; Ça k. zu Çvet. 3,20 und Nârâyaṇa zu Mahânâr. 8,3 (Taitt. Âr. 10,10,1) bieten beide Erklärungen. – Wir unterschieden schon oben (S. 247) eine theologische Lesung des Verses (mit akratum, dhâtuh prasâdâd, îçam), die sich Taitt. Âr. 10,10,1 und Çvet. 3,20, und eine philosophische (mit akratuḥ, dhâtu-prasâdâd, âtmanas), die sich an unsrer Stelle findet.


5 Fast möchten wir die Übersetzung wagen: »wer ist so trunken (von Begeisterung), das zu sehn?«


6 Oder: »Sein Selbst erwählt der Âtman als sein eignes.« Der ganze Vers kehrt wieder Muṇḍ. 3,2,3.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 271-275.
Lizenz:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Nachtstücke

Nachtstücke

E.T.A. Hoffmanns zweiter Erzählzyklus versucht 1817 durch den Hinweis auf den »Verfasser der Fantasiestücke in Callots Manier« an den großen Erfolg des ersten anzuknüpfen. Die Nachtstücke thematisieren vor allem die dunkle Seite der Seele, das Unheimliche und das Grauenvolle. Diese acht Erzählungen sind enthalten: Der Sandmann, Ignaz Denner, Die Jesuiterkirche in G., Das Sanctus, Das öde Haus, Das Majorat, Das Gelübde, Das steinerne Herz

244 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon