Dreiundsechzigster Anuvâka (Atharva-Rez. 22,1-24,2).

[255] Die Gedanken des vorigen Abschnittes werden hier, wie dies öfter zu geschehen pflegt (vgl. Kaush. 3 und 4; Chând. 8,1-6 und 8,7-12; Taitt. 2 und 3) nochmals in Form einer Legende und in erweiterter Gestalt vorgetragen.


1. Es begab sich, dass Prâjâpatya Âruṇi Suparṇeya51 den[255] [Stamm-]Vater Prajâpati anging mit der Frage: »Was erklären die Ehrwürdigen [d.h. die Weisen] für das Höchste?« – Und er antwortete ihm:


2. »Durch die Wahrheit der Wind herweht,

Und die Sonne am Himmel glänzt,

Wahrheit der Rede Standort ist,

In der Wahrheit beruht das All.


Darum erklären sie die Wahrheit (satyam) für das Höchste.


3. Durch die Askese haben Götter anfangs

Gottsein erlangt, durch sie den Himmel Weise,


durch Askese lasst uns Feinde und Unholde abwehren, in der Askese beruht das All. Darum erklären sie die Askese (tapas) für das Höchste.


4. Durch die Bezähmung bezähmt, schüttelt man ab die Sünde,

Durch die Bezähmung gingen zum Himmel Brahmanschüler,


die Bezähmung der Wesen ist schwer zu überwältigen, in der Bezähmung beruht das All. Darum erklären sie die Bezähmung (dama) für das Höchste.


5. Durch Ruhe ruhig, wandelt man glückselig,

Durch Ruhe fanden Muni's auf den Himmel,


die Ruhe der Wesen ist schwer zu überwältigen, in der Ruhe beruht das All. Darum erklären sie die Ruhe (çama) für das Höchste.

6. Das Geben, die Opfergabe ist des Opfers Panzerung52, und in der Welt leben alle Wesen von dem Gebenden. Durch Geben haben sie die Unholde abgewehrt, durch Geben werden Hassende zu Freunden, in dem Geben beruht das All. Darum erklären sie das Geben (dânam) für das Höchste.

7. Die Pflicht ist dieser ganzen Welt Grundlage, und im Leben halten sich die Geschöpfe zu dem Pflichteifrigsten. Durch die Pflicht wehrt man das Übel ab, in der Pflicht beruht das All. Darum erklären sie die Pflicht (dharma) für das Höchste.[256]

8. Das Zeugen ist die Grundlage, und wer im Leben den Faden der Nachkommenschaft richtig fortspinnt, der trägt dadurch seine Schulden an die Väter ab; denn eben das (Zeugen) ist seine Schuldabtragung. Darum erklären sie das Zeugen (prajananam) für das Höchste.

9. Die [drei] Feuer, fürwahr, sind die dreifache Wissenschaft und der Götterweg53,


das Gârhapatya-Feuer ist Ṛic, Erde, Rathantaram,

das Anvâhâryapacana-Feuer ist Yajus, Luftraum, Vâmadevyam,

das Âhavanîya-Feuer ist Sâman, Himmelswelt, Bṛihat.


Darum erklären sie die Feuer für das Höchste.

10. Das Agnihotram54 des Abends und Morgens ist der Häuser Sühnung, ist das Wohlgespendete, Wohlgeopferte, ist die Eingangspforte (prâyaṇam) der Opfer und Somafeste [agnihotra-prâyaṇâ yajñâḥ, Taitt. Br. 2,1,5,1], das Licht der himmlischen Welt. Darum erklären sie das Agnihotram für das Höchste.

11. Das Opfer (yajña), so sagen sie; denn durch das Opfer sind die Götter zum Himmel gelangt, durch das Opfer wehrten sie die Dämonen ab. Durch das Opfer werden Hassende zu Freunden, in dem Opfer beruht das All. Darum erklären sie das Opfer für das Höchste.

12. Das Geistige (mânasam), fürwahr, ist das von Prajâpati stammende Läuterungsmittel, durch das Geistige sieht man mit dem Verstande das Richtige; als geistige schufen die Ṛishi's die Geschöpfe, in dem Geistigen beruht das All. Darum erklären sie das Geistige für das Höchste.

13. Die Entsagung (nyâsa), so nennen die Weisen den (Gott) Brahmán. 14. Brahmán (masc). ist Allseiender, Katamaḥ[257] (höchste Lust), Svayambhûḥ; und wenn es heisst: ›Das Jahr ist Prajâpati‹, 15. so ist jene Sonne das Jahr, aber jener Purusha in der Sonne55, der ist Parameshṭhin, ist das Bráhman (neutr)., der Âtman. 16. Und die Strahlen, mit welchen die Sonne glüht, durch die regnet Parjanya, durch Parjanya aber wachsen die Kräuter und Bäume, aus den Kräutern und Bäumen entsteht die Nahrung, durch die Nahrung der Lebenshauch, durch die Lebenshauche die Kraft, durch die Kraft das Tapas, durch das Tapas der Glaube, durch den Glauben die Einsicht, durch die Einsicht die Weisheit, durch die Weisheit der Verstand, durch den Verstand die Ruhe, durch die Ruhe das Denken, durch das Denken macht man sich bewusst das Gedächtnis, durch das Gedächtnis die Erinnerung, durch die Erinnerung die Erkenntnis, durch die Erkenntnis den Âtman.56 Darum, wenn man Nahrung spendet, so spendet man alle diese; aus der Nahrung entstehen die Lebenshauche der Wesen57, durch die Lebenshauche das Manas, durch das Manas die Erkenntnis, durch die Erkenntnis die Wonne, das Brahman als Urquell. 17. Ja, fürwahr, dieser Purusha [als annamaya, prâṇamaya, manomaya, vijñânamaya, ânandamaya, Taitt. 2] ist fünffach, aus fünf Selbsten bestehend, und durch ihn ist dieses Weltall gewoben, Erde, Luftraum und Himmel, die Pole und die Zwischenpole; ja, er ist diese ganze Welt, ist das Vergang'ne und Künft'ge, ist durch Erkenntnisdrang geformt, geboren aus der Weltordnung, in der Fülle wohnend58, ist Glaube, wahrhaft, grosshaft, finsterniserhaben. 18. Als solchen ihn mit Sinn und Herz erkennend, geh' nicht, als Wissender, mehr in den Tod ein.[258]

19. Darum erklären sie die Entsagung für höher als jene [andern] Askesen.

20. Der Güter froh und alldurchdringend bist du, im Lebenshauch [des Alls] Zusammenfüger. O (Gott) Brahmán! alldurchstreifend bist du, du bist es, der dem Feuer Wärme, der Sonne Kraft, dem Monde Glanz verleiht. – [O Soma!] du bist im Gefäss geschöpft, dem Brahmán (masc). bringe ich dich dar, der Grösse!

21. Om! mit diesem Worte bereite man (yuñjîta, vgl. den Gebrauch des Wortes yoga) sein Selbst.

22. Dies, fürwahr, ist die grosse Upanishadlehre, ein Geheimnis der Götter.

23. Wer solches weiss, der erlangt die Majestät des (Gottes) Brahmán, durch dieses die Majestät des (Gottes) Brahmán.

24. So lautet die Upanishad.«

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 255-259.
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