III. Die Bhṛiguvallî.

[234] Auch dieser letzte Teil der Taittirîya-Upanishad gibt sich, ebenso wie der vorige (Taitt. 2), als ein untrennbares Ganze, jedoch ist er ein Ganzes, welches in wunderlicher Weise aus sehr heterogenen Bestandstücken zusammengeklebt ist.


Zunächst folgt (Anuv. 1-6) die bhârgavî vâruṇî vidyâ, d.h. die von Bhṛigu auf Anweisung seines Vaters Varuṇa hin gefundene Lehre. Dieser Abschnitt wiederholt in Form einer Legende die Gedanken der Ânandavallî (Taitt. 2), verhält sich also zu ihr ganz ähnlich wie Kaush. 4 zu Kaush. 3, oder wie Chând. 8,7-12 zu Chând. 8,1-6. Bemerkenswert und schön ist es, dass Varuṇa nicht selbst die Lehre von Brahman mitteilt, sondern nur ein Kriterium gibt, an dem das Brahman kenntlich ist, in dem berühmten und vielzitierten Worte: »Fürwahr, woraus diese Wesen entstehen, wodurch sie, entstanden, leben, worein sie, dahinscheidend, wieder eingehen, das erforsche, das ist das Brahman!« – worauf dann Bhṛigu selbst, und zwar auf dem Wege der fortgesetzten Askese (tapas), das Brahman in zunehmender Verinnerlichung als Nahrung, als Lebenshauch, als Manas, als Erkenntnis und zuhöchst als Wonne begreift. Hierin liegt offenbar die Anerkennung, dass jene vorhergehenden Definitionen des Brahman als Nahrung usw. nicht genügen, sondern (ebenso wie in Taitt. 2) als Schalen abzulösen sind, um zum Kern zu gelangen.


Um so verwunderlicher ist es, dass diese Lehre zum Ausgangspunkte einer bis zum Schlusse sich erstreckenden Betrachtung (Anuv. 6-10) gemacht wird, welche, von der Höhe des erreichten Standpunktes zurückfallend, Brahman, in ähnlicher Weise wie das Lied Taitt. 2,2 (oben S. 228), als Nahrung feiert.

[234] Schon der Übergang (Anuv. 6) zeigt, dass wir in ein gänzlich andres Fahrwasser gelangen: »Dieses ist die Lehre des Bhṛigu, des Sohnes des Varuṇa, die im höchsten Himmelsraume (nicht: ›Herzensraume‹, Ça k., vgl. Taitt. 2,1) gegründete, wer solches weiss, der ist gegründet, – der wird nahrungsreich, ein Nahrungesser, wird gross an Nachkommenschaft, Vieh und Brahmanenwürde und gross an Ruhm. Seine Maxime ist, die Nahrung nicht zu tadeln.« Diese Verheissung und begleitende Maxime (sie gehört zum Vorhergehenden, nicht zum Folgenden; die Anuvâka-Einteilung ist, wie auch Taitt. 2, ganz verkehrt), wie sie sich im folgenden ähnlich wiederholen, ist eine Nachbildung von Chând. 2,11-21 (oder eines ähnlichen, nicht mehr vorhandenen Abschnittes) und ist auch bei den symbolischen Ausdeutungen, wie sie den Eingang der Upanishad's zu bilden pflegen, wohl zu ertragen, nicht aber am Ende der Upanishad, und nachdem so grosse und herrliche Gedanken vorhergegangen sind.

Das Folgende scheint, wie der Form nach von Chând. 2,11-21, so dem Inhalte nach von einem Abschnitte wie Bṛih. 2,5 abhängig zu sein, wonach die verschiedenen Naturerscheinungen aufeinander angewiesen sind, die Erde der Honig der Wesen und die Wesen der Honig der Erde sind, usw. In ähnlicher Weise (nur dass die Hindeutung auf das Höhere, welche Bṛih. 2,5 der Zweck ist, hier fehlt) werden an unsrer Stelle (Anuv. 7-9) a) Leben und Leib, b) Wasser und Licht, c) Erde und Raum als, wechselweise voneinander, Nahrung und Nahrungesser gefeiert, wobei dann alle drei Male eine Verheissung und Maxime (wie Chând. 2,11-21) den Schluss macht. Aber alle diese drei (a) zu Anfang, (b) in der Mitte und (c) am Ende gegebenen Verheissungen vereinigen sich auf dem, welcher solches, d.h. die im Gegenwärtigen vorgetragene Lehre, weiss. – Das dürfte der Sinn des schwer verständlichen und bisher nicht verstandenen Schlusspassus sein.

Nachdem die Nahrung als Leben und Leib, Wasser und Licht, Erde und Raum im ganzen behandelt worden, folgt nun die Wiedererkennung (samâjñâ) derselben in der Betätigung der Lebensorgane und Naturwesen im einzelnen, nebst nachfolgender Verehrung der Nahrung als Grundlage, Macht usw. – Ça kara freilich versteht unter dem hier gefeierten tad das Brahman, aber das einzige vorhergehende Subjekt, worauf wir tad beziehen können, ist annam (die Nahrung); auch kommt brahman (allerdings wohl in der Bedeutung »Zauberformel«) selbst unter den Dingen vor, als welche man das tad verehren soll, und endlich empfiehlt der ganze Zusammenhang die Annahme, dass es wiederum nur die Nahrung ist, welche hier so überschwenglich verherrlicht wird, – wenn auch nicht so überschwenglich wie am Schlusse (Anuv. 10, S. 239), wo in schmählicher Weise der schöne Abschluss Taitt. 2,8 von dem Hinaufschwingen nach dem Tode zum annamaya, prâṇamaya, manomaya, vijñânamaya und als letztes Ziel zum ânandamaya bloss als Mittel benutzt wird, um sich auf der durch sie alle erreichten Höhe als Nahrung und Nahrungesser zu fühlen, woran sich dann ein dem Gedanken nach an das Rätselspiel Chând. 4,3,5-7 erinnernder Vers schliesst.

[235] Der Gedanke, das Brahman als den Inbegriff von Nahrung und Nahrungesser, d.h. Objektivem und Subjektivem (in späterer Sprache bhogyam und bhoktar) zu feiern, ist an sich der Upanishad's nicht unwürdig, aber die Benutzung des keine Zweiheit mehr kennenden ânandamaya als Mittel zu diesem Gedanken als Zweck erklärt sich nur aus dem Mangel an Pietät, welchen die Epigonen gegenüber den Erbstücken einer grossen, nicht mehr verstandenen Vergangenheit auch sonst zu bekunden pflegen.


1. Es begab sich, dass Bhṛigu Vâruṇi zu seinem Vater Varuṇa ging und sprach: »Lehre mich, o Ehrwürdiger, das Brahman!« – Und er1 legte ihm dieses vor [was er bisher gelernt hatte]: die Nahrung, den Odem, das Auge, das Ohr und das Manas. Er aber sprach zu ihm: »Dasjenige, fürwahr, woraus diese Wesen entstehen, wodurch sie, entstanden, leben, worein sie, dahinscheidend, wieder eingehen, das suche zu erkennen, das ist das Brahman.«

Da übte er Tapas (Askese). Nachdem er Tapas geübt, 2. erkannte er: »das Brahman ist die Nahrung. Denn aus der Nahrung entstehen ja diese Wesen, durch die Nahrung, nachdem sie entstanden sind, leben sie, und in die Nahrung gehen sie, dahinscheidend, wieder ein.«

Obwohl er dieses erkannt, ging er wiederum zu seinem Vater Varuṇa und sprach: »Lehre mich, o Ehrwürdiger, das Brahman!« – Der aber sprach zu ihm: »Durch Tapas suche das Brahman zu erkennen; das Brahman ist Tapas.« – Da übte er Tapas. Nachdem er Tapas geübt, 3. erkannte er: »das Brahman ist Lebensodem. Denn aus dem Lebensodem entstehen ja diese Wesen, durch den Lebensodem, nachdem sie entstanden sind, leben sie, und in den Lebensodem gehen sie, dahinscheidend, wieder ein.«

Obwohl er dieses erkannt, ging er wiederum zu seinem Vater Varuṇa und sprach: »Lehre mich, o Ehrwürdiger, das Brahman!« – Der aber sprach zu ihm: »Durch Tapas suche[236] das Brahman zu erkennen, das Brahman ist Tapas.« – Da übte er Tapas. Nachdem er Tapas geübt, 4. erkannte er: »das Brahman ist Manas. Denn aus dem Manas entstehen ja diese Wesen, durch das Manas, nachdem sie entstanden sind, leben sie, und in das Manas gehen sie, dahinscheidend, wieder ein.«

Obwohl er dieses erkannt, ging er wiederum zu seinem Vater Varuna und sprach: »Lehre mich, o Ehrwürdiger, das Brahman!« – Der aber sprach zu ihm: »Durch Tapas suche das Brahman zu erkennen, das Brahman ist Tapas.« – Da übte er Tapas. Nachdem er Tapas geübt, 5. erkannte er: »das Brahman ist Erkenntnis. Denn aus der Erkenntnis entstehen ja diese Wesen, durch die Erkenntnis, nachdem sie entstanden, leben sie, und in die Erkenntnis gehen sie, dahinscheidend, wieder ein.«

Obwohl er dieses erkannt, ging er wiederum zu seinem Vater Varuṇa und sprach: »Lehre mich, o Ehrwürdiger, das Brahman!« – Der aber sprach zu ihm: »Durch Tapas suche das Brahman zu erkennen, das Brahman ist Tapas.« – Da übte er Tapas. Nachdem er Tapas geübt, 6. erkannte er: »das Brahman ist Wonne. Denn aus der Wonne entstehen ja diese Wesen, durch die Wonne, nachdem sie entstanden, leben sie, und in die Wonne gehen sie, dahinscheidend, wieder ein.«


Dieses ist die Lehre des Bhṛigu, des Sohnes des Varuṇa, welche in dem höchsten Himmelsraume gegründet ist. Wer solches weiss, der ist gegründet, der wird nahrungsreich, ein Nahrungesser, wird gross an Nachkommenschaft, Vieh und Brahmanenwürde und gross an Ruhm. 7. Seine Maxime ist, die Nahrung nicht zu tadeln.

(a) Die Nahrung, fürwahr, ist das Leben, und der Nahrungesser ist der Leib. Der Leib ist in dem Leben gegründet, und das Leben ist in dem Leib gegründet. In dieser Weise ist die Nahrung in der Nahrung gegründet. Wer also die Nahrung in der Nahrung gegründet weiss, der ist gegründet,[237] der wird nahrungsreich, ein Nahrungesser, wird gross an Nachkommenschaft, Vieh und Brahmanenwürde und gross an Ruhm. 8. Seine Maxime ist, die Nahrung nicht zu verschmähen.

(b) Die Nahrung, fürwahr, ist das Wasser, und der Nahrungesser ist das Licht. Das Licht ist in dem Wasser gegründet, und das Wasser ist in dem Lichte gegründet. In dieser Weise ist die Nahrung in der Nahrung gegründet. Wer also die Nahrung in der Nahrung gegründet weiss, der ist gegründet, der wird nahrungsreich, ein Nahrungesser, wird gross an Nachkommenschaft, Vieh und Brahmanenwürde und gross an Ruhm. 9. Seine Maxime ist, die Nahrung zu mehren.

(c) Die Nahrung, fürwahr, ist die Erde, und der Nahrungesser ist der Raum (Äther). Der Raum ist in der Erde gegründet, und die Erde ist in dem Raume gegründet. In dieser Weise ist die Nahrung in der Nahrung gegründet. Wer also die Nahrung in der Nahrung gegründet weiss, der ist gegründet, der wird nahrungsreich, ein Nahrungesser, wird gross an Nachkommenschaft, Vieh und Brahmanenwürde und gross an Ruhm. 10. Seine Maxime ist, keinen [Gast] in seiner Wohnung abzuweisen.

Darum wird er aller Wege reiche Nahrung erlangen, also dass die Leute von ihm sagen: »Dem ist die Nahrung gediehen!« – Wahrlich, eben die Nahrung, die (a) jenem zu Anfang Erwähnten gediehen, die wird auch demjenigen zu Anfang gedeihen, – und die (b) jenem in der Mitte Erwähnten gediehen, die wird auch demjenigen in der Mitte gedeihen, – und die (c) jenem zu Ende Erwähnten gediehen, die wird auch demjenigen zu Ende gedeihen, der solches weiss.

Als Wohlstand wohnt sie [die Nahrung, nach Ça k. das Brahman] in der Rede, als Einnahme und Wohlstand in Aushauch und Einhauch, als Wirken in den Händen, als Gehen in den Füssen, als Entleeren im Entleerungsorgan, – das ist[238] ihre Wiedererkennung im Menschen. Nunmehr die in den Göttern: als Sättigung wohnt sie im Regen, als Gewalt im Blitze, als Pracht im Vieh, als Licht in den Gestirnen, als Fortpflanzung, Unsterbliches, Wonne in dem Zeugungsorgan2, als Weltall in dem Raume. Man soll sie [die Nahrung] verehren als die Grundlage, und man wird gegründet sein; man soll sie verehren als die Macht, und man wird mächtig sein; man soll sie verehren als die Ehre (lies mâna), und man wird geehrt sein; man soll sie verehren als Neigung, und alle Wünsche werden sich einem neigen; man soll sie verehren als die Zauberformel (brahman), und man wird zauberreich sein; man soll sie verehren als das Herumsterben um die Zauberformel, und um einen herum werden sterben die hassenden Nebenbuhler, um einen herum die feindseligen Verwandten [fast wörtlich nach Ait. Br. 8,28,1].

Er, der hier im Menschen wohnt, und jener dort in der Sonne, die sind eins. Wer, solches wissend, aus dieser Welt dahinscheidet, der, nachdem er in jenen aus Nahrungssaft bestehenden Âtman gelangt ist, und nachdem er in jenen aus Lebenshauch bestehenden Âtman gelangt ist, und nachdem er in jenen aus Manas bestehenden Âtman gelangt ist, und nachdem er in jenen aus Erkenntnis bestehenden Âtman gelangt ist, und nachdem er in jenen aus Wonne bestehenden Âtman gelangt ist, – durchstreift dann diese Welten, nach Lust sich nährend und nach Lust sich gestaltend, und sitzt da und singt dieses Lied:


O wundervoll! o wundervoll! o wundervoll!

Ich bin Nahrung, ich bin Nahrung, ich bin Nahrung!

Ich bin Nahrungesser, ich bin Nahrungesser, ich bin Nahrungesser!

Ich bin Ruhmkünder, ich bin Ruhmkünder, ich bin Ruhmkünder!
[239]

Der Erstgeborne der Weltordnung bin ich,

Schon vor den Göttern, an des Ew'gen Quellpunkt;

Wer mich austeilt, der labt mich eben damit,

Denn ich bin Nahrung, essend den Nahrungesser,

Bin über diese ganze Welt erhaben!


Wie Gold leuchtend ist, wer solches weiss! – So lautet die Upanishad.

Fußnoten

1 Wir verstehen hier nicht Varuṇa, sondern Bhṛigu, eine Auffassung, welche zwar die Erklärer (Ça kara, Röer, Weber, Müller) sämtlich gegen sich, dafür aber die analoge Stelle Chând. 7,1 für sich hat.


2 Dieses Satzglied scheint sich aus der psychischen Reihe, zu der es gehört, in die kosmische verirrt zu haben. Übrigens ist der Gebrauch von ânanda, nach allem was darüber in der Ânandavallî und Bhṛiguvallî vorgekommen, in dem hier zu verstehenden Sinne ein wahres Ärgernis.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 234-240.
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