Erstes Brâhmaṇam.

[407] Das Brahman darf nicht erklärt werden als der Purusha (Mann, Geist, personifizierte Kraft) in der Sonne, im Mond, im Blitz oder in sonstigen Erscheinungen der äussern, objektiven Natur, sondern es ist der erkenntnisartige Purusha (vijñânamayaḥ purushaḥ) d.h. das erkennende Subjekt im Menschen, welches im Schlafe nicht entwichen ist, sondern nur die Lebensorgane in sich hereingezogen hat, und aus dem beim Erwachen alle Lebensorgane, Welten und Wesen, wie aus einer Spinne der Faden, wieder hervorgehen. – Über das Verhältnis dieses Gedankens zu dem ihn einleitenden Zwiegespräche vgl. die Vorbemerkungen zu dem parallelen Texte, Kaush. 4, oben S. 51.


1. Der stolze Sohn der Balâkâ1 war ein Gelehrter [aus der Familie der] Gârgya. Der sprach zu Ajâtaçatru [dem Könige] von Kâçî: »Lass mich dir das Brahman erklären!« – Ajâtaçatru sprach: »Für diese Rede geben wir ein Tausend [Kühe]; denn [wenn man so spricht], kommen ja die Leute mit dem Rufe: ›ein Janaka, ein Janaka!‹ [ein wegen seiner Freigebigkeit sprichwörtlich gewordener König von Videha] gelaufen.«

2. Da sprach Gârgya: »Jener Geist (purusha), der in der[407] Sonne ist, den verehre ich als das Brahman.« – Da sprach Ajâtaçatru: »Rede mir doch nicht von dem! als den Vorsteher aller Wesen, als ihr Haupt und ihren König verehre ich ihn.« – Wer diesen also verehrt, der wird zum Vorsteher aller Wesen, zu ihrem Haupte und Könige.

3. Da sprach Gârgya: »Jener Geist, der in dem Monde ist, den verehre ich als das Brahman.« – Da sprach Ajâtaçatru: »Rede mir doch nicht von dem! als den Grossen im fahlen Kleide, als den König Soma verehre ich ihn.« – Wer diesen also verehrt, dem wird er Tag für Tag gekeltert und fortgekeltert; dessen Nahrung vergeht nicht.

4. Da sprach Gârgya: »Jener Geist, der in dem Blitze ist, den verehre ich als das Brahman.« – Da sprach Ajâtaçatru: »Rede mir doch nicht von dem! als den Glanzreichen verehre ich ihn.« – Wer diesen also verehrt, der wird glanzreich, und glanzreich wird seine Nachkommenschaft.

5. Da sprach Gârgya: »Jener Geist, der in dem Äther (Raume, âkâça) ist, den verehre ich als das Brahman.« – Da sprach Ajâtaçatru: »Rede mir doch nicht von dem! als das Volle, Unwandelbare [vgl. zu Chând. 3,12,9, oben S. 106] verehre ich ihn.« – Wer diesen also verehrt, dem wird Fülle an Nachkommen und Vieh, dessen Geschlecht besteht ohne Wandel in dieser Welt.

6. Da sprach Gârgya: »Jener Geist, der in dem Winde ist, den verehre ich als das Brahman.« – Da sprach Ajâtaçatru: »Rede mir doch nicht von dem! als den Indra Vaikuṇṭha (den Schneidigen), als die unüberwindliche Heerschar verehre ich ihn.« – Wer diesen also verehrt, der wird ein Überwinder, Unüberwindlicher, seine Widersacher überwindend.

7. Da sprach Gârgya: »Jener Geist, der in dem Feuer ist, den verehre ich als das Brahman.« – Da sprach Ajâtaçatru: »Rede mir doch nicht von dem! als den Vergewaltiger verehre ich ihn.« – Wer diesen also verehrt, der wird ein Vergewaltiger, und vergewaltigend wird sein Geschlecht.

8. Da sprach Gârgya: »Jener Geist, der in den Wassern ist, den verehre ich als das Brahman.« – Da sprach Ajâtaçatru: »Rede mir doch nicht von dem! als den Wohlgestalteten verehre ich ihn.« – Wer diesen also verehrt, dem nahet[408] sich Wohlgestaltetes, nicht Missgestaltetes2, und wohlgestaltet ist auch, der von ihm geboren wird.

9. Da sprach Gârgya: »Jener Geist, der in dem Spiegel ist, den verehre ich als das Brahman.« – Da sprach Ajâtaçatru: »Rede mir doch nicht von dem! als den Strahlenden verehre ich ihn.« – Wer diesen also verehrt, der wird ein Strahlender, und strahlend wird sein Geschlecht; und auch mit welchen er zusammenkommt, die überstrahlt er alle.

10. Da sprach Gârgya: »Jener da, dem da hintennach ein Ton sich erhebt [der Atem; – nach Ça k., welcher yantam zusammenliest, »jener Ton, der hinter einem Gehenden her sich erhebt«], den verehre ich als das Brahman.« – Da sprach Ajâtaçatru: »Rede mir doch nicht von dem! als den Lebenshauch (asu) verehre ich ihn.« – Wer diesen also verehrt, der gelangt in dieser Welt zum vollen Lebensalter, den verlässt der Lebensodem (prâṇa) nicht vor der Zeit.

11. Da sprach Gârgya: »Jener Geist, der in den Himmelsgegenden ist, den verehre ich als das Brahman.« – Da sprach Ajâtaçatru: »Rede mir doch nicht von dem! als unzertrennlichen Gefährten [weil aus ihnen nicht herauszukommen ist; – nach Ça k., weil die Himmelsgegenden unzertrennlich zusammengehören] verehre ich ihn.« – Wer diesen also verehrt, der wird nicht ohne Gefährten sein, von dem wird sein Gefolge nicht abgetrennt werden.

12. Da sprach Gârgya: »Jener Geist, der in dem Schatten besteht, den verehre ich als das Brahman.« – Da sprach Ajâtaçatru: »Rede mir doch nicht von dem! als den Tod verehre ich ihn.« – Wer diesen also verehrt, der gelangt in dieser Welt zum vollen Lebensalter, den überkommt nicht vor der Zeit der Tod.

13. Da sprach Gârgya: »Jener Geist, der in dem Körper (âtman) ist [nicht die Seele, sondern der Geist des Körpers als solchen], den verehre ich als das Brahman.« – Da sprach Ajâtaçatru: »Rede mir doch nicht von dem! als den Körperhaften[409] verehre ich ihn.« – Wer diesen also verehrt, der bleibt körperhaft, und körperhaft bleibt sein Geschlecht.

Da schwieg Gârgya stille.

14. Da sprach Ajâtaçatru: »Ist das alles?« – »Ja, das ist alles.« – »Damit ist es noch nicht erkannt.«3 – Da sprach Gârgya: »Lass mich als Schüler dir nahen!«

15. Da sprach Ajâtaçatru: »Das ist doch der verkehrte Strich, dass ein Brahmane sich zu einem Kshatriya als Schüler begibt, um sich das Brahman erklären zu lassen! Nun, ich will dich belehren.« Mit diesen Worten fasste er ihn bei der Hand und erhob sich. Da kamen die beiden zu einem Menschen, der war eingeschlafen. Da redete er mit jenen Namen [des Geistes, welchen Gârgya für das Brahman erklärt hatte] an: »O du Grosser im fahlen Kleide, du König Soma!« Er aber blieb liegen. Da weckte er ihn durch Streicheln mit der Hand, und er stand auf.

16. Da sprach Ajâtaçatru: »Als dieser hier eingeschlafen war, wo war da jener aus Erkenntnis bestehende Geist (vijñânamayaḥ purushaḥ), und von wo ist er jetzt hergekommen?« – Auch dieses wusste Gârgya nicht.

17. Da sprach Ajâtaçatru: »Wenn einer so eingeschlafen ist, dann hat jener aus Erkenntnis bestehende Geist durch seine Erkenntnis die Erkenntnis jener Lebensorgane an sich genommen und liegt in jenem Raume (âkâça), welcher inwendig im Herzen ist; wenn er jene gefangen nimmt, dann heisst es von dem Menschen, er schläft (svapiti); dann ist gefangen der Geruch, gefangen die Rede, gefangen das Auge, gefangen das Ohr, gefangen das Manas.

18. Wo er dann im Traume wandelt, das sind seine Welten; dann ist er gleichsam ein grosser König, oder gleichsam ein grosser Brahmane, oder er gehet gleichsam ein in Hohes und Niederes. Und gleichwie ein grosser König seine Untergebenen mit sich nimmt und in seinem Lande nach Belieben[410] umherzieht, also nimmt er jene Lebensgeister mit sich und ziehet in seinem Leibe nach Belieben umher.

19. Aber wenn er im Tiefschlafe ist, wenn er sich keines Dinges bewusst ist, dann sind da die Hitâḥ (die Wohltätigen) genannten Adern, deren sich zweiundsiebzigtausend vom Herzen aus in dem Perikardium verbreiten; in diese schlüpft er hinein und ruht in dem Perikardium; und wie ein Jüngling oder ein grosser König oder ein grosser Brahmane, ein Übermass von Wonne geniessend, ruht, also ruht dann auch er.

20. Gleichwie die Spinne durch den Faden aus sich herausgeht, wie aus dem Feuer die winzigen Fünklein entspringen, also auch entspringen aus diesem Âtman alle Lebensgeister, alle Welten, alle Götter, alle Wesen. – Sein Geheimname (upanishad) ist: »die Realität der Realität«; nämlich die Lebensgeister sind die Realität, und er ist ihre Realität.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 407-411.
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