Fünftes Brâhmaṇam.

[419] Nach dem Vedânta sind alle organischen Wesen (Pflanzen, Tiere, Menschen, Götter) wandernde Seelen und als solche Brahman; hingegen die unorganische Natur (Erde, Wasser, Feuer, Luft, Äther) bildet nur den Schauplatz, auf welchem sie die Frucht ihrer Werke empfangen. Aber auch dieser Schauplatz der unorganischen Natur ist aus Brahman entstanden (Taitt. 2,1).

Diesen Gedanken sehen wir in gegenwärtigem Brâhmaṇam aufkeimen, indem dasselbe die wechselseitige Abhängigkeit des Unorganischen und Organischen (hier bhûtâni) konstatiert, in beiden Reichen, in der unorganischen Natur und im Organischen (adhyâtmam also dasselbe was vorher bhûtâni), einen, ihre gegenseitige Abhängigkeit ermöglichenden, »kraftartigen, unsterblichen Purusha (Geist)« nachweist und diesen, sowohl objektiven als auch subjektiven, Purusha für den Âtman (das Brahman, das Unsterbliche, das Weltall) erklärt.

In der Ausführung dieses Grundgedankens werden zunächst vierzehn Erscheinungen der Aussenwelt aufgezählt:

1. pṛithivî, 2. âpas, 3. agni, 4. vâyu,

5. âditya, 6. diçaḥ, 7. candra, 8. vidyut, 9. stanayitnu,

10. âkâça, 11. dharma, 12. satyam, 13. mânusham, 14. âtman;

es sind dies, wenn wir âkâça der ersten Reihe anschliessen: die fünf Elemente, fünf kosmische Erscheinungen und vier, vom Menschen auf die Natur übertragene Potenzen (mânusham das »Menschartige« der Natur, vgl. Ait. 1,1; âtman, das Lebensprinzip der Natur). Diese alle sind für die Wesen (bhûtâni, hier die organischen) »Honig«, und die Wesen sind für sie »Honig«; d.h. sie ernähren sich voneinander, die Wesen von der Erde, die Erde von den Wesen, usw. Wie ist dies möglich? Dadurch, so antwortet der Verfasser, dass auch an und in den Wesen (adhyâtmam) entsprechende Potenzen vorhanden sind:

1. çarîram, 2. retas, 3. vâc, 4. prâṇa,

5. cakshuḥ, 6. çrotram, 7. manas, 8. tejas, 9. çabda (svara),

10. hṛidi âkâça, 11. dharma, 12. satyam, 13. mânusham, 14. âtman,

und dass in beiden, den kosmischen wie den psychischen Potenzen, ein tejomaya amṛitamaya purusha wohnt, welcher in allen achtundzwanzig Erscheinungen identisch, nämlich der Âtman in uns ist. (Wer es liebt, den Tiefen nachzugehen, der kann mit diesem Gedanken die Kantische[419] Lehre von der »Affinität der Erscheinungen« vergleichen, welche ihren letzten Grund in der »synthetischen Einheit der Apperzeption«, indisch gesprochen in dem Âtman, hat).

Diese »Honiglehre« (von der Affinität der Naturerscheinungen vermöge des Âtman in ihnen) findet unser Autor schon in vier vedischen Versen ausgesprochen, von denen wenigstens die beiden letzten, wenn man Indra in den Âtman umdeutet, allerdings geeignet sind, die Lehre zu illustrieren.


1. Diese Erde ist aller Wesen Honig, dieser Erde sind alle Wesen Honig; aber was in der Erde jener kraftvolle unsterbliche Geist ist, und was in bezug auf das Selbst jener aus Körper bestehende, kraftvolle, unsterbliche Geist ist, dieser ist eben das, was diese Seele ist; diese ist das Unsterbliche, diese das Brahman, diese das Weltall.

2. Diese Wasser sind aller Wesen Honig, diesen Wassern sind alle Wesen Honig; aber was in den Wassern jener kraftvolle, unsterbliche Geist ist, und was in bezug auf das Selbst jener aus Samen bestehende, kraftvolle, unsterbliche Geist ist, dieser ist eben das, was diese Seele ist; diese ist das Unsterbliche, diese das Brahman, diese das Weltall.

3. Dieses Feuer ist aller Wesen Honig, diesem Feuer sind alle Wesen Honig; aber was in dem Feuer jener kraftvolle, unsterbliche Geist ist, und was in bezug auf das Selbst jener aus Rede bestehende, kraftvolle, unsterbliche Geist ist, dieser ist eben das, was diese Seele ist; diese ist das Unsterbliche, diese das Brahman, diese das Weltall.

4. Dieser Wind ist aller Wesen Honig, diesem Winde sind alle Wesen Honig; aber was in dem Winde jener kraftvolle, unsterbliche Geist ist, und was in bezug auf das Selbst als Odem jener kraftvolle, unsterbliche Geist ist, dieser ist eben das, was diese Seele ist; diese ist das Unsterbliche, diese das Brahman, diese das Weltall.

5. Diese Sonne ist aller Wesen Honig, dieser Sonne sind alle Wesen Honig; aber was in der Sonne jener kraftvolle, unsterbliche Geist ist, und was in bezug auf das Selbst jener aus Auge bestehende, kraftvolle, unsterbliche Geist ist, dieser ist eben das, was diese Seele ist; diese ist das Unsterbliche, diese das Brahman, diese das Weltall.

6. Diese Himmelsgegenden sind aller Wesen Honig, diesen[420] Himmelsgegenden sind alle Wesen Honig; aber was in den Himmelsgegenden jener kraftvolle, unsterbliche Geist ist, und was in bezug auf das Selbst jener aus Ohr bestehende, widerhallartige, kraftvolle, unsterbliche Geist ist, dieser ist eben das, was diese Seele ist; diese ist das Unsterbliche, diese das Brahman, diese das Weltall.

7. Dieser Mond ist aller Wesen Honig, diesem Monde sind alle Wesen Honig; aber was in dem Monde jener kraftvolle, unsterbliche Geist ist, und was in bezug auf das Selbst jener aus Manas bestehende, kraftvolle, unsterbliche Geist ist, dieser ist eben das, was diese Seele ist; diese ist das Unsterbliche, diese das Brahman, diese das Weltall.

8. Dieser Blitz ist aller Wesen Honig, diesem Blitze sind alle Wesen Honig; aber was in dem Blitze jener kraftvolle, unsterbliche Geist ist, und was in bezug auf das Selbst jener aus Glut bestehende, kraftartige, unsterbliche Geist ist, dieser ist eben das, was diese Seele ist; diese ist das Unsterbliche, diese das Brahman, diese das Weltall.

9. Dieser Donner ist aller Wesen Honig, diesem Donner sind alle Wesen Honig; aber was in dem Donner jener kraftvolle, unsterbliche Geist ist, und was in bezug auf das Selbst jener aus Schall, aus Ton bestehende, kraftvolle, unsterbliche Geist ist, dieser ist eben das, was diese Seele ist; diese ist das Unsterbliche, diese das Brahman, diese das Weltall.

10. Dieser Raum (Äther) ist aller Wesen Honig, diesem Raume sind alle Wesen Honig; aber was in dem Raume jener kraftvolle, unsterbliche Geist ist, und was in bezug auf das Selbst als der Raum im Herzen jener kraftvolle, unsterbliche Geist ist, dieser ist eben das, was diese Seele ist; diese ist das Unsterbliche, diese das Brahman, diese das Weltall.

11. Diese Gerechtigkeit ist aller Wesen Honig, dieser Gerechtigkeit sind alle Wesen Honig; aber was in der Gerechtigkeit jener kraftvolle, unsterbliche Geist ist, und was in bezug auf das Selbst jener aus Gerechtigkeit bestehende, kraftvolle, unsterbliche Geist ist, dieser ist eben das, was diese Seele ist; diese ist das Unsterbliche, diese das Brahman, diese das Weltall.

12. Diese Wahrheit ist aller Wesen Honig, dieser Wahrheit sind alle Wesen Honig; aber was in der Wahrheit jener[421] kraftvolle, unsterbliche Geist ist, und was in bezug auf das Selbst jener aus Wahrheit bestehende, kraftvolle, unsterbliche Geist ist, dieser ist eben das, was diese Seele ist; diese ist das Unsterbliche, diese das Brahman, diese das Weltall.

13. Dieses Menschheitliche ist aller Wesen Honig, diesem Menschheitlichen sind alle Wesen Honig; aber was in dem Menschheitlichen jener kraftvolle, unsterbliche Geist ist, und was in bezug auf das Selbst jener menschheitliche, kraftvolle, unsterbliche Geist ist, dieser ist eben das, was diese Seele ist; diese ist das Unsterbliche, diese das Brahman, diese das Weltall.

14. Dieses Selbst ist aller Wesen Honig, diesem Selbste sind alle Wesen Honig; aber was in dem Selbste jener kraftvolle, unsterbliche Geist ist, und was als das Selbst jener kraftvolle, unsterbliche Geist ist, dieser ist eben das, was diese Seele ist; diese ist das Unsterbliche, diese das Brahman, diese das Weltall.

15. Fürwahr, dieses Selbst ist der Oberherr aller Wesen, ist der König aller Wesen; darum, gleichwie in der Radnabe und in der Radschiene alle Speichen befestigt sind, also sind in diesem Selbste alle Wesen, alle Götter, alle Welten, alle Lebenshauche, alle diese Seelen befestigt.


16. Dieses, fürwahr, ist jener Honig, welchen Dadhyañc, der Sohn des Atharvan, den Açvinen verriet. Dieses schaute der Ṛishi und sprach (Ṛigv. 1,116,12):


Dies grosse Werk, zu Nutzen euch geschehen,

Will ich verkünden, wie der Donner Regen,

Dass euch Dadhyañc, Atharvan's Sohn, den Honig

Mit einem Pferdekopfe hat verraten.8
[422]

17. Dieses, fürwahr, ist jener Honig, welchen Dadhyañc, der Sohn des Atharvan, den Açvinen verriet. Dieses schaute der Ṛishi und sprach (Ṛigv. 1,117,22):


Ihr habt dem Dadhyañc, des Atharvan Sohne,

Den Kopf des Pferdes aufgesetzt, o Açvin's;

Der treue zeigte euch des Tvashṭar Honig,

Dass ihr ihn, Mächt'ge, als Geheimnis wahrtet.


18. Dieses, fürwahr, ist jener Honig, welchen Dadhyañc, der Sohn des Atharvan, den Açvinen verriet. Dieses schaute der Ṛishi und sprach:


Als Burgen9 schuf Zweifüssler er,

Als Burgen die Vierfüssler auch;

In Burgen ging als Vogel er,

In Burgen er als Bürger (purusha) ein.


Das ist, fürwahr, jener Purusha (Geist), welcher in allen Burgen (Leibern) als Burgbewohner weilt. Nichts gibt es, womit er sich nicht bedeckte, nichts gibt es, worein er sich nicht versteckte.

19. Dieses, fürwahr, ist jener Honig, welchen Dadhyañc, der Sohn des Atharvan, den Açvinen verriet. Dieses schaute der Ṛishi und sprach (Ṛigv. 6,47,18):


In jeglicher Gestalt ward er sein Abbild,

Dies ist, was als Gestalt von ihm zu schauen;

Durch Zauber vielgestaltig wandelt Indra,

Geschirrt sind seine zehnmal hundert Rosse.


Er, fürwahr, ist die Rosse [nach Ça kara: die Sinne!], er, fürwahr, ist zehn und ist tausend, ist vieles, ist unendliches. – Dieses Brahman ist ohne Früheres und ohne Späteres, ohne Inneres und ohne Äusseres; diese Seele ist das Brahman, die allvernehmende. – So lautet die Unterweisung.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 419-423.
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