4. Die Definition

[111] Eine Definition ist eine Aussage, und jede Aussage hat ihre Teile. Wie die Aussage sich zum Gegenstande verhält, ebenso verhält sich auch der Teil der Aussage zum Teil des Gegenstandes. Daraus ergibt sich die Frage, ob nun auch der Begriff der Bestandteile in dem Begriff des Ganzen enthalten sein muß oder nicht. In manchen Fällen nun sind die Teile augenscheinlich im Begriff des Ganzen mit enthalten, in anderen Fällen sind sie es wieder nicht. So enthält der Begriff des Kreises nicht den der Kreisabschnitte, wohl aber enthält der Begriff der Silbe den ihrer einzelnen Laute. Und doch wird der Kreis gerade so in Abschnitte geteilt, wie die Silbe in Laute.

Eine weitere Frage ist folgende. Wenn die Teile früher sind als das Ganze, der spitze Winkel aber ein Teil des rechten Winkels und der Finger ein Teil des Organismus ist, so würde folgen, daß der spitze Winkel früher ist als der rechte Winkel, und der Finger früher ist als der ganze Mensch. Und doch möchte man eher meinen, daß vielmehr der rechte Winkel und der Mensch das Frühere ist. Denn erstens dem Begriffe nach wird jenes von diesem abgeleitet, und zweitens auch der Existenz nach sind diese das Ursprünglichere, weil sie auch ohne jene bestehen können.

Indessen das Wort Teil hat mehrere Bedeutungen. Teil heißt in der einen Bedeutung, das was zum Messen in quantitativem Sinne dient. Davon sehen wir hier ab; wir fassen die andere Bedeutung ins Auge, wonach Teil oder Moment das ist, was zum Bestande des selbständigen Wesens gehört. Nun haben wir dreierlei: die Materie, und die Form, und drittens die Vereinigung beider, und alles dreies, Materie, Form und die Vereinigung beider ist selbständiges Wesen. So kann in gewissem Sinne auch die Materie als Teil, Moment, von etwas gelten, in anderem Sinne freilich nicht, und zwar sofern als Teil nur das angesehen werden kann, was Element der begrifflichen Form ist. So ist Fleisch kein Teil der Höhlung; es ist nur die Materie, an der eine Höhlung sich bildet; wohl aber macht es ein Element der Stumpfnasigkeit aus. Und so ist das Erz wohl ein Teil der Bildsäule als des Ganzen aus Form und Materie, aber nicht ein Teil der Bildsäule, sofern sie als bloße Form betrachtet wird. Denn die Form gilt es zu bestimmen, und ebenso ist jeder Gegenstand nach der Form, die er hat, zu bestimmen; das Materielle dagegen läßt sich niemals an und für sich bestimmen. So erklärt es sich, daß der Begriff des Kreises nicht den der Kreisabschnitte, dagegen wohl der Begriff der Silbe den ihrer Laute enthält. Denn die Laute sind[111] Bestandteile der Form des Wortes und nicht von materieller Art; dagegen sind die Kreisabschnitte Teile gerade in diesem Sinne als Materielles, und aus ihnen setzt sich der Kreis zusammen. Indessen stehen sie der Form immerhin noch näher als das Erz der Form steht, wo in dem Erze die Kugelform hervorgebracht wird. In einer Bedeutung freilich sind auch die Laute nicht ohne weiteres in dem Begriff der Silbe enthalten, z.B. nicht diese bestimmten in Wachs gebildeten oder in der Luft tönenden. Diese sind dann wohl ein Bestandteil der Silbe, aber sie sind es nur als sinnlich Wahrnehmbares, Materielles.

So verschwindet auch die Linie, wenn man sie in ihre Hälften teilt, und der Mensch, wenn man ihn in Knochen, Nerven und Muskeln zerlegt. Aber deswegen bestehen sie doch nicht aus diesen in dem Sinne von Teilen der Substanz, sondern es sind nur materielle Teile, Teile des aus Form und Materie Zusammengesetzten, nicht Teile der Form und dessen, was den Begriff ausmacht. Darum sind sie auch nicht Bestandteile des Begriffes. So kommt es denn wohl vor, daß im Begriff des Objekts der Begriff solcher Teile mit enthalten ist; in anderen Fällen aber braucht darin der Begriff solcher Teile nicht enthalten zu sein, und zwar dann, wenn sie nicht Teile der Verbindung von Materie und Form sind.

Daher kommt es denn auch, daß manche Dinge aus dem, worin sie sich auflösen, als aus ihren Prinzipien bestehen, und andere nicht. Alles was aus Form und Materie als deren Vereinigung besteht, wie das Stumpfnasige oder der eherne Kreis, das löst sich in diese Bestandteile auch wieder auf, und zu solchem verhält sich die Materie als ein Bestandteil. Was aber nicht mit Materie verbunden, sondern rein immateriell ist, dasjenige, dessen Begriff nur Begriff der Form ist, das läßt sich nicht auflösen, entweder überhaupt nicht, oder doch nicht in der oben bezeichneten Weise. Von jenen Dingen also ist das Materielle Prinzip und Bestandteil; von der Form aber macht es weder das Prinzip noch einen Bestandteil aus. Aus diesem Grunde zersetzt sich eine Statue aus Ton und wird Ton; es zersetzt sich eine eherne Kugel und wird Erz; es zersetzt sich Kallias und wird zu Fleisch und Knochen, und der Kreis zerfällt in die Kreisabschnitte. Da haben wir es mit etwas zu tun, was mit Materie verbunden ist. Denn der begriffliche Kreis und der reale Kreis werden mit demselben Worte bezeichnet, weil es nicht für alle einzelnen realen Dinge jedesmal einen besonderen Ausdruck gibt.

Damit wäre das Verhältnis nach seinem wahren Wesen dargelegt. Dennoch wollen wir die Sache noch deutlicher machen, indem wir die obige zweite[112] Frage wieder aufnehmen. Das was Moment des Begriffes ist und worin sich der Begriff zerlegen läßt, das ist ihm gegenüber das Frühere, Allgemeinere, entweder alles oder doch manches davon. Aber der Begriff des rechten Winkels wird nicht auf den Begriff des spitzen Winkels zurückgeführt, sondern der Begriff des spitzen Winkels auf den des rechten. Wer den spitzen Winkel definieren will, der zieht den rechten Winkel heran: der spitze Winkel ist der Winkel, der kleiner ist als ein rechter. Ähnlich verhält sich zu einander Kreis und Halbkreis: der Halbkreis wird durch den Kreis definiert; ebenso der Finger durch den ganzen Organismus; der Finger ist dieses bestimmte Glied an einem Menschenleibe. Also das was Moment ist im Sinne von Materie und worin sich das Ganze als in seine Materie zerlegen läßt, ist das Spätere; dagegen was Moment ist im Sinne eines Elementes des Begriffes und der begrifflichen Substanz, das ist das Frühere, entweder alles oder doch manches davon. Da aber die Seele des Tieres, die doch die Substanz des Organismus ist, die begriffliche Wesenheit, die Form und der Wesensbegriff ist für einen Leib von dieser Art, und da jedes Glied, wenn es zutreffend bestimmt werden soll, nicht ohne seine Funktion bestimmt werden kann, die wieder nicht ohne Empfindung stattfinden kann: so sind die Bestandteile der Seele, alle oder manche, dem Organismus als Ganzen gegenüber das Ursprünglichere, und ebenso gegenüber jedem einzelnen Organ. Der Leib aber und seine Bestandteile sind später als diese Substanz, und was in diese Bestandteile als in seine Bestandteile zerfällt, das ist nicht das begriffliche Wesen, sondern das aus Form und Materie bestehende Verbundene.

Die Bestandteile des Leibes sind also in der einen Weise gegenüber dieser Verbindung das Frühere, in der anderen Weise sind sie es nicht. Denn sie vermögen nicht getrennt für sich zu existieren. Der Finger ist nicht in jedem Zustande der Finger eines lebenden Wesens; wenn der Finger abgestorben ist, ist er ein Finger nur noch dem Namen nach. Manches aber ist mit der Verbindung von Form und Materie zugleich gegeben, nämlich das, was ein Grundwesentliches und ein Ursprüngliches ist, in dem der Begriff und das substantielle Wesen wohnt, wie etwa das Herz und das Gehirn; hier ist es gleichgültig, welches von beiden dafür angesehen wird. Mensch dagegen, Pferd, überhaupt das, was in diesem Sinne ein Einzelwesen bezeichnet, aber als allgemeine Bezeichnung, das ist kein rein begriffliches Wesen, sondern eine Verbindung von diesem bestimmten Begriff mit dieser bestimmten Materie als Allgemeines. Ein Individuum dagegen aus der[113] singulär bestimmten letzten Materie ist etwa Sokrates, und ebenso verhält es sich auch mit den anderen Dingen.

Bestandteile also gibt es von der Form – und unter Form verstehe ich das begriffliche Wesen – und von der Vereinigung von Form und Materie, ebenso wie von der Materie selber. Aber Teile des Begriffes sind nur die Teile der Form; der Begriff aber bezeichnet das Allgemeine. Kreis und Begriff des Kreises, Seele und Begriff der Seele fallen zusammen. Von dem mit Materie Verbundenen aber, z.B. von diesem bestimmten Kreise, von einem einzelnen sinnlichen oder intelligiblen – beim intelligiblen denke ich z.B. an die mathematischen, beim sinnlichen an die Kreise aus Erz oder aus Holz –, von diesen gibt es keine Definition; sie werden erkannt je nach ihrer Art, das Intelligible vermittelst des Denkens, das Sinnliche vermittelst der Wahrnehmung. Sind sie aber aus der realen Welt entrückt, so bleibt es ungewiß, ob sie überhaupt noch sind oder nicht sind; erkannt und bezeichnet werden sie jedenfalls immer durch den allgemeinen Begriff. Die Materie aber als solche ist unerkennbar. Materie gibt es von sinnlicher und von intelligibler Art. Sinnlich z.B. ist Erz, Holz und die bewegte Materie überhaupt, intelligibel aber ist die in dem sinnlichen Körper gegenwärtige, aber nicht als sinnliche gegenwärtige, z.B. das Mathematische.

Wie es sich mit dem Ganzen und dem Teile, mit dem Ursprünglichen und Abgeleiteten dabei verhält, haben wir damit dargelegt. Nun müssen wir noch die Frage beantworten, die jemand aufwerten könnte, ob der rechte Winkel, der Kreis, der Organismus das Frühere ist, oder die Teile, in welche jene Gegenstände zerlegt werden und aus denen sie bestehen. Die Antwort kann nur lauten, daß sich das so schlechthin nicht sagen läßt. Ist die Seele das Lebewesen selber als beseeltes, ist die Seele des einzelnen das einzelne lebende Wesen selber, fällt Kreis und Kreisbegriff, rechter Winkel und Begriff des rechten Winkels und sein begriffliches Wesen zusammen: so muß man das reale Einzelne bestimmtem Einzelnen gegenüber, nämlich gegenüber den Bestandteilen des Begriffs, also auch gegenüber den Bestandteilen des realen einzelnen rechten Winkels als das Spätere bezeichnen. Denn auch der materielle Winkel, der Winkel aus Erz, ist ein rechter Winkel, und ebenso der von zwei bestimmten einzelnen Schenkeln eingeschlossene. Dagegen ist der immaterielle Winkel den Bestandteilen des Winkelbegriffs gegenüber das Spätere, den Teilen am realen einzelnen Winkel gegenüber das Frühere. Schlechthin aber läßt sich die Frage nicht entscheiden. Im anderen Falle aber, wenn die Seele etwas anderes als das[114] Lebewesen und nicht dieses selbst ist, auch dann muß man die Frage das eine Mal bejahen, das andere Mal verneinen, und zwar in der Weise wie wir es oben dargelegt haben.

Eine weitere mit Fug und Recht aufzuwerfende Frage ist die, welche Elemente der Form zuzurechnen sind, welche nicht der Form, sondern vielmehr der Verbindung von Form und Materie angehören, eine Frage, die um so bedeutsamer ist, als, solange sie nicht entschieden ist, eine Definition irgend eines Objekts überhaupt nicht gegeben werden kann. Denn die Definition gibt das Allgemeine und die Form an. Solange nun nicht klargestellt ist, welche Elemente der Materie zugehören, welche nicht, läßt sich auch der Begriff des Gegenstandes nicht klarstellen.

Wo nun offenbar das eine als Form an immer wieder Verschiedenes herantritt, wie die Kreisform an Erz, an Stein und an Holz, da leuchtet es von selber ein, daß weder Erz noch Stein irgendwie dem Begriff des Kreises angehört, weil dieser ihnen selbständig gegenübersteht. Wo aber solche Selbständigkeit nicht wahrgenommen wird, da hindert zwar nichts, daß das Verhältnis gleichwohl dasselbe sei, wie denn, wenn alle Kreise, die man wahrnähme, aus Erz gebildet wären, doch das Erz nichtsdestoweniger mit der Kreisform nichts zu tun hätte; aber es würde in diesem Falle schwer sein, beides in Gedanken auseinander zu halten. So erscheint die menschliche Gestalt z.B. jedesmal in Fleisch und Knochen und sonstigen ähnlichen Materialien verwirklicht. Sind nun diese darum auch Bestandteile der Form und des Begriffs? Doch wohl nicht, sondern sie haben nur die Bedeutung der Materie; aber weil die Form in diesem Falle nicht auch an anderes herantritt, wird es uns nicht leicht gemacht, sie getrennt aufzufassen.

Da nun zwar, daß ein solches Verhältnis vorkommt, anzunehmen ist, aber wann es vorkommt, ungewiß bleibt, so finden manche auch beim Kreise und beim Dreieck eine Schwierigkeit dieser Art, als sei es nicht angemessen, ihre begriffliche Bestimmung in den Linien und der kontinuierlichen Ausdehnung zu finden, sondern als müsse man diesem allen hier ganz die gleiche Bedeutung zuschreiben wie dem Fleisch oder den Knochen beim Menschen oder wie dem Erz und Stein bei der Bildsäule. So führen sie denn alles auf die Zahlen zurück und bestimmen den Begriff der Linie als den der Zweizahl. Ähnlich machen es die Anhänger der Ideenlehre. Von diesen bezeichnen die einen die Zweiheit, die anderen die Form der Linie als das begriffliche Wesen der Linie. Jene meinen, es gebe wohl Fälle, wo Form und Geformtes, als ohne Materie, identisch sei; so sei es bei der Zweiheit und der Form der[115] Zweiheit; aber bei der Linie verhalte es sich doch nicht so. Daraus folgt dann der bedenkliche Satz, daß eins und dasselbe als die Form vieler Objekte zu gelten habe, deren Form doch augenscheinlich verschieden ist, ein Ergebnis, zu dem die Pythagoreer denn auch wirklich gelangt sind, und weiter zugleich ergibt sich daraus die Möglichkeit, eines und dasselbe als die Form von allem zu setzen und allem außer diesem einen die Bedeutung der Form abzusprechen! Und so würde denn schließlich alles eins werden.

Wir haben gezeigt, daß, was mit der Aufgabe der Definition zusammenhängt, ernste Schwierigkeiten bereitet, und auch dargelegt, was der Grund dieser Schwierigkeiten ist. Darum ist es auch ein überkünstliches Verfahren, alles so auf eines zurückführen und die Materie ausschalten zu wollen. Denn es gibt Fälle, wo doch wohl augenscheinlich diese bestimmte Form an dieser bestimmten Materie vorkommt, oder diese bestimmte Materie sich in dieser bestimmten Fassung befindet. Der Vergleich, den der jüngere Sokrates mit den Organismen anzustellen pflegte, stimmt doch nicht recht; er führt eher von der Wahrheit ab und legt die Annahme nahe, als könne einer ebenso Mensch sein ohne seine Glieder, wie ein Kreis sein kann ohne Erz. Die Analogie trifft aber nicht zu. Denn der Organismus ist ein sinnlich Wahrnehmbares und läßt sich nicht definieren, ohne daß man seine sinnliche Natur, das was an ihm in Bewegung ist, heranzieht, also auch nicht ohne daß man die von der Seele regierten bestimmten Funktionen der Glieder in Rechnung stellt. Nicht in jedem Sinne ist die Hand ein Glied des Menschen, sondern sie ist es nur, sofern sie als beseelt ihr Werk zu verrichten vermag; ist sie unbeseelt, so ist sie auch kein Glied mehr.

Was aber die mathematischen Gegenstände betrifft – weshalb gehören die Begriffe der Teile hier nicht dem Begriffe des Ganzen an? z.B. warum ist der Begriff des Halbkreises kein Bestandteil im Begriff des Kreises? Hier handelt es sich doch nicht um sinnlich wahrnehmbare Dinge. Indessen darauf kommt es nicht an. Es gibt ja eine Materie auch bei manchem, was kein Sinnliches ist. Ja, es gibt überhaupt eine Materie von jeglichem, was kein Wesensbegriff und keine reine Form an sich, sondern bestimmtes Einzelwesen ist. Also vom Kreis als Allgemeinem sind die Halbkreise keine Teile, aber wohl sind sie es von den realen einzelnen Kreisen, wie wir vorher dargelegt haben. Denn wie es sinnliche Materie gibt, so gibt es auch intelligible Materie.

Nun ist aber auch das klar, daß die Seele die oberste Wesenheit, der Leib dagegen Materie ist und der Mensch oder das lebende Wesen überhaupt[116] eine Verbindung von Form und Materie als Allgemeinem ist. Sokrates aber und Koriskos, wenn nicht erst diese Verbindung, sondern schon die Seele ihre Wesenheit ausmacht, wären damit ein Zwiefaches; die einen fassen dabei die Seele, die anderen die Verbindung von Leib und Seele ins Auge. Nimmt man sie aber einfach als diese bestimmte Seele und diesen bestimmten Leib außerhalb ihrer Verbundenheit, so verhalten sich in diesen realen Individuen Seele und Leib ebenso wie beim Menschen im allgemeinen.

Ob es nun neben der Materie solcher Substanzen wie die besprochenen noch eine andere gibt und ob man sich noch nach einer anderen Art von selbständigen Wesen umtun muß, wie etwa die Zahlen oder sonst etwas dergleichen, das soll später untersucht werden. Denn gerade zu diesem Behuf suchen wir in betreff der sinnlichen Substanzen ins klare zu kommen, während diese Lehre von den sinnlichen Substanzen in gewissem Sinne eigentlich die Aufgabe der Naturphilosophie als der zweiten, der angewandten Philosophie ausmacht. Denn der Naturphilosoph hat es nicht bloß mit der Erforschung der Materie zu tun, sondern auch mit der Erforschung des begrifflichen Wesens, und mit letzterem vorzugsweise. Die Frage aber, die sich betreffs der Begriffsbestimmung erhebt, in welcher Weise es zu verstehen ist, daß die begrifflichen Merkmale Bestandteile des Begriffes sind und der Begriff doch ein einheitlicher ist; – der Gegenstand nämlich ist offenbar einheitlich; es ist also die Frage auch hier die, wodurch der Gegenstand, der doch Teile hat, einheitlich ist – diese Frage soll später erörtert werden.

So hätten wir denn die Frage nach der Bedeutung des Wesensbegriffs und dem Sinne seines An-und-für-sich-Seins allgemein für jeden Gegenstand erörtert. Wir haben dargelegt, weshalb bei manchen Gegenständen der Wesensbegriff die Bestandteile des definierten Gegenstandes mitenthält, bei anderen nicht, und nachgewiesen, daß die Bestandteile von materieller Art in dem Ausdruck für die begriffliche Wesenheit keinen Platz haben, weil sie nicht Bestandteile jener substantiellen Wesenheit sind, sondern der Verbindung von Materie und Form angehören. Für diese aber gibt es in gewissem Sinne einen begrifflichen Ausdruck, und auch wieder nicht. Von der Verbindung mit der Materie nämlich gibt es keinen, denn das ist ein begrifflich Unbestimmtes; dagegen wohl im Sinne der ersten substantiellen Wesenheit; so z.B. gibt es für den Menschen den begrifflichen Ausdruck der Seele. Denn die substantielle Wesenheit ist die immanente Form; aus ihr und der Materie wird die konkrete Wesenheit gebildet. So ist es z.B. bei der Höhlung der Fall. Diese in Verbindung mit Nase macht die Stumpfnase[117] und die Stumpfnasigkeit – darin, sahen wir oben, kommt die Nase zweimal vor; – in der konkreten Wesenheit, z.B. in der Stumpfnase oder in Kallias, ist eben auch die Materie mit einbegriffen. Auch das ist bemerkt worden, daß die substantielle Wesenheit und die reale Einzelheit bei manchen Objekten Identisch ist, so bei den obersten Wesenheiten, z.B. bei dem Krummen und dem Begriff der Krümmung, wenn diese ein Oberstes und Ursprüngliches ist. Ursprünglich aber nenne ich das Wesen, sofern es nicht benannt wird, danach, daß das eine am anderen, daß es an einem Substrat als seiner Materie ist. Was aber als Materie oder als mit Materie verbunden bezeichnet wird, bei dem fällt der Begriff nicht mit der realen Einzelheit zusammen, und ebensowenig bei dem, was nur durch eine zufallende Bestimmung eine Einheit bildet, wie Sokrates und kunstverständig. Denn dieses ist nur im akzidentellen Sinne identisch.

Zunächst wollen wir nunmehr, was wir in der Analytik über die Definition nicht ausgeführt haben, hier nachtragen; denn das dort bezeichnete Problem ist von hoher Bedeutung für die Erörterung des Begriffs der Wesenheit. Ich meine damit das Problem: wie es kommt, daß dasjenige, dessen Begriffsbezeichnung wir als eine Definition betrachten, eine Einheit bildet. So wenn wir den Menschen als das lebende Wesen mit zwei Beinen bezeichnen; wenn wir das hier einmal als Definition für den Menschen gelten lassen dürfen. In welchem Sinne ist dies nun eines und nicht eine Vielheit: »lebendes Wesen« und »mit zwei Beinen«? Mensch und blaß ist eine Vielheit, solange nicht das eine als Bestimmung am anderen vorkommt; dagegen wird es eines, wenn das eine Prädikat des anderen wird und das Substrat, der Mensch, dadurch eine Bestimmung empfängt. Denn auf diese Weise wird es zu einem, und was sich ergibt, ist der blasse Mensch. Im obigen Falle aber befaßt der eine Begriff den anderen nicht in sich. Denn der Begriff der Gattung, so scheint es, hat die begrifflichen Unterschiede der Arten nicht in sich; sonst würde eines und dasselbe das Entgegengesetzte zugleich in sich enthalten, da ja die Unterschiede, durch die die Gattung in Arten zerfällt, Gegensätze bilden. Aber auch dann, wenn die Gattung die Unterschiede in sich trägt, bleibt die Frage dieselbe, falls eine Mehrheit von Unterschieden zusammenkommt, wie Landtier, zweibeinig, ungefiedert. In welchem Sinne gehen diese Unterschiede in eine Einheit zusammen und bilden sie nicht eine Vielheit? Sicher nicht dadurch, daß sie alle an einem und demselben sind; denn so würde zuletzt aus allem eines werden. Und dennoch muß mindestens alles, was in der Definition enthalten ist, notwendig[118] eine Einheit ausmachen. Denn die Definition ist eine einheitliche Aussage und zwar eine Bezeichnung der Wesenheit und muß schon deshalb die Bezeichnung eines Einheitlichen sein. Denn die Wesenheit, das ist unser Satz, bedeutet ein Einheitliches, Bestimmtes.

Wir müssen zuerst die auf Klassifikation beruhende Definition ins Auge fassen. In der Definition findet sich nichts weiter als die Gattung, die als die oberste bezeichnet wird, und die unterscheidenden Merkmale. Die anderen Gattungen sind wieder die oberste, aber mit ihr zugleich die darunter begriffenen Gattungen mit ihren unterscheidenden Merkmalen. So ist eine oberste Gattung »lebendes Wesen«; daran schließt sich an »lebendes Wesen mit zwei Beinen« und daran wieder »ungefiedertes lebendes Wesen mit zwei Beinen«, und so weiter, wenn noch immer mehr Bestimmungen hinzutreten. Dabei macht es überhaupt keinen Unterschied, ob der Bestimmungen viele oder wenige sind, also auch keinen Unterschied, ob es wenige oder bloß zwei sind. Sind es zwei, so bezeichnet die eine das unterscheidende Merkmal, die andere die nächst höhere Gattung. So ist in dem Ausdruck: »lebendes Wesen mit zwei Beinen« Lebewesen die Gattung und das andere das unterscheidende Merkmal. Wenn nun die Gattung durchaus nicht neben den Arten als den Arten der Gattung steht, oder wenn sie zwar neben ihnen steht, aber als Materie, – so z.B. ist der Laut beides, Gattung und Materie, die unterscheidenden Merkmale aber bilden daraus die Arten als die besonderen Laute, – so ist offenbar die Definition die Bezeichnung auf Grund der unterscheidenden Merkmale. Aber nun muß auch weiter der Unterschied wieder in seine Unterschiede zerlegt werden. Z.B. eine Art der lebenden Wesen ist das mit Füßen versehene; dann muß man, wenn man sachgemäß verfahren will, wieder den Unterschied des mit Füßen versehenen Lebewesens mit Rücksicht auf das Mit-Füßen-versehen-sein weiter einteilen; man darf also nicht die eine Art des mit Füßen Versehenen als gefiedert, die andere als ungefiedert bestimmen. Wenn man in letzterer Weise verfährt, so geschieht es nur aus Unvermögen. Vielmehr wird man unterscheiden: mit gespaltenem oder ungespaltenem Fuß; denn das sind Unterschiede des Fußes, und gespaltene Füße haben ist eine Art des Füße-habens. Und so wird man immer weiter gehen, bis man bei dem ankommt, was keine Unterscheidung mehr zuläßt: dann erhält man so viel Arten, wie es unterscheidende Merkmale des Fußes gibt, und die mit Füßen versehenen Lebewesen werden ebensoviele Arten bilden, wie es unterscheidende Merkmale gibt.[119]

Verhält sich das nun so, so wird offenbar der letzte Unterschied, weil er alle oberen Unterschiede in sich enthält, die Wesenheit des Gegenstandes und seine Definition bilden, wenn man doch beim Definieren nicht eins und dasselbe mehrmals sagen will, was eine Abundanz ergäbe. Eine solche aber käme sonst heraus. Wenn einer sagt: ein mit Füßen versehenes zweifüßiges Lebewesen, so hat er nichts anderes gesagt als ein mit Füßen versehenes Lebewesen, welches mit zwei Füßen versehen ist. Und wenn er so weiter das Füße-haben nach den dafür eigentümlichen Unterscheidungen einteilt, so wird er noch mehrmals dasselbe sagen und ebensoviele Male, als sich Unterscheidungen anbringen lassen. Wird also der Artunterschied wieder in seinen Artunterschied zerlegt, so wird einer der letzte Unterschied sein, und dieser ist die Form und die Wesenheit. Teilt man dagegen nach zufälligen Merkmalen ein – z.B. es teilt jemand das mit Füßen Versehene in das Weiße und in das Schwärze –, dann allerdings wird die Zahl der anzugebenden Unterschiede eben so groß wie die Zahl der vorgenommenen Einteilungen.

Die Definition, das geht daraus hervor, ist also die Bezeichnung auf Grund der unterscheidenden Merkmale, und zwar, wenn richtig vorgegangen wird, auf Grund des letzten dieser unterscheidenden Merkmale. Das würde augenscheinlich hervortreten, wenn jemand derartige begriffliche Bestimmungen in andere Reihenfolge brächte, z.B. der Definition des Menschen die Fassung gäbe: Lebewesen mit zwei Füßen, das mit Füßen versehen ist. Hier ist »mit Füßen versehen« offenbar überflüssig, wenn schon gesagt ist »mit zwei Füßen«. Eine bestimmte Ordnung der Unterschiede aber ist in dem Wesensbegriff nicht mitgesetzt; denn worauf wollte man sich stützen, um hier das eine als das frühere, das andere als das spätere anzusetzen?

Über die Definitionen, sofern sie auf Klassifikation beruhen, und ihre Beschaffenheit mag fürs erste das Vorgetragene ausreichen.

Quelle:
Aristoteles: Metaphysik. Jena 1907, S. 111-120.
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