Drittes Kapitel

[68] Somit ist klar, dass alle diese Fragen auf die Auffindung des Mittlern ausgehn. Wie aber der Beweis für das Was eines Gegenstandes geführt wird und in welcher Weise dabei auf die Vordersätze zurückgegangen wird und was die Definition ist und von welchen Dingen es eine giebt, werde ich nun besprechen, indem ich zunächst die hierbei auftretenden Bedenken erörtere. Ich beginne hier mit dem Bedenken, welches den bisherigen Untersuchungen am nächsten steht. Man könnte nämlich schwanken, ob das Wissen vermittelst der Definition und das Wissen vermittelst des Beweises dasselbe sei und auf dasselbe sich beziehe, oder ob nicht vielmehr dies unmöglich der Fall sein könne? Denn die Definition scheint das Was des Gegenstandes zu bieten[68] und dieses Was ist immer etwas Allgemeines und Bejahendes; dagegen giebt es auch verneinende Schlüsse und solche, die nicht allgemein lauten; so sind in der zweiten Figur alle Schlüsse verneinend und die in der dritten Figur sind nicht allgemein. Ferner sind auch selbst in der ersten Figur nicht alle Schlüsse Definitionen, wie z.B. der Schluss, dass die Winkel jedes Dreiecks zweien rechten gleich sind. Der Grund hiervon ist, dass das wissenschaftliche unzweifelhafte Wissen darin besteht, dass man den Beweis inne hat; wenn also von solchen vorerwähnten Sätzen ein Beweis vorhanden ist, so erhellt, dass nicht auch eine Definition davon vorhanden ist; denn man könnte ja sonst auch vermöge der Definition dergleichen wissen, ohne den Beweis zu besitzen; da es sehr wohl sein kann, dass man nicht Beides zugleich inne hat. Auch giebt die Induktion dafür eine hinreichende Bestätigung, denn man hat niemals durch Definition das erkannt, was an sich besteht, noch das, was nebenbei dem Gegenstande anhängt. Ferner erhellt, dass, wenn die Definition eine Art Kundgebung von dem betreffenden Dinge ist, solche Bestimmungen wie die obigen vom Dreieck nicht das Ding selbst sind.

Es erhellt somit, dass nicht von Allem, wofür ein Beweis besteht, auch eine Definition vorhanden ist. Ist nun aber von alledem, wovon eine Definition vorhanden ist, auch ein Beweis vorhanden oder ist dies nicht der Fall? Auch hierfür lässt sich derselbe eine Grund, wie oben geltend machen; es giebt nämlich von einem Gegenstande als einem auch nur ein Wissen; wenn also das Wissen von etwas Beweisbaren darin besteht, dass man dessen Beweis inne hat, so würde dann sich etwas Unmögliches ergeben, weil dann der, welcher die Definition, aber nicht den Beweis inne hat, auch ein Wissen haben würde. Auch bilden die Definitionen den Ausgangspunkt für die Beweise und ich habe früher dargelegt, dass diese Anfänge sich nicht beweisen lassen. Denn entweder sind diese Anfänge beweisbar und es gäbe dann Anfänge von Anfängen und es ginge dies ohne Ende fort; oder diese Anfänge sind unbeweisbare Definitionen.[69]

Aber sollte nicht, wenn auch nicht für Alles Definition und Beweis dasselbe ist, dies doch bei Einzelnen der Fall sei? Oder ist dies nicht vielmehr unmöglich, weil nämlich der Beweis nicht denselben Inhalt hat, wie die Definition. Letztere geht nämlich auf das Was und das Wesen, während die Beweise sämmtlich sich als solche zeigen, die das Was voraussetzen und annehmen. So geschieht es z.B. in den mathematischen Wissenschaften mit dem, was die Eins und das Ungerade ist; und ähnliches geschieht in den andern Wissenschaften. Auch legt jeder Beweis etwas in Bezug auf ein Anderes dar; z.B. dass es in ihm enthalten oder nicht enthalten ist; dagegen wird in der Definition nicht Eins von einem Andern ausgesagt, z.B. das Geschöpf nicht von dem Zweifüssigen und dass Zweifüssige auch nicht von dem Geschöpf, ebensowenig die Figur von der Ebene; denn die Ebene ist keine Figur und die Figur ist keine Ebene. Auch ist es etwas anderes, wenn man das Was, als wenn man das Dass darlegt. Die Definition offenbart nämlich das Was, der Beweis aber Dass entweder etwas in Bezug auf ein Anderes ist oder nicht ist. Auch ist der Beweis für verschiedene Dinge ein verschiedener, sofern sie sich nicht blos wie der Theil zum Ganzen verhalten; womit ich meine, dass z.B. auch das gleichschenkliche Dreieck zusammen zwei rechte Winkel enthält, wenn dies von den Dreiecken überhaupt bewiesen worden ist; denn jenes ist nur ein Theil, und dieses das Ganze. Nun verhält sich aber das: Dass etwas ist und das: Was etwas ist, nicht in dieser Weise zu einander, und keins ist ein Theil des Andern.

Es ist also klar, dass nicht aller Inhalt der Definition in einen Beweis gefasst werden kann und dass das, was der Beweis enthält, nicht alles in die Definition gehört; mithin können beide überhaupt nicht denselben Inhalt haben. Es ist somit klar, dass die Definition und der Beweis nicht dasselbe sind, noch der eine in dem andern enthalten sein kann; denn sonst müsste auch das, was beide bezwecken, sich ebenso verhalten.

Quelle:
Aristoteles: Zweite Analytiken oder: Lehre vom Erkennen. Leipzig [o.J.], S. 68-70.
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