Drittes Capitel

[198] Anfang der Untersuchung sei uns das, was auch den angegebenen Zweifel betrifft, warum doch einige Dinge bald sich bewegen, bald wiederum ruhen. Es muß also entweder Alles stets ruhen, oder Alles stets sich bewegen, oder Einiges sich bewegen, Anderes ruhen. Und weiter, entweder, was sich bewegt, stets sich bewegen, was aber ruht, ruhen; oder Alles von Natur bestimmt sein, eben sowohl sich zu bewegen als zu ruhen; oder was noch übrig ist als Drittes. Es läßt nämlich sich denken, daß einige von den Dingen stets unbeweglich sind, andere stets bewegt, noch andere an beidem Theil haben: was denn wir zu sagen haben. Dieß nämlich enthält die Lösung aller Zweifel, und ist uns Endziel dieser Abhandlung. Daß nun[198] Alles ruhe, und hierfür ein Grund gesucht wird mit Beiseitesetzung der Sinne, ist eine Schwäche des Gedankens. Und von einem Ganzen, aber nicht von einem Theile handelt es sich. Und nicht bloß den Naturforscher geht es an, sondern alle Wissenschaften, so zu sagen, und alle Meinungen, weil alle die Bewegungen brauchen. Uebrigens die Einwendung über die Anfänge, wie sie in den mathematischen Erörterungen den Mathematiker nichts angehen, und auf gleiche Weise auch bei dem Uebrigen: so gehen auch bei dem, was jetzt besprochen worden ist, sie den Naturforscher nichts an. Denn Voraussetzung ist, daß die Natur Ursprung der Bewegung sei. Ungefähr auch ist, zu sagen, daß Alles sich bewege, Unwahrheit zwar; weniger indessen dieses wider den Gang der Untersuchung. Es ward nämlich zwar die Natur gesetzt in den naturwissenschaftlichen Untersuchungen als Ursprung wie von Bewegung, so von Ruhe: doch scheint mehr noch ein Natürliches die Bewegung. Und es sagen Einige, es bewegen sich von den Dingen nicht einige, andere aber nicht, sondern alle, und stets; aber es bleibe dieß unsern Sinnen verborgen. Diesen, obgleich sie nicht bestimmen, welche Bewegung sie meinen, oder ob alle, ist nicht schwer zu begegnen. Denn weder wachsen noch abnehmen kann etwas fortwährend, sondern es giebt auch ein Mittleres. Es ist aber gleich diese Rede jener von dem Zerspülen der Steine durch das Tröpfeln, und ihrem Zerreißen durch das Herauswachsende. Denn nicht, wenn so viel abstieß oder wegnahm das Tröpfeln, hat es auch die Hälfte in der halben Zeit vorher. Sondern gleichwie das Schiffziehen, so bewegen auch die Tropfen in bestimmter Zeit so viel, der Theil von ihnen aber in keiner Zeit so viel. Es läßt nun zwar sich zertheilen das Weggenommene in Mehres, aber kein Theil davon ward besonders bewegt, sondern zugleich. Man sieht also, daß es nicht nöthig ist, daß stets etwas weggehe, weil vertheilt wird die Abnahme[199] ins Unbegrenzte; sondern daß das Ganze mit einem male weggehe. Gleichergestalt auch bei jedweder Art von Umbildung. Nicht nämlich, wenn theilbar ins Unbegrenzte das was umgebildet wird, ist es darum auch die Umbildung; sondern zusammen mit einem male geschieht sie oft, wie die Gefrierung. Ferner, wenn einer krank ist, so muß eine Zeit verfließen, darin er gesund wird, und nicht in der Grenze der Zeit der Uebergang geschehen. Es muß der Uebergang in die Gesundheit geschehen, und in nichts Anderes. Also ist, zu sagen, daß stets Umbildung geschehe, gar sehr gegen das Handgreifliche streiten. Denn in das Gegentheil geht die Umbildung. Und der Stein wird weder härter noch weicher. – Und was die räumliche Bewegung betrifft, so wäre es verwunderlich, wenn von dem Steine es verborgen bleiben sollte, daß er nach unten sich bewegt, oder daß er auf der Erde bleibt. Uebrigens bleibt die Erde und jedes Andere aus Nothwendigkeit an seinem eigenthümlichen Orte, bewegt aber wird es durch Gewalt von diesem weg. Wenn nun Einiges an seinem eigenthümlichen Orte ist, so kann nothwendig auch nicht dem Raume nach, Alles sich bewegen. Daß es nun nicht möglich ist, entweder daß stets Alles sich bewege, oder daß stets Alles ruhe, kann man nach diesem und anderem dergleichen annehmen. – Allein auch nicht, daß ein Theil stets ruhe, läßt sich denken, der andere stets sich bewege; nichts aber bald ruhe und bald sich bewege. Es ist nun zu sagen, daß es unmöglich ist, wie bei dem zuvor Besprochenen, so auch bei diesem. Denn wir sehen bei den nämlichen Dingen die angegebenen Veränderungen geschehen. Hiezu kommt, daß gegen das, was offenbar ist, derjenige kämpft, der die entgegengesetzte Meinung hat. Denn weder Wachstum, noch gewaltsame Bewegung wird es geben, wenn nicht sich bewegen soll gegen seine Natur das, was zuvor ruhte. Entstehung also und Untergang hebt diese Rede auf. Fast aber scheint auch das sich Bewegen,[200] Allen eine Art von Werden und Vergehen. Denn worein etwas sich verändert, das wird es, oder in diesem; woraus es aber sich verändert, als dieses, oder von diesem aus vergeht es. Also erhellet, daß Einiges sich bewegt, Anderes ruht bisweilen. – Die Behauptung aber, daß Alles bald ruhe, bald sich bewege, diese ist jetzt anzuknüpfen an die vorigen Reden. Der Anfang aber ist wiederum zu machen von dem jetzt Bestimmten, derselbe mit dem wir vorhin begannen. Entweder also Alles ruht, oder Alles bewegt sich; oder einige von den Dingen ruhen, andere bewegen sich. Und wenn einige von den Dingen ruhen, andere sich bewegen, so müssen entweder alle bald ruhen, bald sich bewegen, oder einige davon stets ruhen, andere stets sich bewegen, noch andere bald ruhen, bald sich bewegen. Daß es nun also nicht möglich ist, daß alle ruhen, ist auch zuvor gesagt worden; wir wollen es aber auch jetzt sagen. Wenn nämlich in Wahrheit es sich so verhält, wie Einige sagen, daß das Seiende unbegrenzt und unbeweglich ist: so erscheint es doch nicht nach den Sinnen; sondern vieles bewegt sich von dem was ist. Wenn es also eine falsche Meinung giebt, oder überhaupt eine Meinung, so giebt es auch eine Bewegung, und auch wenn eine Einbildung, und wenn etwas bald so zu sein scheint, bald anders. Denn die Einbildung und die Meinung scheinen eine Art von Bewegung zu sein. Allein über diese Dinge Untersuchungen anzustellen, und Gründe aufzusuchen, in Bezug auf die wir besser daran sind, als Gründe zu bedürfen, heißt schlecht unterscheiden das Bessere und das Schlechtere, und das Glaubliche und Nichtglaubliche, und Anfang und Nichtanfang. Eben so ist unmöglich auch, daß Alles sich bewege; oder daß Einiges stets sich bewege, Anderes stets ruhe. Gegen alles dieses nämlich reicht hin Ein Zugeständniß. Wir sehen nämlich einige Dinge bald sich bewegen, bald ruhen. Also sieht man, daß unmöglich ist, auf gleiche Weise, daß Alles[201] ruhe, und daß Alles sich bewege fortdauernd, wie daß Einiges stets sich bewege, Anderes stets ruhe. Uebrig ist nun, zu betrachten, ob Alles ein solches ist, wie sich zu bewegen und zu ruhen, oder ob Einiges zwar so, Einiges aber stets ruht, Einiges stets sich bewegt. Dieß nämlich haben wir zu zeigen.

Quelle:
Aristoteles: Physik. Leipzig 1829, S. 198-202.
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