[97] 11. guhâm pravishṭau; âtmânau hi, tad-darçanât
die beiden in die Höhle eingegangenen; denn zwei Seelen [sind gemeint], wie ersichtlich.

Ebenfalls in den Vallî's der Kaṭha's heisst es (Kâṭh. 3, 1):


»Erfüllung trinkend ihres Thuns im Leben

Sind beide eingegangen in die Höhle,

Im Höchsten, das des Höchsten eine Hälfte [d.h. im Herzen];

Schatten und Licht nennt sie wer Brahman kennet,

Und wer, der Feuer Fünfzahl unterhaltend,

Das Naciketas-Feuer dreimal zündet.«


Es erhebt sich die Frage, ob unter den »beiden« hier die Buddhi und die individuelle Seele oder die individuelle und die höchste Seele gemeint sind. Gesetzt, es sei von der Buddhi und der individuellen Seele die Rede, so würde hier gelehrt werden, dass die individuelle Seele von dem Aggregate der Organe des Wirkens, an deren Spitze die Buddhi steht, wesensverschieden sei; dies konnte hier sehr wohl als Zweck der Belehrung vorschweben, weil vorher die Frage aufgeworfen worden war (Kâṭh 1, 20):


»Ein Zweifel waltet, wenn der Mensch gestorben;

›Er ist‹, so sagen einige, und andre ›er ist nicht‹;

Das möchte ich von dir belehrt erkennen,

Das ist die dritte der versproch'nen Gaben.«


| Oder aber man muss die individuelle und die höchste Seele verstehen; dann würde hier gelehrt werden, dass die höchste Seele von der individuellen Seele wesensverschieden sei; auch dieses konnte hier als Zweck der Belehrung vorschweben, weil vorher die Frage aufgeworfen worden war (Kâṭh. 2, 14):


»Vom Guten frei und frei vom Bösen,

Von Ursach' und von Wirkung frei,

Frei von Vergang'nem und Zukünft'gem, –

Das sage mir, was dieses sei!«


Da kommt nun einer und wirft uns ein, ›dass alle beide Annahmen nicht zulässig sind; warum? weil das Erfüllung Trinken den Genuss der Frucht der Werke bedeutet, wie aus dem Zusatze »ihres Thuns im Leben« ersichtlich ist; und das passt zwar auf den geistigen Kshetrajña (die individuelle Seele), nicht aber auf die ungeistige Buddhi; hier hingegen redet die Schrift, wie der Dual pibantau (trinkend) beweist, davon, dass es zwei sind, die[97] da trinken. Aus diesem Grunde ist es zunächst nicht zulässig, hier an die Buddhi und den Kshetrajña zu denken. Aus demselben Grunde aber geht es weiter nicht an, an unserer Stelle den Kshetrajña und den höchsten Âtman zu verstehen; denn wenn auch der höchste Âtman geistig ist, so passt doch auf ihn das Trinken der Erfüllung nicht; denn ein Liedervers sagt von ihm: »der andre schaut nicht essend zu«‹ (Muṇḍ. 3, 1, 1.) – Auf diese Einwendung erwidern wir, dass dieselbe nicht zulässig ist; indem z.B. in dem Ausdrucke: »die Leute gehen mit Sonnenschirmen«, auch wenn in Wirklichkeit nur einer einen Sonnenschirm trägt, in übertragenem Sinne von einem Tragen mehrerer geredet werden kann; in ähnlicher Weise kann hier, wiewohl in Wirklichkeit nur der eine der Trinkende ist, doch die Rede davon sein, dass beide trinken. Oder auch man kann sagen: die Seele allein trinkt, Gott aber macht sie trinken, und weil er sie trinken macht, heisst es auch von ihm: »er trinkt«, wie man ja auch ganz gewöhnlich von einem, der backen lässt, sagt, »er bäckt.« Anderseits wiederum wäre es auch möglich, hier an die Buddhi und den Kshetrajña | zu denken, sofern dabei dem Organe [d.h. der Buddhi] in übertragenem Sinne ein Thätersein beigelegt würde, ähnlich wie wenn man zu sagen pflegt: »das Holz heizt« [anstatt: das Feuer heizt]. Auch kann es sich, da hier von psychologischen Verhältnissen die Rede ist, um keine andern zwei, welche die Erfüllung trinken, als die einen oder die andern der beiden genannten handeln; daher die Frage gerechtfertigt ist, ob man hier die Buddhi und die individuelle Seele, oder aber die individuelle und die höchtse Seele zu verstehen habe.

Angenommen also, ›die Buddhi und die individuelle Seele (kshetrajña) seien zu verstehen; warum? weil sie als »die beiden in die Höhle eingegangenen« geschildert werden. Mag man unter der Höhle den Leib oder das Herz verstehen, in beiden Fällen kann man sagen, dass die Buddhi und der Kshetrajña in diese Höhle eingegangen seien. Was hingegen das allgegenwärtige Brahman betrifft, so ziemt es sich nicht, so lange ein anderer Ausweg ist, dasselbe als an einen bestimmten Ort gebunden aufzufassen. Ferner auch die Worte »ihres Thuns im Leben« beweisen, dass man hier über die Sphäre der Werke nicht hinauszugehen hat. Der höchste Âtman aber bewegt sich nicht in der Sphäre der guten oder bösen Werke, denn die Schrift sagt von ihm, »dass er nicht wächst durch Werke oder minder wird« (Bṛih. 4, 4, 23.) Auch die Bezeichnung: »Schatten und Licht« ist zutreffend, wenn man annimmt, dass ein Geistiges [der Kshetrajña] und ein Nichtgeistiges [die Buddhi, als Organ der Seele] gemeint sei, indem diese einander wie Schatten und Licht entgegengesetzt sind. Somit also wären hier die Buddhi und der Kshetrajña zu verstehen.‹[98]

Auf diese Annahme entgegnen wir, dass man viel mehr hier die individuelle und die höchste Seele verstehen muss; warum? »denn zwei Seelen«, beide geistig und von gleichartiger Natur, müssen hier gemeint sein; denn wo eine Zahl vorkommt, da kann jeder doch nur an gleichartige Dinge denken, und wenn es z.B. heisst: »zu diesem | Ochsen muss man einen zweiten suchen«, so ist der zweite, den man sucht, natürlich ein Ochse und nicht etwa ein Pferd oder ein Mensch. So auch hier; da zunächst aus dem Merkmale des Trinkens der Erfüllung feststeht, dass an das bewusste Selbst [die individuelle Seele, vijñânâtman] zu denken ist, und es sich weiter darum handelt, den zweiten zu ermitteln, so kann unter diesem nur ein Gleichartiges, mithin nur der ebenfalls geistige höchste Âtman verstanden werden. – ›Aber wir bemerkten doch, dass wegen des Eingegangenseins in die Höhle an den höchsten Âtman nicht gedacht werden dürfe?‹ – Darauf haben wir zu erwidern, dass vielmehr sowohl in der Schrift als in der Smṛiti mehr als einmal von einem solchen Eingegangensein des höchsten Âtman in die Höhle [des Herzens] die Rede ist. So z.B., wenn es heisst: »tief in der Höhle weilt versteckt der Alte« (Kâṭh. 2, 12); – »wer es als dieses weiss verborgen in der Höhle und im höchsten Raume« (Taitt. 2, 1); – »den Âtman suche auf, der in die Höhle einging« (Smṛiti) u.s.w. Dass nämlich das, wiewohl allgegenwärtige, Brahman zum Zwecke seiner Auffassung ohne Widerspruch auch an einem bestimmten Orte aufgewiesen werden könne, haben wir bereits oben (S. 92 fg.) gesehen. Das Weilen in der Welt der guten Werke aber kann, ähnlich wie das Tragen des Sonnenschirmes, wenn es auch eigentlich nur von einem der beiden gilt, doch auch beiden ohne Widerspruch beigelegt werden. Und auch die Bezeichnung derselben als »Schatten und Licht« ist nicht unzulässig, weil in der That das Wanderersein und Nichtwanderersein der Seele einander in ähnlicher Weise entgegengesetzt sind, wie der Schatten und das Licht; indem nämlich das Wanderersein der. Seele auf dem Nichtwissen beruht, während sie im Sinne der höchsten Realität keine wandernde ist. Somit hat man unter den beiden in die Höhle Eingegangenen die individuelle und die höchste Seele zu verstehen. Und warum weiter muss man unter ihnen die individuelle und die höchste Seele verstehen? – Antwort:

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 97-99.
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